Liberalismus - die Ideologie der Sinnlosigkeit?
Mit Raymond Geuss "Nicht wie ein Liberaler denken". Ein Lesetagebuch - Teil 1: Über falsche Dichotomien
Prolog, nicht im Himmel
“Ich möchte nicht wie ein Liberaler denken.”
— “Also bist du autoritär?”
“Nein, nein, das will ich erst recht nicht.”
— “Du bist wirklich ein unlogischer Luxustyp!”
“Aber hast du Raymond Geuss denn nicht gelesen?”
— “Nä, den hab ich nicht gelesen.”
“Dann nimm ihn und lies. Danach können wir weiterreden.”
— “Naaaaa gut.”
Nach- & Vorbemerkung: Man weiß ja selten, wie man dazu kommt, dass ein Buch einem ins Auge fällt und dann muss man es lesen. Als mir Raymond Geuss’ Buch begegnete, das muss im Herbst 2023 gewesen sein, las ich es in großer Eile und nahm mir vor, zu gegebener Zeit zurückzukehren, um meine Auseinandersetzung zu vertiefen. Dies soll nun geschehen.
Was mich an dem Buch anzog, war die Verneinung der Dichotomie Liberalismus oder Autoritarismus. Als jemand,
der glaubt, von den Amerikanischen Pragmatisten (Dewey, James, Rorty) gelernt zu haben, dass unsere gedanklich-gesellschaftlichen Probleme oft daher rühren, dass wir an falschen Dichotomien festhalten;
dem der Autoritarismus kein bisschen sympathisch ist;
der aber auch zunehmend Schwächen im Modell des Liberalismus zur Kenntnis zu nehmen gezwungen war;
— schien mir das eine lohnenswerte Lektüre. Ich wurde nicht enttäuscht.
Die Art, wie ich nun über dieses Buch schreibe, ist — wie eigentlich jeder neue Artikel, den ich verfasse — ein Experiment, vor allem die Fußnoten.1 Schreibt mir gerne, wenn ihr findet, dass es gescheitert ist :)
Der Schmutzumschlag
Dieser verkündet stolz, ein Buch des Hauses Suhrkamp zu beherbergen, dass etwas unter 30€ kostet. Bücher sind auch immer teurer geworden.2 Für 30€ könnte man zur Not auch die Mahlzeiten einer Woche bestreiten. Wäre ich bereit, eine Woche zu fasten, um dieses Buch mein Eigen nennen zu dürfen? (Ich vermute, ja, aber wissen kann man es nur, wenn man vor der Notwendigkeit gestanden hat.3)
Das Bild scheint eine Klostermauer oder Ähnliches darzustellen, der Schattenwurf eines strahlenförmig unterteilten Fensters deutet darauf hin, dass es keine Außenmauer ist. Titel und Autor. Ein Zitat aus dem Buch:
“‘Liberalismus oder Autoritarismus’ ist eine falsche Dichotomie.”
Zwei lobende Blurbs (Pleonasmus, Blurbs loben immer) von Axel Honneth,4 Sozialphilosoph im Sinne der Frankfurter Schule, und Cornel West,5 US-Philosoph und Theologe, denen zufolge dieses Buch ein echtes must-read sei, ein “intellektuelles Fest” und “schon jetzt ein Klassiker”, aus dem sich “mehr über Ethik, Politik und Philosophie lernen” lasse als aus so mancher verstaubten Abhandlung der Academia.
Der hinteren Innenklappe können wir entnehmen, dass es sich bei dem Umschlagbild um Beautiful Light handelt aus der Serie Church of the Holy Sepulchre, von Joy Lions, Privatsammlung.6
Zudem, dass Geuss, obschon in den USA geboren und promoviert — im Abstand von lediglich 25 Jahren — eine Verbindung nach Deutschland zu besitzen scheint, Heidelberg und Berlin werden genannt. Dass er vor allem aber seit 2000 eingebürgerter Brite ist und seine letzte Professur vor der Emeritierung im renommierten Cambridge war, erwähnt die Kurzbio seltsamerweise nicht. Vielleicht ist ein Amerikanisch-Deutscher Autor beim deutschen Publikum attraktiver als ein Amerikanisch-Britischer Autor mit Forschungsphasen in Deutschland?
Ein Bild des Über-70-Jährigen kriegen wir auch nicht geboten. Dabei sieht Geuss (für einen alten Philosophen) ziemlich gut aus, finde ich. Besser jedenfalls als Habermas, Rorty, oder Agamben.
Die vordere Innenklappe bietet eine kurze Zusammenfassung des Inhalts. Das Buch stellt autobiographisch-analytisch die Möglichkeit dar, den Liberalismus als Ideologie abzulehnen, ohne sich der falschen Alternative des Autoritarismus hinzuwenden.
Das klingt doch schonmal gut.
Das Inhaltsverzeichnis
Es gibt 12 Kapitel, wie die Monate, wie die Apostel, eingerahmt von den obligatorischen Abschnitten eines “Fachbuches”: Vorwort, Einleitung, wissenschaftlicher Apparat und Danksagung.
Leider besitzt das Buch keine darüber hinausgehende Gliederung, obschon das 7. Kapitel als Zwischenspiel bezeichnet wird, was die These nahelegt, dass man auch mit Teil 1 und 2 hätte arbeiten können. (Ich liebe es, wenn Bücher in Teile, Kapitel, Unterkapitel, Paragraphen eingeteilt sind. Ordnung muss sein.)
Die Wörter Liberalismus und Autoritarismus tauchen auf, dazu: Nostalgie, menschliche Natur, Geschichte, und die Namen von fünf Philosophen, davon mir nur zwei bekannt: Heidegger und Adorno, die ich allerdings beide nur zu lesen versucht habe, ohne dass es mir gelungen wäre.7
Epigraph
Geuss hat als Motto für sein Buch ein paar Sätze aus dem Törleß gewählt, die ich selbst als jugendlicher Leser so eindrucksvoll fand, dass ich sie nie so richtig wieder vergessen habe:
“Aber schon der nächste Tag brachte eine arge Enttäuschung. Törleß hatte sich nämlich gleich am Morgen die Reclamausgabe jenes Bandes gekauft, den er bei seinem Professor gesehen hatte, und benützte die erste Pause, um mit dem Lesen zu beginnen. Aber vor lauter Klammern und Fußnoten verstand er kein Wort, und wenn er gewissenhaft mit den Augen den Sätzen folgte, war ihm, als drehe eine alte, knöcherne Hand ihm das Gehirn in Schraubenwindungen aus dem Kopfe.”
Robert Musil, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
Bei dem besagten Buch handelt es sich meiner Erinnerung nach um Kants Kritik der reinen Vernunft, und wer es gelesen hat, oder zumindest versucht hat, es zu lesen, wird nachvollziehen können, wie es dem jungen Törleß erging.8
Unmittelbar einleuchtend empfinde ich es aber nicht, was dieses Motto mit dem Rest des Buches zu tun hat. Geht es lediglich um die Ablehnung der “Klammern und Fußnoten”, die das Buch aber doch selbst ebenfalls enthält? Oder um das Gefühl des Gehirnschwunds? Wir dürfen gespannt sein, ob wir es am Ende der Lektüre besser verstehen werden.
Das Vorwort: “Ziellose Spaziergänge”
Die heutige Welt, so Geuss, aber wer glaubt dies nicht, insofern sparen wir uns ruhig den Konjunktiv, wird beherrscht von einer Melange aus Kapitalismus und Liberalismus, als politisches, soziales und ökonomisches Modell. Allerdings zeige diese seit Beginn des 21. Jahrhunderts “Auflösungserscheinungen”.
Die westliche Welt habe sich der egozentrisch-naiven Sichtweise hingegeben, sie werde selbstverständlich an der Spitze und tonangebend bleiben, wenn die ganze Welt “unser Modell” übernimmt — sie habe also “universalistische Ansprüche” mit “nüchtern kalkuliertem Eigennutz” kombiniert. (S. 12)
Zwischen den Zeilen können wir eine mögliche Sichtweise empfinden, die Geuss ablehnt, dass nämlich der Eigennutz dem Kapitalismus entspricht, der Liberalismus den universellen Ansprüchen, und es also möglich wäre, die beiden zu entflechten, und nur die guten Aspekte zu behalten.
Geuss und ich sind skeptisch, dass dies möglich sei, denn weder ist der Kapitalismus frei von universalistischen Ansprüchen, noch der Liberalismus von kalkuliertem Eigennutz. Und an beiden ist nicht alles schlecht.
Schwindende Bedeutung und Illusionen
Wirtschaftskrise, Trump und Brexit: Dies sind für Geuss Symptome der Auflösung, gepaart mit dem Erstarken sowohl autokratischer Regierungsformen (bspw. in Ungarn) als auch des Nicht-Westens generell: China, Russland, und die anderen BRICS-Staaten.
Der Zustand schwindender Bedeutung ist unangenehm, auch wenn die Bedeutung noch immer enorm ist, und Geuss fühlt sich von diesem Zustand an das Philadelphia der 1950er Jahre erinnert, in dem er aufwuchs. Eine ehemals bedeutende Stadt in den USA, die nun aber eigentlich unbedeutend geworden war, ohne sich damit bereits abgefunden zu haben.
In diesem Philadelphia ging Geuss auf eine katholische Privatschule, in der ein ganz anderer Geist lebte, als im Rest der USA. Einer solchen Minderheit anzugehören verschaffe einem einen “kognitiven Vorteil”, anhand dessen es leichter sei, den “Verlockungen weitverbreiteter Illusionen zu widerstehen.”9 (S. 15)
Als lebenslangem Atheist geht es Geuss aber nicht darum, den Katholizismus zu empfehlen, auch wenn er seine Lehrer im Buch ausführlich zu Wort kommen lässt.10 Vielmehr bescheinigt er ihm, wie auch dem Kommunismus totalitäre Tendenzen, die sich aber auch — versteckter — im Liberalismus fänden:
“Das bedeutet, dass sich die wirklich totale Ideologie unserer Ära, die Verbindung aus Demokratie, Liberalismus und Kapitalismus, nicht als eine totale Ideologie, sondern tatsächlich als etwas anderes präsentiert; in einigen ihrer raffinierteren Formen präsentiert sie sich sogar als die Antiideologie schlechthin.” (S. 17)
Die Sehnsucht nach einer Weltanschauung
Es falle im Grunde genommen nicht schwer, die Ideologien, einschließlich des Liberalismus, zu durchschauen, dies führe aber in eine “instabile und unangenehme Situation”:
“Wir benötigen anscheinend aus einer Vielzahl von Gründen so etwas wie eine umfassende Weltanschauung, und doch haben wir allen Grund zu glauben, dass keine oder zumindest keine von den uns verfügbaren zufriedenstellend sein wird.” (S. 17)
Infolgedessen gleiche das Denken einer “einigermaßen aufmerksamen und intelligenten Person” “fast ziellosen Spaziergängen”.11 Man wisse, dass man nicht erreichen könne, wonach man sich sehne. Man könne trotzdem nicht aufhören, danach zu streben.
Stoisches Ertragen mit Samuel Beckett
Der Mensch begehrt ein telos und findet es nicht. Dies, so scheint mir, ist das sujet der Moderne, auch literarisch. Der Meister der “fast ziellosen Spaziergänge” ist Samuel Beckett, vom sinnlosen Lutschen an Kieselsteinen (From an abandoned Work), über sinnlose Gespräche über Bibelfragmente (Waiting for Godot), zu sinnlosem Gebrabbel in der Hölle (Play), oder dem stummen Dahinhasten (The Lost Ones), begegnet uns in Beckett ein ständig aussichtsloser werdendes Suchen, das aber dennoch niemals aufgibt.12
Dies scheint die eine Möglichkeit zu sein, mit der Situation umzugehen. Sich mit ihr anfreunden, so weit es geht, und die Sinnlosigkeit ertragen (oder auch nicht ertragen, aber Beckett jedenfalls hat sie ertragen). Der düstere, queere, dem Zeitgeist zuweit vorauseilende, in seinen späteren Jahren dem Hören-Sagen nach paranoide William S. Burroughs schildert seine Situation wie folgt:
“You must learn to exist with no religion, no country, no allies.
You must learn to live alone in silence.”
Das kommt davon, wenn man zu viel Beckett liest. Nur, dass Burroughs wahrscheinlich kein ausgesprochener Beckett-Leser war, anders als Paul Auster und Salman Rushdie, die beide Optimismus fanden — insofern hat Burroughs vielleicht genau andersherum nicht genug Beckett gelesen, um sich von seinen nihilistischen Zügen durch Konfrontation zu heilen.13
Optimistisches Ringen mit T. S. Eliot
Andere Literaten der Moderne “flüchten” sich zurück in den Glauben, T. S. Eliot beispielsweise.14 In seinem Frühwerk drückt dieser die Beckett’sche Sinnlosigkeit ebenso poetisch wie brutal aus, wenn wir an den Beginn von The Lovesong of J. Alfred Prufrock denken:15
Let us go then, you and I,
When the evening is spread out against the sky
Like a patient etherised upon a table;
Auch hier finden wir das Bedürfnis zu verstummen:
I should have been a pair of ragged claws
Scuttling across the floors of silent seas.
Und im ersten Teil von The Waste Land, drückt Eliot die Ödnis einer zerstörten Kultur aus, “ein Haufen zerbrochener Bilder”, ohne Leben, ohne Barmherzigkeit:
What are the roots that clutch, what branches grow
Out of this stony rubbish? Son of man,
You cannot say, or guess, for you know only
A heap of broken images, where the sun beats,
And the dead tree gives no shelter, the cricket no relief,
And the dry stone no sound of water.
Der Glaube befreit den Menschen jedoch nicht vom Ringen, auch nicht von den Momenten der Verzweiflung und des Verstummen-Wollens. Wir können dies im Buch Hiob eindrucksvoll nachlesen.16 Ein telos zu besitzen bedeutet schließlich, daran scheitern zu können. Ein Ziel vor Augen zu haben bedeutet, versagen zu können.17
Aber die Verzweiflung ist eine gänzlich andere. Die Verzweiflung eines “Heiligen” wie beispielsweise des Franz von Assisi, ist es, nicht gut genug sein zu können, für die Aufgabe, die man hat, in den Augen des Einzigen, der zählt.18 Es scheint mir eine Verzweiflung zu sein, die einen nicht lähmt, sondern im Gegenteil zum weiteren Arbeiten anfeuert, und durch das Weitermachen überwindet man die Verzweiflung — für dieses Mal, für heute.19
Entweder hat die Menschheit eine Zukunft, oder nicht, so sagte Rudolf Steiner ungefähr, ich jedenfalls werde alles in meiner Macht stehende dafür tun, dass sie eine hat. Der Rest ist Gnade. Sweep the garden, drückt Gary Snyder den gleichen Gedankengang aus, no matter the size.
Und T.S. Eliot schreibt im letzten der Four Quartets, Little Gidding, im 1. Teil:
If you came this way,
Taking the route you would be likely to take
From the place you would be likely to come from,
If you came this way in may time, you would find the hedges
White again, in May, with voluptuary sweetness.
It would be the same at the end of the journey,
If you came at night like a broken king,
If you came by day not knowing what you came for,
It would be the same, when you leave the rough road
And turn behind the pig-sty to the dull façade
And the tombstone. And what you thought you came for
Is only a shell, a husk of meaning
From which the purpose breaks only when it is fulfilled
If at all. Either you had no purpose
Or the purpose is beyond the end you figured
And is altered in fulfilment.
Nicht gerade happy-clappy. Ich zitiere so viele Zeilen, einmal aufgrund der fast hymnischen Schönheit der Verse, aber auch aufgrund der vielfältigen Kontraste: die Schönheit, durch die eine unfassbare Traurigkeit durchschimmert; die Fähigkeiten, zu leiden und doch auch die voluptuary sweetness anzuerkennen; und die reifende Erkenntnis, dass man niemals erreichen wird, wofür man aufgebrochen ist, weil das Ziel, wenn es sich überhaupt erfüllt, sich als etwas ganz anderes entpuppt, als man gedacht hatte.20
Und verstärkt wird diese Erkenntnis, denn es handelt sich um eine wahre Erkenntnis, im fünften, abschließenden Teil des Gedichts:
With the drawing of this Love and the voice of this Calling
We shall not cease from exploration
And the end of all our exploring
Will be to arrive where we started
And know the place for the first time.21
Ich denke, dass wir einen Tiefpunkt der Sinnlosigkeit hinter uns haben, und dass die Auflösungserscheinungen des Liberalismus+Kapitalismus damit zu tun haben, dass diese Ideologie es sich sozusagen in der Sinnlosigkeit gemütlich gemacht hat, und dass wir aber aufhören wollen, es uns gemütlich zu machen, sondern stattdessen die Sinnhaftigkeit wieder ergreifen, erringen, erobern wollen.
Das wird nicht leicht sein, aber es wird sich lohnen. Entweder hat die Menschheit eine Zukunft, oder sie hat keine Zukunft. Aber wenn die Menschheit in dieser Zukunft ankommt, if at all, wird sie alle Ideologie zurückgelassen haben müssen.
Wir haben uns nun im letzten Drittel dieses Textes etwas von Geuss entfernt, der mir ja auch gar nicht zustimmen würde, weil er eher der Beckett-Variante der Moderne anhängt. Sei’s drum. Das nächste Mal, so Gott will, kehren wir zu Geuss zurück, zur Einleitung und zu den ersten Kapiteln von Nicht wie ein Liberaler denken.22
Meine treuen Leser wissen, alle anderen mögen sich nun in Kenntnis gesetzt fühlen, dass ich einen Fußnoten-Fetisch pflege. Ich nehme an, dass dieser auf die Lektüre in rascher Folge von David Foster Wallaces Infinite Jest und Mark Z. Danielewskis House of Leaves zurückzuführen ist, kombiniert mit meinem Hang zu Abschweifungen, man könnte positiv von vernetzendem Denken sprechen, und der Vorgabe bei meiner ersten Hausarbeit im Fach Philosophie, dass der Haupttext nur 4000 Wörter lang sein durfte, die Fußnotenwörter wurden aber nicht mitgerechnet. Ich hatte am Ende ca. 2000 Wörter Fußnoten, um alles zu sagen, was ich sagen wollte. (So wie auch dieser Text zu mehr als der Hälfte der Wörter aus Fußnoten besteht.)
Wobei ein Teil des Effekts bei mir auch daran liegt, welche Bücher ich heutzutage lese: Fachbücher, vor allem. Die kosten typischerweise mehr als 30€, die kosten auch mal 60€ oder 80€ — The Matter With Things kostete 110€, aber das waren immerhin auch zwei dicke Bände, wunderschön aufgelegt, angefüllt mit dem geballten Wissen eines Universalgelehrten und von unschätzbarem Wert. Die Samuel Beckett Gesamtausgabe, die ich mir im Studium kaufte, war deutlich teurer, und ich verzichtete konsequent zwei Jahre darauf, Miete zu zahlen, aber das ist eine andere Geschichte. Günstiger wäre es freilich, man liehe die Bücher in einer Bibliothek aus.
Knut Hamsun beschreibt den Hunger, den wir nicht mehr kennen, in seinem Frühwerk Hunger sehr anschaulich. Das Buch empfahl mir mein Freund Demian. Ich lief in die Buchhandlung und kaufte es in einer Großdruck-Ausgabe, weil es nur die gab, und las es dann jahrelang nicht, bis mir dann bei Daniel Kehlmann ein beeindruckender Essay über Hamsun begegnete, woraufhin ich das dünne Büchlein las, beeindruckt war, mir vornahm, mehr von ihm zu lesen, zumindest Segen der Erde, was ich aber unterließ, wie auch den zweiten Band vom Mann ohne Eigenschaften — aber diese Unterlassungen des einmal Vorgenommenen verfolgen einen bis in die trüben Korridore des Arbeitsleben im 21. Jahrhunderts und in die Mußestunden: Du wolltest doch den Hamsun lesen. Du wolltest doch den Musil lesen. Du wolltest doch sowieso wieder mehr Literatur lesen. Nimm es und lies! Ich habe keine Zeit, flüstere ich, ich bin schon 37 und fühle mich noch immer wie ein kleiner Junge, und zugleich fühlt sich Kulturkritik an, als wolle man sich gegen eine gewaltige Welle stemmen, die einen aber auf jeden Fall überrollen muss, aber vielleicht kann man auch darauf surfen? Und Yeats tönt, ohne dass ich ihn gelesen hätte, durch mein Inneres: I’m looking for the face I had / Before the world was made, als Epigraph einem Buch oder einem Aufsatz vorangestellt, aber ich weiß nicht mehr, welchem.
Von dem ich noch nie auch nur eine Zeile gelesen habe. Eine Bekannte, die ich vor langen Jahren auf einem NLP-Workshop von Chris Mulzer kennenlernte (das waren noch Zeiten!), schrieb mir einmal eine faszinierende E-Mail, in der sich sich ausmalte, sie säße mit Kant, Mill und eben Honneth an einem Tisch und diskutiere über Freiheit. Leider habe ich im Laufe der Jahre den Kontakt zu ihr verloren — wie zu so vielen, ich nehme an, das ist der Lauf der Dinge, aber manchmal, wenn ich morgens aufwache und die Sonne scheint und ich habe ein paar Muße-Minuten für mich, werde ich etwas nostalgisch ob der vielen Dinge, und vor allem Menschen, die man — die ich — so zurückließ: Haustiere, Wohnungen, Länder, Bücher, Illusionen und Träume und natürlich die Toten, die man aber in Wahrheit gar nicht zurückließ, sondern weiter mit sich herumträgt, im Guten wie im Schlechten. Und, wie Gary Snyder schreibt, ich zitiere aus der Erinnerung: I think this has gone on for many lives.
Von dem ich noch nie auch nur gehört hatte. Cornel West klingt für mich wie der Name einer elitären Universität, was wohl daran liegt, dass Cornell University (mit zwei L) ivy league ist. Und Chris Cornell ist ein Sänger gewesen, von dem ein weiblicher Charakter in der Serie Californication sagt, dass sie irgendwohin gezogen sei, um ihn zu stalken, natürlich nur im Scherz. Wenn die beiden geheiratet hätten, könnte der Philosoph und Theologe jetzt Cornel Cornell heißen, was noch deutlich lustiger wäre als Faber Faber.
Und bei West können wir — unheimlich analog — an West Point denken, die Elite-Militärakademie, und natürlich an Kanye West, den ich lange Zeit nur aus einem Rap Lied kannte, einer Crew, die meiner Erinnerung nach AEK hieß, das Lief Versansammlung, mit der Line: “Fühl mich wie Jesus Walks von Kanye West”, und später dann aus einem Lied von Eminem, “Where the hell’s Kanye when you need him”, und von dem ich mitbekommen habe, dass er wohl ziemlich erfolgreich und berühmt ist, von dem ich aber keine einzige Line wiedergeben könnte, geschweige denn einen anderen Liedtitel als eben Jesus Walks. Und am Rande meiner popkulturellen Wahrnehmung habe ich mitbekommen, dass Kanye wohl in die Kritik geraten sei aufgrund von antisemitischen Aussagen, aber in einem Joe Rogan Experience Video mit Eric Weinstein erklärt dieser, selbst Jude und wohl mit Kanye befreundet, Kanye werde missverstanden. Er habe mit “I love Adolf Hitler” ausdrücken wollen, dass man als Christ alle Menschen liebe(n müsse), gerade auch die Feinde, was ich durchaus in sich logisch finde, nur dass Christen und auch andere Menschen selten besonders logisch sind. Ich könnte nun diese Vorfälle recherchieren, aber zugegebenermaßen interessieren sie mich dafür nicht genug.
Stellen wir uns stattdessen vor, Cornel West hätte zunächst die Cornell University besucht und dann seine Ausbildung an West Point abgeschlossen. Das wäre mal gruselig. Nomen est Omen.
Zu Deutsch sprechen wir schlicht von der Grabeskirche. Sie soll heute an dem Ort in Jerusalem stehen, wo Christus vor 2000 Jahren gekreuzigt wurde, also, so nehme ich an, Golgatha. Die Orthodoxen, die in allem mehr Stil haben, nennen sie Auferstehungskirche. Und Auferstehung heißt auch der letzte Roman von Tolstoi, den ich mal lesen wollte, aber nie dazu gekommen bin. Bisher, versteht sich.
Ich habe allerdings ziemlich viel über Heidegger bei Richard Rorty und später Giorgio Agamben gelesen, und eine Biographie über Adorno (die ihn mir dann auch eher unsympathisch machte, weil sie als Kernthese zu seinem Leben behauptete, es sei ihm nicht gelungen, seinen kindlichen Marxismus der Jugendjahre zu überwinden, und sein ganzes Werk sei dadurch negativ beeinflusst.) Daraufhin verschenkte ich die Ästhetische Theorie und die Minima Moralia an einen interessierten Freund und blickte nicht zurück.
Ich las das Buch als Jugendlicher übrigens, weil ein Freund von mir es in der Schule hatte lesen müssen und aber äußerst beeindruckt von der Lektüre war. Selbiger Freund kaufte sich folgerichtig später selbst ebenfalls die Kritik der reinen Vernunft, allerdings in der etwas edleren Meiner-Ausgabe, verzweifelte ebenfalls daran, zerriss sie eines Nachts im Suff aus Wut oder Theatralik, und warf die Reste aus dem Fenster.
Es scheint mir auf jeden Fall seine Vorteile zu haben, wenn man aus rein biografischen Gründen bereits nicht besonders stark in eine Gruppe eingebunden ist, insofern weiß ich nicht, ob dieser Punkt Geuss’ verallgemeinerbar ist. Es wäre ja auch möglich gewesen, dass er an seiner katholischen Schule dermaßen indoktriniert worden wäre, dass er des klaren Denkens nicht mehr fähig gewesen wäre. Was Geuss davor gerettet hat, war wohl zumindest zum Teil, dass er eher zufällig in diese Schule gestolpert ist und nicht bereits aus einem stark katholischen Elternhaus kam.
Ich selbst habe meine erste autobiographisch-philosophische Schrift “Suche nach Wurzeln” genannt, weil es mir darin auch darum ging, ein Verhältnis zu Deutschland zu finden. Als Deutscher in Australien geboren und seit ich drei Jahre alt war in Belgien aufgewachsen, weiter dort wohnend, aber dann seit der 5. Klasse wiederum in Deutschland zur Schule gehend, konnte ich nie eine rasche Antwort auf die Frage: Woher kommst du? geben. It’s complicated, aber eigentlich auch egal. Für die Deutschen war ich der Belgier, für die Belgier der Deutsche, und für viele auch der Australier. Ich fühle mich zutiefst mit der deutschen Sprache verbunden, aber auch mit der Englischen. Meine Sehnsuchtsorte liegen aber in Italien und Griechenland. Es zieht mich nicht wirklich in die Ferne, insofern bin ich vielleicht Europäer. Bolaño, Exil-Chilene seit dem CIA-unterstützen Militärputsch 1973, machte einmal die etwas kitschige Bemerkung, dass seine Kinder seine Heimat sind. Das stimmt auch. Meine geistige Heimat sind wohl auch die Bücher und Autoren, die mich bis ins Mark geprägt haben: Leonard Cohen, Allen Ginsberg, Gary Snyder, Jorge Luis Borges, Roberto Bolaño, Samuel Beckett, Philip Larkin, T. S. Eliot, Richard Rorty, Rudolf Steiner, Heinz Grill, Ivan Illich, Giorgio Agamben, Mattias Desmet, Iain McGilchrist, und, als Kind, Tonke Dragt und Michael Ende, sowie Hal Foster. Wahrscheinlich habe ich den einen oder anderen Namen vergessen, aber so ist das eben.
Allerdings empfiehlt ihn, Geuss, der Katholik Alasdair MacIntyre, über den ich auch gerade viel nachdenke und ein wenig schreibe: “No one among contemporary moral and political philosophers writes better essays than Raymond Geuss. His prose is crisp, elegant, and lucid. His arguments are to the point. And, by inviting us to reconsider what we have hitherto taken for granted, he puts in question not just this or that particular philosophical thesis, but some of the larger projects in which we are engaged. Often enough Geuss does this with remarkable economy, provoking us into first making his questions our own and then discovering how difficult it is to answer them.” (Quelle)
Ich finde die Formulierung faszinierend, und sie wird umso faszinierender, je länger ich sie auf mich wirken lasse. Ein fast zielloser Spaziergang ist, genau betrachtet, kein zielloser Spaziergang, hat mithin eben doch ein Ziel, und man könnte vermuten, dass dieses fast ein wenig geschauspielert ist: ein Spaziergang, der so tut, als wisse er nicht, wohin, um vielleicht gerade dadurch doch weiter zu kommen, als wenn er wüsste, wohin er will. »Verschlungen von der unendlichen Weite der Räume, von denen ich nichts weiß und die von mir nichts wissen, erschaudere ich«, schreibt Blaise Pascal im 17. Jahrhundert.
Beckett selbst kommentiert schon früh in seinem Werk (in den Three Dialogues) sein eigenes Schaffen, obwohl er vorgibt, über Maler zu sprechen: “There are many ways in which the thing I am trying in vain to say may be tried in vain to be said.” In diesem Zusammenhang spricht Beckett auch von der “obligation to express”, obwohl es nichts auszudrücken gäbe, auch keine Mittel, es auszudrücken, und, jedenfalls seinerseits, keinen Wunsch.
Denken wir hier auch an das unheimliche Spätwerk Company, das mit der fast optimistischen Zeilen beginnt: “A voice comes to one in the dark. Imagine.” Und dann aber mit dem nihilistisch-resoluten Ende aufwartet: “The fable of one with you in the dark. The fable of one fabling of one with you in the dark. And how better in the end labour lost and silence. And you as you always were. / Alone.”
Ich frage mich häufiger, was die karmischen Zusammenhänge hinter Samuel Becketts Leben und Werk sind. Vielleicht werde ich es eines Tages herausfinden.
Ich habe in einem frühen Artikel die These aufgestellt, dass der Nihilismus eine Position ist, durch die wir alle früher oder später mindestens einmal durchmüssen, und der unser Denken befällt, unsere Gefühle verstümmelt und unseren Willen lähmt; und dass dann der Impuls kommen wird, wenn wir ihn uns erringen — und die Kraft, ihn zu erringen, kommt vermutlich von so etwas wie Engeln an uns herangetragen, wenn wir lernen, mit den Herzen zu denken, aber das ist rein spekulativ gesprochen — den Nihilismus in uns und in der Menschheit zu besiegen. Ich bin Beckett jedenfalls sehr dankbar, dass er das alles aufgeschrieben hat, und dass er das Leiden und das Begehren ertragen hat, bis zum Ende.
Auch dieses Aushalten oder Flüchten scheint mir eine falsche Dichotomie zu sein, denn produktiver ist es, schlicht die Prämisse der Sinnlosigkeit zu leugnen, durch einen Sinnhaftigkeitsüberschwung zu ersetzen, wie ihn beispielsweise Rudolf Steiner in grandioser Weise ausgearbeitet hat.
Ich setze im Haupttext das “flüchten” in Anführungszeichen, weil es einen pejorativen Beigeschmack hat, aber ohne diesen wäre es eigentlich eine korrekte Formulierung. Eliot glaubte, dass man die Gegenwart (die Turbulenzen und den Nihilismus des 20. Jahrhunderts) nur durch die intensivste Auseinandersetzung mit der Vergangenheit begreifen könne.
Die Frage, wann Flucht angemessen ist, und wann man stattdessen “seinen Mann stehen” sollte, scheint mir wichtig. Im 2. Kapitel der Bhagavad Gita wird genau diese Frage thematisiert: Arjuna will nicht kämpfen, weil ihn Verzagtheit übermannt, und Krishna ruft ihn zur Ordnung, denn “Wirst du erschlagen, wirst du den Himmel gewinnen. Bist du aber siegreich, wirst du die Erde genießen. Darum steh auf, o Sohn der Kunti, zum Kampf entschlossen! Lass Kummer und Glück, Verlust und Gewinn, Sieg und Niederlage gleich viel für deine Seele sein und stürze dich in die Schlacht! So wirst du keine Sünde auf dich laden.” (Verse 37f.)
Wir dürfen natürlich nicht den Fehler begehen, diese Sätze Krishnas plump utilitaristisch und profan zu deuten, im Sinne von einer win-win Situation. Auch sind diese Sätze nicht auf eine irdische Schlacht zu übertragen, sondern auf den Kampf im inneren der Seele. Sri Aurobindo, dessen Übersetzung der Gita ich hier genutzt habe, kommentiert die Situation des Schlachtfelds (kurukshetra) zu Beginn der Gita ausführlich in seinen Essays on the Gita.
An anderer Stelle habe ich bereits angedeutet, wie es zu meiner Bekanntschaft mit diesem Poem kam. Hier möchte ich ergänzen, dass dieses Gedicht zunächst das einzige von T. S. Eliot war, mit dem ich etwas anfangen konnte, und dass ich The Waste Land erst durch die äußerst geistreichen Kommentare von Harold Bloom langsam zu verstehen beginnen konnte. Die Four Quartets besiegen mich noch heute regelmäßig, aber nach und nach werden immer größere Anteile der Gedichte doch zugänglich.
Lohnt sich die wiederholte, tiefgehende, grundlegende, ausführliche und beharrliche Beschäftigung mit einem solch schwer zugänglichen Gedicht? Ich denke, dass dem so ist, vor allem auch für junge Menschen, denn wiederholt, tiefgehend, grundlegend, ausführlich und beharrlich an einer Sache zu arbeiten, die man nicht versteht, ist die einzige Möglichkeit, uns etwas wirklich anzueignen. In diesem Sinne hätte ich mich vielleicht doch auch durch Heidegger und Adorno durchquälen sollen (siehe Fußnote 7), wie ich mich durch Beckett und Eliot gequält habe, aber man kann nicht alles vollenden.
Und zum Stichwort “sich quälen” fällt mir jetzt spontan das Ende von Martin Walsers Mein Jenseits ein — (ein Buch, in dem Walser sich ebenfalls mit der modernen Situation des Nexus von Glauben und Wissen, oder wie Habermas es ausdrückt, “Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen” poetisch befasst:
“Die Wörter seien inzwischen in Schulen gegangen, in denen das Glaubenkönnen abgeschafft worden ist. Aber Glauben und Unglauben seien kein Gegensatz, sondern ein Vorgang, eine Bewegung, die nicht aufhören dürfe.Das unaufhörliche Hin und Her zwischen Glaubenwollen und Nichtglaubenkönnen verantwortet der, in dem es passiert.” (S. 58) —
„Ich will Ihnen etwas sagen, was Sie begreifen. Gott. Ja? Gäbe es Gott, könnten wir nicht von ihm sprechen. Dann gäbe es das Wort nicht. Das Wort gibt es, weil es ihn nicht gibt. Ja? / Andererseits. / Hören Sie, bitte, genau zu. / Wenn es Gott nicht gäbe, könnte man nicht sagen, dass es ihn nicht gibt. Wer sagt, es gebe ihn nicht, hat dochschon von ihm gesprochen. Eine Verneinung vermag nichts gegen ein Hauptwort.” (S. 112).)
Jedenfalls das nun das Ende dieses kurzen Büchleins:
“Du kommst dem Unerklärlichen nicht näher. Durch nichts. Das Unerklärliche bleibt verschlossen. Es macht dir auch kein bisschen Hoffnung. Trotzdem hoffst du ununterbrochen, dass du erfährst, was du erfahren musst. Du könntest, wenn das Unerklärliche so unerklärlich bliebe, wie es jetzt ist, nicht leben. Mit dem Unerklärlichen kann man nur leben, weil man auf die Erklärung hofft.
Als der Gefolterte sagte: Ich will nicht mehr, lachten die Folterer. Nicht alle lachten. Einige machten Gesichter, als machten sie sich Gedanken. Es war noch nie so wichtig, sagten die, die sich Gedanken machten, dass wir den Kontakt mit dem, den wir foltern, nicht verlieren. Er war sofort bereit, sich weiter foltern zu lassen. Lustig war das nicht, aber er wollte es auf sich nehmen. Als sie wieder anfingen, schon als sie die Geräte ansetzten, sagte er sofort: Ich will nicht mehr. Ach so, sagten die, dann brechen wir ab. Nein, schrie der Gefolterte, bitte nicht!
Mein Gott, sagten jetzt alle, die um ihn herumstanden, du bist wirklich ein Luxustyp.“ (118f)
Diese Zitate und das Büchlein von Walser verdienten eigentlich eine ausführliche Betrachtung, die ich im Moment jedenfalls aber nicht unterbringen kann. Vielleicht, so Gott will, wie man so schön sagt, werde ich eines schönen Tages darauf zurückkommen.
Für den Moment sei mir die Anmerkung gestattet, dass ich diese Zeilen unglaublich mächtig und schön finde, obwohl oder vielleicht sogar weil ich vermute, dass Walser, bzw. sein “lyrisches Ich”, sich irrt: Wir kommen dem Unerklärlichen näher, und es macht uns immense Hoffnung. Große Wahrheiten zeichnen sich laut Egon Friedell dadurch aus, dass ihr Gegenteil auch wahr sei.
Man kann den von mir kürzlich empfohlenen Film A Serious Man auch als moderne Interpretation dieses Materials aus dem alten Testament ansehen.
Man könnte die moderne Ablehnung des telos dahingehend als eine Art Angst interpretieren (eine Angst vor dem Geistigen!), im Existenzialismus französischer façon beispielsweise, an den Herausforderungen zu scheitern, die mit der Akzeptanz eines telos einhergingen. Denken wir auch an Kierkegaards Bemerkung, dass der Christ etwas viel Schlimmeres zu fürchten hat, als den Tod, den zweiten Tod nämlich, den geistig-seelischen, oder anders formuliert, die Ferne von Gott, die sich eines Tages als unüberwindbar herausstellen könnte.
Ich meine mich zu erinnern, dass man mir von Franz von Assisi annekdotisch erzählte, dass es ihm wichtig gewesen sei, von seinen Brüdern als der Schlechteste von allen angesehen zu werden, obwohl sie das genaue Gegenteil davon taten, ihn als den Besten anzusehen. Man könnte dies dahingehend interpretieren, dass wir, je klarer wir sehen, desto klarer sehen wir den Abgrund, der zwischen uns und der Vollkommenheit gähnt, die wir erstreben — wenn wir sie denn erstreben.
Hier liegt eine gewisse Parallele in der Formulierung zum Dankbarkeitsgebet der Anonymen Alkoholiker. Man könnte vielleicht sagen, dass wir als Menschen süchtig nach unseren Bindungen und unserer Verhaftung im Sinnlichen sind, und dass wir wie der Alkoholiker damit leben müssen, dass dieses Begehren uns erhalten bleibt und niemals gänzlich überwunden ist, was uns aber keine Ausrede sein darf, diesem Begehren nachzugeben.
Weniger mächtig, aber dennoch sehr schön scheint mir dieser Gedanke auch im Gedicht Ithaka des griechischen Dichters Konstantinos Kavafis ausgedrückt. (Auf dessen Gedicht Warten auf die Barbaren sich, nebenbei bemerkt Alasdair MacIntyre am Ende seines After Virue bezog, Zufälle gibt es…):
Stets halte Ithaka im Sinn.
Dort anzukommen ist dir vorbestimmt.
Jedoch beeile deine Reise nicht.
Besser ist, sie dauere viele Jahre;
und alt geworden lege auf der Insel an,
nun reich an dem, was du auf deiner Fahrt gewannst,
und ohne zu erwarten, dass Ithaka dir Reichtum gäbe.
Ithaka gab dir die schöne Reise.
Du wärest ohne es nicht auf die Fahrt gegangen.
Nun hat es dir nicht mehr zu geben.
Auch wenn es sich dir ärmlich zeigt, Ithaka betrog dich nicht.
So weise, wie du wurdest, und in solchem Maß erfahren,
wirst du ohnedies verstanden haben,
was die Ithakas bedeuten.
Dieses Gedicht hörte ich als Jugendlicher auf dem Hörbuch von Paulo Coelhos Der Zahir, wenn ich mich recht erinnere, der dieses Gedicht als Motto wählte. Wenn man das Kitschige an diesem Buch ignoriert, ist der Rest eigentlich eine sehr schöne Meditation über das Leben und die Liebe. (Und dieses Buch hat mich jedenfalls in einem Maße beeinflusst, das ich nicht zu überblicken vermag.)
I’m looking for the face I had / Before the world was made; siehe Fußnote 3. Wenn wir das Verstreichen der Zeit (l’ore) vierdimensional miteinbeziehen, dann ist die Rückkehr an den Ort des Ausgangs keine Kreis-, sondern eine Spiralbewegung.
hat kürzlich zu dieser Form eine kleine Übung veröffentlicht, die ich sehr empfehlen kann.Dieser Artikel könnte im weiteren Sinne auch als beginnende Auseinandersetzung mit den Artikeln Ist die liberale Ordnung neutral? von
und die Replik von verstanden werden. Aus einer anderen Perspektive könnte man ihn auch als vierten Teil der Werke & Tage Artikelreihe ansehen. Zudem stellt er ein Mosiksteinchen in meinem Forschungsprojekt 2025 dar, das ich aber noch nicht eingebaut habe.
Hoch interessant. Auf dem Handy leider (!) nicht zu bewältigen. Also hab ich zuerst den Text gelesen, dann alle Fußnoten am Stück. Lustig, und einen speziellen Blickwinkel öffnend, quasi aus den Seitenkulissen auf die Bühne, näher an den Schauspielern, aber die Gesamtwahrnehmung doch gelegentlich vermissend. Könntest du die Fußnoten, um den an sich geneigten Leser nicht in Kopfnot zu bringen, in den Text einbauen? Mit einem Layout-trick?
Wenigstens bist du also in bester und illustrer Gesellschaft, wenn ich dir, ohne das Ganze wirklich verstanden zu haben und somit würdigen zu können, in Anlehnung an den Vorwurf, wie ihn Mozart hören musste (wie hieß nochmal der Banause? Fürst ...?), er hätte "zu viele Noten" in seine Partitur gepackt, in einer Mischung von Verzweiflung und Erheiterung zurufe: "Zu viele Fußnoten, lieber Conrad!"