Die Idee, dass der Westen dabei ist unterzugehen, ist nicht neu. Insofern reiht sich Emmanuel Todds Buch Der Westen im Niedergang in eine Tradition ein, die ihren Urquell vielleicht bis auf die archaischen Weltbilder zurückverfolgen kann, nach denen die ganze Welt sich in einem Stadium des Niedergangs befindet.1 Anders als beispielsweise noch Oswald Spengler in Der Untergang des Abendlandes aber geht es Todd nicht um kulturphilosophische bis hin zu metaphysischen Spekulationen. Ganz nüchtern analysiert er bestimmte statistische Entwicklungen und stellt fest, dass die “Krisis”, von der so viele westliche Denker vor ihm bereits sprachen — Spengler, Friedell, Husserl, um nur einige wenige zu nennen — nun in ein Stadium eingetreten ist, in dem sie nicht mehr nur die religiöse und kulturelle Sphäre stranguliert, sondern auch — und in Folge der anderen beiden Dimensionen — die ökonomische.
Die PR für das Buch wirbt damit, dass Todd bereits 1976 den Fall der UdSSR korrekt vorhergesagt habe. Mir scheint dies nicht besonders bedeutungsvoll. Insofern Intellektuelle Prognosen über die Zukunft äußern, und dabei nicht alle das Gleiche sagen, werden notwendigerweise hin und wieder korrekte Prognosen dabei herauskommen. Interessant würde dies erst, wenn sich bei einem Intellektuellen mehrere korrekte Voraussagen häuften.
Todds Analysen sind aber auch jenseits ihrer prognostischen Kraft äußerst interessant, denn er wählt in seinem Buch die Perspektive der Geopolitik, nicht nur — und nicht einmal hauptsächlich —, um in die Zukunft zu blicken, sondern um überhaupt den Ist-Zustand wahrzunehmen — eine Tätigkeit, der sich die deutsche Politik gerne verweigert, so mein Eindruck. Anlass zum Buch war ihm der Ukraine-Krieg, in dem er vor allem Deutschland als völlig fehlaufgestellt sieht, und von dem er schon 2023 fest überzeugt ist, dass die Ukraine — und damit der Westen, vor allem die USA, denn für Todd ist dieser Krieg ein Stellvertreterkrieg zwischen Russland und NATO — verlieren wird.
I. Zur Deutschen Ausgabe
Für die deutsche Ausgabe hat Todd ein eigenes Geleitwort und Nachwort geschrieben, denn diese Ausgabe sei “für mich die wichtigste von allen.” Deutschland zeige sich in diesem Konflikt zwar “schwach” und “unschlüssig”, und werde daher bei Entscheidungen auch übergangen, sei also auf eine Vasallenrolle reduziert, stehe aber doch im geheimen Zentrum des Konfliktes.
Einen wirtschaftlichen Keil zwischen Russland und Deutschland zu treiben, sei schon lange, spätestens aber seit dem Schulterschluss gegen den Irakkrieg zwischen Frankreich, Deutschland und Russland, der sich in gemeinsamen Pressekonferenzen damals zwischen Chirac, Schröder und Putin manifestiert habe, ein Ziel der USA gewesen. Dies sei nun gelungen, und es könne nur als ihr “maßgeblicher Erfolg” bezeichnet werden, “dass sie die Europäische Union in einen Konflikt mit Russland verwickeln konnten, sogar auf die Gefahr hin, deren Wirtschaft mehr zu schaden, als der Russlands.” (S. 11)
Todd macht hier gleich zu Beginn klar, dass er diametral gegen die gängige westliche Perspektive schreibt. Den Krieg als “unprovozierten Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine” zu beschreiben, erscheint ihm hoffnungslos naiv, vor allem das Wort “unprovoziert”. Auch dass der Westen die Ukraine aus rein moralischen Gründen unterstütze, oder, um die “weitere Agression Russlands” gegen ganz Europa, wie Annalena Baerbock es offiziell befürchtet, zu verhindern, hält Todd für eine lächerliche Narrative, die sich weigert, die wirkenden Kräfte zur Kenntnis zu nehmen. Und diese sind für ihn vielfältig, auf Seiten der USA und des Westens aber diagnostiziert er einen zunehmenden “Nihilismus”. Was er damit meint, werden wir im Folgenden noch sehen.
Dieser Erfolg der USA könnte sich aber, so Todd, als Phyrrussieg erweisen, da die “industriellen und militärischen Mittel” der USA nicht für einen Sieg gegen Russland in der Ukraine ausreichten:
“Die bevorstehende Niederlage der Ukraine sowie die Erniedrigung des Pentagons und der NATO werden die Frage nach den künftigen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland wieder aufkommen lassen. Dann wird Deutschland zwischen einem endlosen Konflikt und dem Frieden mit Russland wählen müssen. Für Deutschland ist dies ein sehr altes Thema.” (S. 11f.)
Er, Todd, empfehle Deutschland, hier “kühle Rationalität” statt “Emotionen”. Deutschland lasse sich zu leicht aufgrund seiner “katastrophalen Erfahrungen der NS-Zeit” und der daraus folgenden Schuldgefühle manipulieren,2 weil es endlich “auf der richtigen Seite der Geschichte” stehen wolle. Es laufe dadurch aber Gefahr, doch wieder auf der falschen Seite zu stehen, wenn es sich weigere, “die Gegenwart richtig zu analysieren.”
“Es geht darum, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit dort zu sehen, wo sie sind, und zwar jetzt, ohne sich den Verstand von den Geistern der Vergangenheit vernebeln zu lassen, noch bevor man überhaupt angefangen hat zu beobachten, zu analysieren, zu reflektieren.” (S. 13)
Zusammengefasst empfiehlt Todd hier also indirekt den Deutschen, endlich zur Kenntnis zu nehmen, dass die Ukraine — und damit der Westen, und damit auch Deutschland — den Krieg bereits verloren habe; dass die USA nicht mehr die Vormachtstellung in der Welt habe wie in den 90ern und frühen 2000ern; dass wir uns in einer nunmehr multipolaren Welt einrichten müssten, mit China und Russland als weiteren Großmächten neben den USA; und dass Deutschland ein vernünftiges Auskommen mit Russland (und China) finden müsse.
Und er gibt zu Verstehen, dass dies in seinen Augen nicht unbedingt eine ungünstige Entwicklung sein muss. “Es geht darum, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit dort zu sehen, wo sie sind …” Eine nicht mehr vom Westen ausschließlich beherrschte Welt wäre vielleicht sogar begrüßenswert, zumal für Todd weder der Westen so demokratisch ist, wie er tut, noch der Rest der Welt so undemokratisch.3
II. 10 Überraschungen (number 8 will blow your mind…)
Mit der anempfohlenen Beobachtung, Analyse und Reflexion beginnt Todd nun gleich selbst, indem er die 10 für ihn wichtigsten Überraschungen des Ukraine-Krieges darstellt:
dass der Krieg in Europa ausbrach, während sich dieses im ewigen Frieden wähnte
dass die USA hier gegen Russland kämpft, obwohl sie doch China als ihren Hauptfeind ausgemacht haben
dass es der Ukraine gelang, nicht direkt überrannt zu werden
dass Russlands Wirtschaft nicht infolge der westlichen Sanktionen zusammenbrach
“das Einknicken jeglichen europäischen Willens”4
die Begeisterung des UK für den Krieg, ohne wirklich militärisch etwas zu bieten zu haben
die Begeisterung Skandinaviens für den Krieg, vor allem Schwedens und Finnlands, die nun der NATO beigetreten seien
die Unfähigkeit der US-amerikanischen Militärindustrie, ausreichend Kriegsmaterial zu produzieren — dies nennt Todd die “überraschendste” Überraschung
“die ideologische Einsamkeit des Westens und die Unkenntnis ihrer eigenen Isolation” — also die Tatsache, dass der Rest-der-Welt teils offen, teils eher verholen auf einen Sieg Russlands hofft und hinarbeitet, und die moralische Entrüstung des Westens gar nicht verstehen kann
die schleichende, aber doch zu beobachtende Selbstzerstörung des Westens
Der Erklärung all dieser Überraschungen, und warum sie nicht hätten überraschend sein müssen, wenn man genau beobachtet und analysiert hätte, vor allem der 10. Überraschung, ist der Rest des Buches gewidmet.5
III. Mearsheimers Analyse
Todd stimmt in weiten Teilen der Analyse des Konfliktes zu, die John Mearsheimer, Professor für Geopolitik an der Universität Chicago und Realist,6 vorgelegt hat, und die “sich sehr mit der Sicht von Wladimir Putin” decke, indem sie “das Axiom eines intelligenten sowie verständlichen russischen Denkens” akzeptiere:
“Russland wiederholte uns sei vielen Jahren, dass es einen Beitritt der Ukraine zur NATO nicht tolerieren werde. Nun war die Ukraine, deren Armee von militärischen Ratgebern der amerikanischen, britischen und polnischen Allianz übernommen worden war, im Begriff, de facto Mitglied zu werden. Also taten die Russen, was sie angekündigt hatten, und traten in den Krieg ein. Im Grunde ist es unsere Überraschung, die hier überraschend war.” (S. 22)
Mearsheimer habe auch korrekt vorausgesagt, dass Russland diesen Krieg gewinnen würde, weil ihn zu gewinnen eine existenzielle Frage sei, für die USA aber nicht, und Europa dabei nicht weiter ins Gewicht falle. Was Mearsheimer aber übersehen habe, sei, dass auch das Verhalten des Westens nicht völlig irrational sei, sondern einer inneren Logik folge, die es zu analysieren gelte. Mearsheimer habe zudem übersehen, dass der anfängliche militärische Erfolg der Ukraine, der für alle überraschend kam, die USA “in eine Falle getrieben” habe:
“Denn nun haben auch sie ein Überlebensproblem, ein weit größeres als mögliche Gewinne am Rande — eine riskante Situation, die sie dazu veranlasst hat, weiter und weiter in den Krieg zu investieren. Mit kommt das Bild eines Pokerspielers in den Sinn, der durch einen Freund dazu verleitet wird, zu erhöhen, und der schließlich mit einem Paar Zweien All-in geht. Ihm steht ein perplexer Schachspieler gegenüber, der allerdings gewinnt.” (S. 23)
Mir scheint Todd in der Sache hier zwar Recht zu haben, Mearsheimer aber Unrecht zu tun. Dieser hat im Laufe der Zeit nämlich sehr wohl zur Kenntnis genommen, dass auch die USA sich in dem Konflikt haben gefangen nehmen lassen, weshalb er auch korrekt voraussagte, dass es auch Trump nicht — wie vollmundig im Wahlkampf behauptet — gelingen würde, ein sehr schnelles Ende des Krieges durchzusetzen.7
IV. Nationalstaatlichkeit
Todd führt weiter aus, was Mearsheimer und Putin in ihrer Analyse der Situation beide fehlerhaft sähen, sei die Rolle der westlichen Staaten als Nationalstaaten. Russland sei tatsächlich ein “klassischer, konservativer Nationalstaat”, der sich durch seine Souveränität definiere, also seine Fähigkeit, “seine Innen- und Außenpolitik unabhängig zu gestalten, ohne Einmischung oder Einflussnahme von außen”.8
Nationalstaatlichkeit axiomatisch anzunehmen sei äußerst plausibel, versetze einen “gegenüber den westlichen Regierungen” aber “in eine Position des Nichtverstehens.”
“Der Nationalstaat existiert im Westen nicht mehr.” (S. 25)
Und dies liege nicht einzig, nicht einmal in der Hauptsache, an einem Mangel an Souveränität in Europa, wovon die USA ja auch gar nicht betroffen wären, sondern am Zerfall der Gesellschaft in den westlichen Ländern. Dies bedarf einiger Erläuterungen.
Ein (funktionaler) Nationalstaat setze voraus, so Todd:
eine Bevölkerung
auf einem Gebiet
mit gemeinsamer Kultur, insbesondere einem “nationalen Bewusstsein”
innerhalb eines politischen Systems egal welcher Couleur
“minimale wirtschaftliche Autonomie”, d.h. ausgewogenen Handel
“eine spezifische Klassenstruktur, was als Gravitationszentrum eine Mittelschicht einschließt”, die sicherstellt, dass die herrschenden Eliten sich am Interesse der Nation, also seiner Bevölkerung, ausrichten
Die Bedingungen 3, 5 und 6 seien in den westlichen Ländern immer weniger erfüllt, insbesondere den USA, deren nationales Bewusstsein tief gespalten sei, die ein stetig wachsendes Handelsdefizit aufbauten (mehr Import als Export), und deren Mittelschicht zerstört sei. Im Falle Europas führe die EU zum Zerfasern des Nationalstaats, ohne ihn durch eine europäische Nation ersetzen zu können oder auch nur zu wollen.
Dies sei erst einmal wertneutral festzustellen. Was diese Situation aber wirklich gefährlich mache, so Todd, sei das, was die USA statt eines Nationalstaats nun aber seit den 1960ern geworden seien. Nämlich ein:
“im Wesentlichen militärische[r] Organismus, der von einer Gruppe ohne Kultur (im anthropologischen Sinn) angeführt wird und der als fundamentale Werte nur Macht und Gewalt kennt. Diese Gruppe wird im Allgemeinen mit dem Ausdruck ‘Neocons’ bezeichnet. Sie ist ziemlich klein, bewegt sich aber innerhalb einer fragmentierten, anomischen Oberschicht und verfügt über ein großes geopolitisches sowie historisches Schadenspotenzial.” (S. 28)
V. Nihilismus
Die USA befänden sich in einem postimperialen Stadium, das einige Parallelen zum spätantiken Rom aufweise, aber natürlich auch einige Unterschiede. Jedenfalls seien sie innerlich ausgehölt, wie damals das Römische Reich. Damals hauchte ihm das Christentum neues Leben ein, nicht ohne es grundsätzlich zu transformieren. Ein ähnlicher Faktor ist heute bisher nicht absehbar.
Im Gegenteil: Die “endgültige Auflösung der christlich-religiösen und besonders der protestantischen Matrix im Westen” führe zu einem Nihilismus, der an den “russischen Nihilismus des 19. Jahrhunderts” erinnere und zwei Dimensionen beinhalte:
physisch: den “Trieb, Dinge und Menschen zu zerstören”
begrifflich: “den Begriff der Wahrheit selbst zu zerstören und jede vernünftige Beschreibung der Welt zu verbieten”; dies betreffe dann auch die moralische Dimension — wer nicht mehr zwischen wahr und falsch unterscheide, könne auch nicht mehr zwischen gut und böse unterscheiden.
Beide Tendenzen richteten sich, so Todd, nicht nur nach außen — auf den Feind sozusagen, den man zerstören und desinformieren will, was noch keinen Nihilismus ausmacht —, sondern in zunehmendem Ausmaße auf sich selbst. Die eigene Bevölkerung könne auch nicht mehr zwischen wahr und falsch unterscheiden, deshalb auch nichts Neues aufbauen, sondern nur noch (selbst)zerstörerisch agieren.
Der Krieg — gemeint ist der in der Ukraine, aber vielleicht könnte man es auch auf alle anderen aktuellen Kriege und kriegerischen Handlungen beziehen — zeige dies, denn er diene als Realitätstest:
“Der Krieg lässt hinter die andere Seite des Spiegels blicken, in eine Welt, wo Ideologie, statistische Täuschungen, das Versagen der Medien und die Staatslügen — nicht zu vergessen der Verschwörungswahn — allmählich ihre Macht verlieren. Eine schlichte Wahrheit wird zutage treten: Die Krise des Westens ist die treibende Kraft der Geschichte, die wir erleben. Einige wussten das. Nach dem Ende des Krieges wird es niemand mehr leugnen können.” (S. 35)
VI. Zusammenfassung und Ausblick
Wir sehen, Todd scheut sich nicht, große Thesen pathetisch in den Raum zu stellen, ja geradezu zu schleudern. Wir werden in den nächsten zwei Teilen zu prüfen haben, ob er sie argumentativ stichhaltig untermauern kann, nämlich:
Russland sei wirtschaftlich wie gesellschaftlich stabil und zwar autoritär geführt, aber doch eine Demokratie, und werde den Krieg (in der Ukraine, aber gegen den Westen) gewinnen
Der Westen, vor allem die USA, hingegen seien wirtschaftlich wie gesellschaftlich instabil, zwar liberal, aber zunehmend oligarchisch, und seien dabei, den Krieg zu verlieren und sich selbst zu zerstören
Der zugrundeliegende Grund für das Versagen des Westens und das Bestehen Russlands sei nicht direkt rationaler Natur, sondern sozusagen spiritueller. Der Westen habe den Glauben an seine eigene Narrative verloren (Todd nennt dies “Nullreligion”, Russland hingegen nicht, bzw. habe sich seit dem Zusammenbruch der UdSSR (die wohl Todds Analyse nach auch aus einer Art “Nullreligion” des realen Sozialismus zusammenbrach) nationalstaatlich (vielleicht ein “David gegen Goliath” - Narrativ nutzend) transformiert
Wir werden sehen. In einem vierten Teil werden wir dann noch dazu kommen, die veröffentlichte Kritik an Todds Thesen zur Kenntnis zu nehmen und auf ihre Stichhaltigkeit abzuklopfen, insofern wir uns dies als dilettantische Laien anzumaßen bereit sind.
Bspw. nachzulesen bei Hesiod, Werke und Tage. Allerdings findet Todds Anbindung an diese Tradition vielleicht vor allem mit dem Deutschen Titel statt. Im Original heißt das Buch La Défaite de l’Occident, was wörtlich eher “Die Niederlage des Westens” bedeutet, und sich direkt auf den Ukraine-Krieg beziehen könnte, ohne weitere Implikationen. Im Buch sind weitere Implikationen über eine Art wirtschaftlicher Implosion der USA, die der religiösen und kulturellen folgt, aber doch vorhanden.
Ähnlich hat dies, in leicht anderem Kontext, auch Ulrike Guerot ausgedrückt.
Wir werden darauf im Text noch zurückkommen müssen, aber hier sei bereits erläutert, dass das westliche Ideal der “liberalen Demokratie” für Todd im Westen nicht mehr erfüllt ist. Der Westen sei zwar noch liberal, aber nicht mehr demokratisch, sondern oligarchisch geführt; Russland hingegen sei zwar autoritär, aber demokratisch. Diese Bezeichnungen werden den deutschen Leser vielleicht überraschen, Todd begründet sie aber nachvollziehbar. Wir werden darauf zurückkommen.
Ich zitiere hier Todd direkt, um die Drastik dieses Punktes einzufangen. Während sich das Vereinigte Königreich als bellezistischer Kläffer geriere und Frankreich und Deutschland ihre Rolle nicht fänden, seien sie “durch die Achse London-Warschau-Kiew ersetzt [worden], die von Washington aus gesteuert wird.” (S. 18)
Es lohnt sich, bei diesen 10 Überraschungen länger gedanklich zu verharren, und sich die Frage zu stellen, welche dieser Entwicklungen einen selbst seit 2022 überrascht hatte. In aller Bescheidenheit möchte ich sagen, dass mich “nur” die Punkte 1-3 damals überrascht haben. Die Hybris und die damit verbundene Unfähigkeit des Westens haben mich nicht überrascht, wohl aber ihr Unvermögen/Unwillen, diesen Krieg in Europa zu verhindern. Das heißt, ich hatte die selbstzerstörerische Tendenz, die der Hybris eigentlich immer innewohnt, unterschätzt.
Ich hatte allerdings auch nicht geglaubt, dass Russland wirklich die Ukraine angreifen würde, was aber wohl nur daran liegt, dass ich mich mit der Situation bis dahin nur sehr oberflächlich beschäftigt hatte. Wie mir ein Bekannter darlegte (Danke, Johannes), und wie Todd es in seinem Buch auch ausführt, hat Russland das gleiche demographische Problem wie der Westen, d.h. eine schwindende Bevölkerung, und darum lag sein window of opportunity in den fünf Jahren zwischen 2022 und 2027, um Fakten in Europa zu schaffen, nachdem ihm die Entwicklung einer Hyperschall-Rakete gelungen war.
Realismus ist eine Denkschule im Feld der Internationalen Beziehungen, die davon ausgeht, dass Staaten aufgrund des international herrschenden Anarchismus gezwungen sind, rein nach Machtverhältnissen außenpolitische Entscheidungen zu treffen. Es geht insbesondere Großmächten darum immer darum, ihre eigene Machtsphäre zu sichern oder zu erweitern, und mögliche Konkurrenten (peer competitors) kleinzuhalten oder zu sabotieren.
Diese Sichtweise gilt als besonders “zynisch” im Vergleich zu ihren Alternativen, vor allem dem Liberalismus, der von der These ausgeht, dass liberale Demokratien gut miteinander auskämen — darum müsse man die Welt safe for democracy machen, am besten indem man alle Staaten in liberale Demokratien verwandle, aber auch kapitalismuskritischen Theorien, die die entfesselten Märkte für Kriege veranwortlich machen und mit der Abschaffung dieses Wirtschaftsystems ein Ende der Kriege in Aussicht stellen. Beide haben ein utopischen Ideal, während der Realismus darauf beharrt, dass Krieg immer unvermeidbar sein wird, weil man den anderen nicht wird ausreichend trauen können. Diese drei Perspektiven wurden gut nachvollziehbar auf den Ukraine-Krieg angewandt in einem Artikel bei Makroskop dargestellt.
Die Perspektive des Realismus stellt auch Liu Cixins Trisolaris-Trilogie im Gewandt der Science Fiction anschaulich dar, vor allem im zweiten Teil Der dunkle Wald. Da man einer aufstrebenden Zivilisation nicht vertrauen könne, nicht eines Tages zum Aggressor zu werden, müsse man sie aus Eigeninteresse daran hindern, mächtig zu werden, zur Not auch, indem man sie auslösche. Diese Metaperspektive erlaubt aber auch Kooperation im kleineren Maßstab. Man kann eine andere Zivilisation zur Zusammenarbeit zwingen, indem man damit droht, andernfalls ihr Bestehen einer höheren Zivilisation zu verraten und sie damit dem Untergang zu weihen (eine galaktische Form der MAD).
Aktuell sieht es danach aus, als würde es nun zu Verhandlungen zwischen USA und Russland unter Pseudo-Einbeziehung der Ukraine kommen, allerdings wird die USA einen Frieden nur damit erkaufen können, dass sie im Wesentlichen alle Forderungen Russlands erfüllt, insbesondere die militärische Neutralität der Ukraine und die Gebietsabtretungen im Osten. (Für Selensky würde ein solcher “Frieden” sehr gefährlich werden. Mearsheimer ist skeptisch, dass es dazu kommen wird. Er hält Trumps Kommunikation diesbezüglich für erratisch und nicht zielführend.)
Michael von der Schulenburg vermutet, dass Trump versuchen wird, die übrige Ukraine — ihren Wiederaufbau und vor allem ihren blühenden militärischen Nationalismus — dann zum Problem der EU — allen voran Deutschland — zu machen, und ihr auch die Schuld für das Versagen des Westens in die Schuhe zu schieben, um das Gesicht der USA zu wahren, was den Kollaps der EU beschleunigen könnte, da viele Länder nicht bereit sein werden, für den Wiederaufbau eines politisch wie wirtschaftlich dysfunktionalen Landes zu bezahlen. Die Ukrainer wären einmal mehr die Haupt-Leidtragenden.
Todd (S. 24) zitiert hier Tatiana Kasouéva-Jean, “La souveraineté nationale dans la vision russe”, die weiter ausführe: “Die Souveränität ist ‘ein seltenes Gut, über das nur wenige Staaten verfügen, allen voran die Vereinigten Staaten, China und Russland selbst. Im Gegenzug vermitteln viele offizielle Schriften und Reden das abfällige Bild eines ‘Vasallentums’ der Europäischen Union gegenüber Washington oder beschreiben die Ukraine als amerikanisches “Protektorat”.’” (S. 24) Nicht ganz zu Unrecht, denke ich.