"Wer die Wahrheit sagt, braucht ein verdammt schnelles Pferd"
Der Fall Ulrike Guérot und die Enge des Sagbaren
Wenn du die Wahrheit sagst, lass draußen den Motor laufen
Dann sag' sie laut und schnell, denn das Sprichwort lehrt:
”Wer die Wahrheit sagt, braucht ein verdammt schnelles Pferd!”
Wie das Leben so spielt
Vor einigen Jahren schenkte mir mein Onkel zu Weihnachten ein Buch mit dem Titel Warum Europa eine Republik werden muss.
Einer meiner ersten Gedanken war: Das wird nicht passieren. Und die Autorin jenes Buchs — Ulrike Guérot — muss eine naive Person sein. Natürlich wäre es langfristig — mittlerweile muss man wohl sagen: mittelfristig — wahrscheinlich die einzige Chance Europas, um nicht immer bedeutungsloser zu werden in der multipolarer und weniger europäisch werdenden Weltordnung des 21. Jahrhunderts, sich zu einer Macht zu einen.
Aber kurzfristig werden andere Interessen dem immer im Weg stehen. Und wann haben sich Länder überhaupt schon ohne Gewalt geeint? Selbst die Vereinigten Staaten, die bei solchen Gedankenspielen oft als Modell gesehen werden, haben einige Kriege geführt: mit dem Vereinigten Königreich, mit Frankreich, mit Mexiko und mit sich selbst, ehe sie wirklich eine halbwegs geeinte Macht werden konnten — und diese drohte in der Folge dann auch immer wieder mal auseinander zu brechen.
Ich las trotzdem in das Buch hinein, konnte allerdings ad hoc nichts entdecken, das eine weitere Lektüre gerechtfertigt hätte. Ich gab meinem Onkel die Rückmeldung, dass ich lieber geschichtliche Bücher geschenkt bekommen würde, nicht politische.1
Björn Höcke empfiehlt Endspiel Europa
Im Oktober 2023 hatte ich beschlossen, mich näher mit Björn Höcke zu beschäftigen. Der Hintergrund war die Forderung nach einem Verbotsverfahren der AfD, das mir auf den ersten Blick undemokratisch vorkam. Allerdings hatte ich mich aus Zeitmangel bis dato nicht wirklich mit der AfD auseinandergesetzt.
Dieser Zeitmangel bestand weiterhin und darum beschloss ich, mich nur auf die - der medialen Wahrnehmung nach - allerschlimmste Person von allen zu konzentrieren, den »Lord Voldemord der deutschen Politik«, wie Roger Köppel von der Weltwoche ihn ironisierend bezeichnete, »dessen Name nicht genannt werden darf«.
Im Rahmen meiner Beschäftigung mit Höcke stieß ich unter anderem auf eine seiner Reden, in der er triumphierend ein Buch hochhielt — mit der Aussage, so langsam würden ja auch tief in den Mainstream eingebettete Denker wie z.B. Ulrike Guérot erwachen. Dieses Buch war Endspiel Europa, das sie zusammen mit Hauke Ritz verfasst hatte.
Es ist ja tatsächlich sehr interessant, welche Lektüre ein Björn Höcke empfiehlt, und zwar unabhängig davon, welches Bild man von ihm hat. Ich hatte noch kein Bild, aber das ist eine andere Geschichte.2
Guérot und Ritz spielen mit dem Feuer
Jedenfalls las ich das dünne Buch, den Essay Endspiel Europa, und war zum Mindesten beeindruckt von dem Mut, den die Autoren mit ihrer klaren Stellungnahme gegen die Mainstream-Narrative aufbrachten, insbesondere von ihrem Beharren darauf, gen Ende des Buches, dass man den Angriff Russlands auf die Ukraine nicht, ohne die Wahrheit zu verdrehen, als unprovoziert bezeichnen könne. Im Gegenteil werde dieser Krieg seit »mindestens sechs Jahren […] von amerikanischer Hand« vorbereitet (S. 129).
»Studiert man die westlichen Kriegsvorbereitungen im Detail, so wird deutlich, dass der Ukraine die Rolle zukam, stellvertretend für den Westen einen Krieg mit Russland zu beginnen, der dann militärisch und logistisch von NATO-Mitgliedsstaaten unterstützt werden sollte, ohne die Allianz insgesamt direkt in den Krieg zu involvieren. Dieser Prozess sollte begleitet werden durch einen Wirtschaftskrieg (Sanktionen), Informationskriegsführung (antirussische Propaganda) und eine nukleare Einkreisung Russlands« (S. 132).
Die Autoren gehen noch weiter als die meisten anderen Kritiker der Mainstream-Narrative, indem sie auf die Waffenstillstandsverletzungen der Ukraine gegenüber dem Donbass (laut der OSZE) hinweisen und damit der Verletzung des Minsk II Abkommens, um damit zu begründen, man könnte »in gewisser Weise […] ebenso den 16., 17. oder 18. Februar zum Tag des Kriegsbeginns erklären«, also ungefähr eine Woche bevor Russland am 24. Februar in die Ukraine einmarschierte. Dies scheint stark zu implizieren, man könne, ja man müsse nüchtern betrachtet sogar geradezu die Idee aufgeben, Russland sei der Aggressor. Russland habe sich hier vielmehr für einen defensiven Angriff entschieden.
An dieser Stelle geht es mir nicht darum, die Plausibilität von Guérots und Ritz’ Thesen zu prüfen. Es sei mir aber die Anmerkung gestattet, dass sie für denjenigen, dem es um Wahrheitsfindung und nicht um Rhetorik oder Ideologie zu tun ist, sehr wohl intensiv zu prüfen wären. Aber das wäre natürlich ein gefährliches Unterfangen, denn: Was, wenn sie recht haben?3
Scott Alexander: Plagiatsvorwürfe als Kampfmittel
Scott Alexander, Autor und Betreiber des in manchen (rationalistischen) Kreisen recht beliebten Substacks Astral Codex Ten veröffentlichte am 31. Januar 2024 einen Artikel mit dem Titel »Seems Like Targeting« (deutsch in etwa: »Es scheint zielgerichtet«). Darin stellt er die These auf, dass Plagiatsvorwürfe gezielt genutzt würden, um aus anderen Gründen unliebsam gewordene Personen loswerden zu können.
Die Tatsache, dass gehäuft Plagiatsvorwürfe gerade dann an die Öffentlichkeit gebracht würden, wenn die Person aus anderen Gründen bereits unter Beschuss stehe, lasse sich eigentlich nur auf zwei Weisen erklären:
Entweder die Plagiatsjäger warteten mit einer Veröffentlichung, bis die betroffene Person ins Licht der Öffentlichkeit kommt, um die Story ausschlachten zu können;
oder sie suchten gezielt nach Dreck, mit dem sie eine ihnen unliebsame Person bewerfen könnten.
Beides seien keine beruhigenden Erklärungen.
Als Beispiel nennt der Autor Claudine Gay, der Plagiate nachgewiesen wurden, unmittelbar nachdem sie sich als Präsidentin der Harvard University nicht klar genug zu Antisemitismus-Vorwürfen geäußert hatte. In der Folge dann aber auch Neri Oxman, die Ehefrau Bill Ackmans, der den »Kreuzzug« gegen Gay geführt habe.
Zu Ende gedacht, habe dieses Vorgehen einen gruseligen Effekt. Man stelle sich vor, jedes Mal, wenn jemand, zum Beispiel, Israels Politik kritisiere,4 würden Journalisten diese Person auf Fehlverhalten aus ihrer Vergangenheit durchleuchten und sie mit allem Dreck bewerfen, den sie finden könnten:
"If you know investigative journalism is a weapon pointed against people who do X, that scares people out of doing X.«
Man könnte nun einwenden, dass sich Leute eben nichts zu Schulden kommen lassen sollten, dann hätten sie nichts zu befürchten. Nun, gibt es solche Menschen überhaupt? Insbesondere in Zeiten, in denen man auf sozialen Netzwerken geradezu dazu eingeladen wird, sich etwas zu Schulden kommen zu lassen? Und in denen man bspw. als Wissenschaftler unter enormem Publikationsdruck steht?
Eine persönliche Anekdote: Ein Kommilitone von mir erlangte einmal Zugang zu meinem Facebook Account (damals als facebook rape bezeichnet), gründete dort eine Gruppe mit dem Namen »Heiliger Dschihad gegen den imperialistischen Teufel Obama« und packte ein paar meiner Freunde in diese Gruppe.
Manche fanden es lustig, manche waren empört - jeder verstand aber, dass ich das nicht gewesen bin und die Gruppe habe ich nach Entdeckung natürlich wieder gelöscht. Würde meine Vergangenheit durchleuchtet, würde es dann auch heißen:
War mal Dschihad-Sympathisant und hasst Obama?
Schon vor 2000 Jahren war bekannt, dass »Wer frei von Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie« (Johannes 8,7) bedeutet, dass keiner einen Stein werfen wird.
Alexander benennt es nicht so, aber das Phänomen, das er beschreibt, lässt sich als Mob-Mentalität bezeichnen: Auf demjenigen, der sowieso in Ungnade gefallen ist, aus welchen Gründen auch immer, wird noch weiter herumgehackt, unter anderem, weil er sich ja nicht wehren kann.
Und edelmütig wie er ist, betont Alexander, er würde sich wünschen, dass gerade Journalisten es anders herum machten; dass sie sich die Mächtigen und Beliebten vorknöpfen. Manchmal geschieht ja auch das, aber wohl zu selten und dem Gefühl nach immer seltener.
Wie der belgische Autor und Sprachforscher Leo Wintgens es im Gedicht Der Sänger beschrieb:
heut sitzt er oft zuhaus
und kritzelt
die offizielle meute
bellt ihm lob
wenn er sie trägt
in ihre abgestapften trampelpfade tritt
sonst schweigen sie ihn tot
und wird sein wort trotzdem gehört
schmiert man ihn schnell voll kot
und stellt ihn in den wind
Und stellt sie in den Wind
Genau dies scheint mir mit Ulrike Guérot geschehen zu sein. Zufälligerweise - wie das Leben so spielt - habe ich am gleichen Abend, an dem ich Scott Alexanders Artikel las, den Einfall gehabt, dass ich doch mal schauen sollte, was Ulrike Guérot gerade so treibt.
Ich stieß auf ihren Wikipedia-Artikel und fand darin die für mich neue Information, dass ihr bereits im Februar 2023 von der Universität Bonn aufgrund von Plagiatsvorwürfen gekündigt worden sei. Der Wikipedia-Artikel verlinkte einen Artikel der NZZ. Darin heißt es:
»Die Universität bestätigte gegenüber der NZZ, arbeitsrechtliche Schritte gegen Guérot eingeleitet zu haben. Den Vorwurf, sie habe sich «während ihrer Dienstzeit an der Universität Bonn fremdes geistiges Eigentum angeeignet, ohne dies als solches kenntlich zu machen», sehen die zuständigen Gremien als bestätigt an. Dies gelte auch für «eine frühere Veröffentlichung, die für die Berufung von Relevanz war».«
Bei den Plagiatsvorwürfen geht es um das eingangs genannte Warum Europa eine Republik werden muss von 2016, dass für die Berufung auf die Professorenstelle relevant gewesen sei, und ihre Corona-Streitschrift Wer schweigt, stimmt zu, erschienen 2022, also während ihrer Zeit an der Bonner Universität, wo sie seit 2021 arbeitete.5 Auch in weiteren Schriften wurden ungenaue oder nicht kenntlich gemachte Zitate gefunden. Dazu später mehr.
Der Fall erinnert aber doch sehr an die von Scott Alexander genannten. In beiden Fällen sind die Plagiatsvorwürfe berechtigt, der Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung und der Umgang mit ihnen jedoch, gelinde gesagt, verdächtig.
Die Plagiatsvorwürfe wurden nämlich 2022 erhoben, NACHDEM Guérot sich kritisch zu den Corona-Maßnahmen positioniert hatte, und die Kündigung wurde 2023 von ihrem Arbeitgeber angestrebt, NACHDEM sie sich kritisch zur Mainstream-Narrative bezüglich des Kriegs in der Ukraine positioniert hatte.
Niemand wird ernsthaft glauben, dass diese Kündigung NICHTS damit zu tun hat, dass Guérot den "rechten Weg" verlassen und sich mit unliebsamen Ansichten exponiert hat. Damit will nicht gesagt sein, dass die Plagiatsvorwürfe nicht zutreffend sind. Sie stimmen wahrscheinlich in genau dem Umfang, in dem sie behauptet wurden. (Was nicht sehr schwerwiegend klingt.) Aber wann sie relevant werden und welche Konsequenzen sie haben, ist eben doch eine politisch-gesellschaftlich relevante Frage.
Der Fall Ulrike Guérot
Genau dieser Frage sind die Autoren des dünnen6 Sammelbands Der Fall Ulrike Guérot nachgegangen. Der erste Beitrag von Heike Egner und Anke Uhlenwinkel beleuchtet das generelle Phänomen der Entlassung von unliebsamen Wissenschaftlern, das den Autorinnen zufolge zunimmt.
Sie warnen, »dass wir [möglicherweise] gerade Zeugen eines Prozesses werden, in dem Wissenschaft sich insgesamt zu etwas wandelt, das durch und durch von Politik gestaltet wird« (S. 27) — mit dem Ziel, diese Politik zu legitimieren.
Man müsse Guérots kontroversen Thesen nicht zustimmen, um über den Vorgang ihrer Entlassung »empört zu sein«, denn es handle sich »um einen Eingriff in die verfassungsrechtlich garantierte Wissenschaftsfreiheit« (S. 15). Auffallend sei das »sehr laute Schweigen« (mit wenigen Ausnahmen) ihrer Kollegen im Wissenschaftsbetrieb.7
Politische Eingriffe in die Wissenschaft
Den Autorinnen zufolge war die Entlassung eines Professors bis 2010 sehr selten und die Berichterstattung war im Tenor eher wohlwollend gegenüber der entlassenen Person, wenn denn berichtet wurde. Von 2011 bis 2019 habe die Dichte der Entlassungen dann zugenommen und seit 2018 sei ein deutlicher Anstieg wahrnehmbar.
Seit 2020 seien die Gründe zunehmend nicht mehr Vorwürfe des »Mobbing« oder »Machtmissbrauchs«, sondern »ideologische Unbotmäßigkeit«, d.h. dass die betroffene Person »eine andere Position als die überlaute und allerorten verbreitete Mehrheitsmeinung vertritt« (S. 17).
Die hierbei relevanten Themenfelder seien:
die Genderfrage und Transsexualität,
die Corona-Maßnahmen,
Fragen der Migration,
der Krieg in der Ukraine,
sowie der anthropogene Klimawandel.
Zu diesen Themenfeldern gebe es nur noch eine korrekte Ansicht und wer sich gegen diese stelle, gerate unter Beschuss. Vergleiche man die Konsequenzen bei Plagiats- oder anderen Vorwürfen gegen Professoren, die ansonsten aber nicht unliebsam geworden sind — nämlich: dienstrechtlich keinerlei Konsequenzen —, so erhärte sich der Verdacht, dass »die angeführte Begründung — Plagiat — nicht der eigentliche Grund für ihre Entlassung sei, sondern eher mit der Skandalisierung der von ihr vertretenen inhaltlichen Positionen zu tun hat« (S. 18).
Ein Blick auf Guérots Plagiate
Es wurden einige Plagiate in Guérots Veröffentlichungen nachgewiesen, allerdings, das scheint durchaus nicht irrelevant, keines davon in ihren genuin wissenschaftlichen Veröffentlichungen, sondern in ihren politischen Essays, die sich an die Öffentlichkeit, nicht an die Kollegen vom Fach richten. Die Universität Bonn teilte mit, dieser Unterscheidung seien »die zuständigen Gremien nicht gefolgt«, ohne dies näher zu begründen.
Auch betreffen die Vorwürfe einzelne Passagen aus den Büchern, sind also nicht flächendeckend. (Einer Zählung zufolge geht es um 9 von insgesamt 560 Seiten, einer anderen zufolge um 10 von 608 Seiten.)
Zuletzt muss der Punkt betrachtet werden, dass die Veröffentlichungen alle dadurch rettbar wären, dass man die nicht markierten Zitate nachholt und die wenigen längeren Zitate paraphrasiert - die Bücher würden dadurch wenig bis nichts an Eigenleistung der Autorin verlieren.
Wenn man sich die Mühe macht, sich die betroffenen Stellen genauer anzusehen, wird schnell klar, dass es sich mit einer deutlich höheren Wahrscheinlichkeit um Flüchtigkeitsfehler handelt als um bewusste Täuschung.8
Dennoch wurde am 25. April 2024 Guérots Kündigung durch das Arbeitsgericht Bonn für rechtmäßig erklärt. Guérot will Berufung einlegen, doch die juristischen Auseinandersetzungen werden noch länger andauern.
Mit zweierlei Maß gemessen
Als juristischer Laie kann und will ich die Entscheidungen der Universität und des Landesgerichts nicht juristisch bewerten. Möglicherweise sind sie formal betrachtet nicht zu beanstanden, das wird die Berufung möglicherweise dann zeigen — falls das Rechtssystem funktioniert, wie es sollte, was ich ebenfalls leider nicht beurteilen kann.
Als gesellschaftliches Phänomen müssen wir aber doch feststellen, dass:
Plagiatsvorwürfe sehr häufig vorkommen, wobei
in der Regel nicht differenziert betrachtet wird, um welche Art von Plagiat und um welchen Umfang es sich handelt, und
dass in den meisten Fällen die Plagiate keine unangenehmen Folgen für die Betroffenen haben, wenn sie auf Linie sind — außer wenn es sich um Promotions- oder andere Qualifikationsarbeiten handelt, aber selbst in solchen Fällen sind die Hürden für eine Aberkennung der Doktorwürde und das Karriereende relativ hoch.
Plagiate als Ablenkung — zugleich ein Mini-Exkurs zu Egon Friedell über das Plagiat
Persönlich scheint mir diese aktuelle Fixierung auf mögliche Plagiate auch etwas abstrus. Und zwar aus zwei Blickwinkeln betrachtet:
Erstens waren Plagiate bis vor Kurzem das Normalste auf der Welt, und niemand hat sich darum gekümmert, wer eine Idee zuerst gedacht oder veröffentlicht hatte, sondern man zitierte andere Autoren nur, um sich auf deren Autorität zu berufen.
Die Idee, dass es unnatürlich und falsch sei, sich »mit fremden Lorbeeren zu schmücken«, leuchtet mir nicht vollständig ein, und leuchtete auch in den 1920er Jahren Egon Friedell in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit nicht ein, wo er schreibt:9
“Es lässt sich bezweifeln, ob der Proudhonsche Satz ‘La proproété c’est le vol’ auf wirtschaftlichem Gebiet so ganz richtig ist; auf geistigem Gebiet gilt er aber ganz zweifellos. Denn, genau genommen, besteht die ganze Weltliteratur aus lauter Plagiaten.” (S. 52)
Aber selbst wenn wir akzeptieren, dass Plagiate unschön, unwissenschaftlich, unwürdig sind, so müsste doch eingestanden werden, dass der Wissenschaftsbetrieb viel größere Probleme hat, die vielleicht mit der Plagiats-Hysterie auch ein Stück weit übertüncht werden sollen:
Die Replikationskrise, die schon 2005 entdeckt, aber bis dato nicht behoben wurde, lässt an der Aussagekraft wissenschaftlicher Studien in vielen Bereichen zweifeln. Der Bürokratisierungs- und Quantifizierungswahn treibt die besten Köpfe aus den Wissenschaften heraus und die Verbliebenen in den Nervenzusammenbruch.
Es entsteht immer weniger innovative Forschung, weil diese zu gefährlich ist. Wissenschaftler fühlen sich immer stärker gegängelt, ihre Forschung nicht frei wählen zu können, weil es softe Denkverbote gibt, d.h. das Gefühl, dass die Wissenschaftsfreiheit bedroht ist, ergreift immer mehr Menschen.
Und diesen Menschen, zu denen ich mich zähle, scheint der Fall Ulrike Guérot ein weiterer Beleg für dieses Gefühl zu sein.
Die Gemeinschaft der Ausgeschlossenen
Wir müssen aber nicht pessimistisch schließen. Je mehr kluge Denker von der heiligen Wissenschaftsgemeinschaft ausgeschlossen werden, desto mehr von ihnen finden sich in den alternativen Denkinitiativen wieder.
Es mag erst einmal schrecklich sein, schrecklich für Ulrike Guérot gewesen sein, sich an den neuen Status als Paria gewöhnen zu müssen. Sie wird aber festgestellt haben, dass sie nicht die einzige und somit auch nicht allein ist. Das Leben ist wahrscheinlich unbequemer geworden, weniger luxuriös. Aber es muss auch ein gutes Gefühl sein, für seine Überzeugungen eingestanden zu sein und nicht nachgegeben zu haben.
Mich würde aber doch noch interessieren, ob Ulrike Guérot wirklich so naiv war zu glauben, dass sie damit ungestraft, ohne Opfer bringen zu müssen, ohne ausgeschlossen zu werden, durchkommt.
Oder ob ihr doch bewusst war, mit welch einem Pulverfass sie da spielt.
Wie seht ihr das? Anderer Meinung? Lasst es mich gerne wissen:
Er hat mir trotzdem weiter politische Bücher geschenkt, oder Romane aus dem 19. Jahrhundert, die ich ebenfalls nicht las.
Ich habe noch immer kein fertiges Bild, weder von Höcke noch von der AfD. Mein Eindruck ist, dass dieser ganze Diskurs so sehr von hoch emotionalisierten und suggestiven Botschaften von allen Seiten überladen ist, dass man, nüchtern betrachtet, hilflos davor steht und nicht weiß, wie man dieses Dickicht durchschauen soll. Bequem ist es dann natürlich, sich einfach für eine Seite zu entscheiden und der Narrative oder eben der Gegennarrative zu folgen. Als jemand, der die Neigung hat, sich zwischen alle Stühle zu setzen, sehe ich dies nicht ein.
Wohlmeinende Freunde haben mir geraten, diese Anmerkungen zur AfD und Höcke aus dem Artikel zu streichen — eigentlich geht es ja auch gar nicht um sie, sondern um Frau Guérot, und selbst um sie ja nur als Indikator für einen Werteverfall im universitären Betrieb. Aber das kann ich nicht tun, denn das erscheint mir unredlich, und unredliches Schreiben kann ich nicht mit meiner Idee vom Guten vereinbaren.
Man missverstehe mich nicht: Ich teile die Positionen der AfD zum Thema Migration und zu wirtschaftlichen Fragen nicht. Ich bin so wenig nationalistisch eingestellt, dass ich nicht einmal patriotisch bin. Insofern sehe ich mich politisch betrachtet eher als Gegner der AfD denn als Sympathisant. Aber die Frage, die sich mir stellt, ist nicht, ob ich die Positionen der AfD teile, sondern ob ich sie bei anderen tolerieren kann oder nicht.
Addendum 3.5.2025: Während ich an diesem Artikel schrieb, erschien die Meldung, die AfD sei nun auf Bundesebene vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft. Für mich problematisch daran ist aber, dass der zugrundeliegende Bericht nicht veröffentlicht wird. Als Bürger mag ich dem Verfassungsschutz durchaus vertrauen, als Intellektueller darf ich das nicht, denn als solcher ist es meine genuine Aufgabe, die Mächtigen zu hinterfragen.
Dies ist Alexanders Beispiel, nicht meins. Ich hätte an dieser Stelle lieber ein anderes Beispiel gewählt, auch wenn ich Israels Politik im Gazastreifen und generell den Palästinensern gegenüber durchaus für stark kritikwürdig halte — um es äußerst zurückhaltend zu formulieren —, und mich dabei auf John Mearsheimer und Noam Chomsky berufe, sowie natürlich Michael Lüders und Nathan Thrall. Needless to say: »I denounce antisemitism in all its forms and I stand with my friends in the Jewish community.«
Dieses Buch ist mir unerklärlicherweise in der Corona-Zeit nicht aufgefallen, sonst hätte ich es wahrscheinlich gelesen. Immerhin hat mich Guérot aber auf Mattias Desmets Die Psychologie des Totalitarismus verwiesen, ein Buch — meine Leser wissen es —, dass mich seitdem intensiv beschäftigt hat.
Das Adjektiv “dünn” will hier einerseits die Erwartungshaltung gegenüber dem Wort “Sammelband” korrigieren, und zudem Werbung machen: Man kann das Büchlein in wenigen Stunden lesen.
Ich möchte eine Fußnote lang betonen, dass mir diese Feststellung äußerst gewichtig erscheint und VIEL ZU WENIG beachtet wird. Es geht nicht, überhaupt gar nicht, um die Frage, wie man zu Guérots Ansichten steht. Es geht um die Frage, ob man es gut finden darf, wenn Professoren entlassen werden, weil sie die falschen (aber vollkommen verfassungskonformen) Ansichten öffentlich vertreten. Diese Frage ist natürlich rhetorisch. Man darf es nicht gut finden.
Für die Details sei auf den entsprechenden Beitrag in »Der Fall Ulrike Guérot« verwiesen.
Wobei Friedell schon zwischen dem bewussten und dem unbewussten Plagiat unterscheidet. Das bewusste richte sich selbst, da es dem Plagiator eher schade, indem es seinen Selbstwert untergrabe. Das unbewusste hingegen sei vollkommen in Ordnung, und dies hätten alle Genies der Geschichte, wie Goethe und Shakespeare, auch so gesehen.
Die Lüge muss nicht verboten werden, sie kann widerlegt werden. Alles, was verboten wird, ist denen, die die Verbote aussprechen, hinderlich.
Das Muster der Plagiats-Vorwürfe und/oder Etikettierung als N***, Rächts, etc. ist mehr als durchschaubar.
Der Rauswurf aus dem Job mittels mehr oder weniger haltloser Vorwürfe ist ja nur die finanzielle Seite, welche in der tagtäglichen Praxis auch nicht selten von der Sperre des Bankkontos des betreffenden Parias begleitet wird. Menschen, die sich gegen die von den Mainstreammedien nachgebeteten Regierungsnarrative stellen, werden seit 2020 flächendeckend aus diesen Medien verbannt. Sie kommen schlicht nicht mehr vor. Was dramatische Folgen für den demokratischen Diskurs hatte, welcher total vereinseitigte und verarmte. Und was selbstverständlich zum beschleunigten Abstieg dieser Medien und zum Zerfall der Debattenräume beiträgt. Der "Cordon Sanitaire" (welch zufällig gewähltes Wort) wurde immer enger gezogen, sodass im ÖRR längst nur mehr Gänsemarsch auf Hasenfüßen möglich ist. Deshalb fand ich den Beitrag auch erhellend, weil er mir deutlich macht, wie sehr "wir" mittlerweile in völlig verschiedenen Medienwelten leben.
PS, weil ich auch die Kommentare las: Die Frage, wann sich zuletzt Menschen nicht nur als Bessermenschen, sondern sogar als Übermenschen über andere Menschen stellten, weil sie sich auf der einzig "richtigen" und "guten" Seite wähnten, das Paradies auf Erden kurz vor Vollendung sahen und selbstverständlich auch "der" Wissenschaft folgten, die wird nicht zuletzt von den sogenannten "Gutmenschen" (noch ein Zufall, nicht!?) geradezu grotesk verdrängt und projiziert. Dass die Errichtung einer Diktatur aus derlei Perspektive folgerichtig erscheint und damit (hier) sogar ungeniert kundgetan wird, ist dabei nicht weiter verwunderlich, jedoch deshalb nicht minder bedenklich. Schließlich geht es ja wie immer um nichts Geringeres als die Rettung der Welt vom vermeintlich puren Bösen.
U.a. dazu wärmstens empfohlene Lektüre eines auch international bekannten Mitstreiters Ulrike Guérots:
https://words.mattiasdesmet.org/p/the-psychology-of-totalitarianism