Hin und wieder durchzuckt es einen wie ein Blitz!
Vom richtigen Moment, dem kairos, ein Buch zu entdecken: Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart. Eine Begeisterung.
“Heute, in der ausgehenden perspektivischen Epoche, ist neben der Raumbesessenheit, die sich selbst schon ad absurdum zu führen beginnt, die Zeitangst das hervorstechendste Merkmal. Sie äußert sich vielfältig” (Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart, Erster Teil, S. 95f.)
So beginnen zwei äußerst luzide Seiten Jean Gebsers zum Thema Zeit, verflochten mit dem Thema Raum und Perspektive, kulminierend im Bild eines Pfeils auf der “überspannten Bogensehne”, die wir nutzen könnten, um das zu “gewinnen, was wir, auch seines befreienden Charakters wegen, die aperspektivische Welt nennen.”
Kann Conrad jetzt schlafen? Conrad kann nicht schlafen. (Was eine Anspielung auf die Geschichte über “Die Zähne des Gojs” aus dem meiner Ansicht nach besten Film der Coen-Brüder, A Serious Man, ist.)
Jean Gebser (wie spricht man den eigentlich aus? Französisch? Deutsch? Beides?) spricht von einer “Zeitsucht”, Zeit gilt es zu gewinnen, um mehr zu tun oder sie totzuschlagen; von der Zeithaptifizierung, die sich in den Glockenschlägen der Kirchtürme zur Stundenverkündigung anbahnt und im Spruch endet “Zeit ist Geld”.
Zeit muss ausgefüllt werden, wie ein leerer Eimer. Und dann fliehen wir aber vor der Zeit: “in der Hast, und im Eilen und dem ‘Nicht-Zeit-Haben’ des heutigen Menschen.” Ich kenne wahrlich viele Menschen, die dieses Nicht-Zeit-Haben leben.
Der vor der Zeit Fliehende findet aber keinen “Ausweg”, denn der Weg ist räumlich, das Räumliche hilft ihm nicht, und der Raum ist zudem verstellt und entstellt, und segmentiert, das perspektivische Sehen der Neuzeit engt den Raum im gleichen Maße ein, wie es ihn erst entdeckt.
Und Jean, mein guter neuer Freund, bemerkt, 1949 (!):
“Diese Situation brachte mit den Jahrhunderten, in denen sie sich allmählich herausbildete, jenes Stigma unserer Zeitepoche mit sich, das außer den aufgezählten das verderblichste ist: die heute allgemein herrschende Intoleranz und der aus ihr resultierende Fanatismus.” (S. 96)
Angst macht intolerant. Und benebelt die Sinne. Die Verwirrung äußert sich in der Segmentierung von allem:
die Religionen spalten sich in Konfessionen,
die Nationalstaaten spalten das christliche Abendland,
die Parteien spalten das Volk,
die Fachwissenschaften das Wissen, sodass wir von “Spitzen-Leistungen” von “Scheuklappenmenschen” sprechen müssten.
Heute könnten wir einige Spaltungen hinzufügen, im Menschen selbst, zum Beispiel in die digitale und die analoge Existenz, oder in den Arbeitenden und den Faulenzenden (Erich Fromm), den sich selbst Überwachenden und den Überwachten, den zu optimierenden und den Optimierer… Die Spaltungen sind leider sehr weit fortgeschritten.
“Aber ein Zurück gibt es nicht mehr: die re-ligio, die Rückbindung, ist fast zerrissen, der ‘Schnitt der Sehpyramide’ hat sie gewissermaßen zerschnitten. Und ein bloßes Vorwärts und Weiter (das schon Fluchtcharakter angenommen hat) führt nur in weitere sektorhafte Detaillierung, letztlich zur Atomisierung. Was denn übrigbleibt, ist (wie im Trichter Hiroshimas) — amorpher Staub. Wahrscheinlich wird ein Teil der Menschheit — zumindest ‘geistig’, sprich: ‘seelisch’ — diesen Weg gehen.” (S. 97)
Jean bietet uns schon vor 75 Jahren das Vokabular, um ganz exakt unsere eigene Zeit, den Beginn des 21. Jahrhunderts zu verstehen und vor allem auch in Worte zu fassen.
Die Ähnlichkeiten zu Mattias Desmet und seiner Theorie der Massenbildung sind vielleicht nicht ganz so frappierend, wenn wir bedenken, dass Desmet sich stark auf Hannah Arendt bezieht, die ebenfalls um diese Zeit herum ihre Totalitarismus-Theorie entwickelte.
Aber dennoch: ich lese und staune. Platons anamnesis.
Ich erinnere mich an Patti Smiths Beschreibung ihres Erlebnisses, als sie Roberto Bolaños 2666 las (und warum muss er ausgerechnet dieses beknackte ñ im Namen haben, von dem ich noch immer nicht weiß, wie ich es auf meiner Tastatur schreiben kann, weshalb ich es jedesmal, wenn ich den Namen schreiben will, aus dem Internet kopiere…):
“I have felt it in whole passages of 2666. A familiarity zooming like a mischievous lizard and circling in my black and scalding coffee that I have downed not throat damaged at all.”
Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart, die ganze Gestalt der Neuzeit vor meinem inneren Auge, d.h. noch nicht, aber im Möglichkeitssinn, aber aus einer neuen, frischen, unbekannten Perspektive, die mich in meine eigene und die allgemeine Zukunft zieht.
“Dieses Werk wurde 1932 konzipiert. Jede Konzeption ist aber eine persönliche Sicht, die nur einen persönlichen Evidenz-Charakter hat, nur für den einzelnen gültig ist.” (S. 64)
Das ist wahr. Wie wahr, wie wahr, um den Verkäufer aus Sven Nordqvists Morgen, Findus, wird’s was geben zu zitieren. (Was wir als Hörbuch letztes Jahr ein halbes Jahr lang nach Weihnachten noch täglich hören mussten, weil die Kinder es so wollten.)
(Jetzt habe ich geschaut, wie viele Wörter dieser Artikel schon hat, und es waren genau 666… also lieber weiter im Text, aber das Ende naht.)
Er habe, so Gebser, siebzehn Jahre gebraucht, um die Evidenzen zusammenzutragen, um somit der “sittlichen Forderung” zu entsprechen,
“an Stelle eines postulierenden Monologs das darlegende Gespräch zu setzen, also nicht die subjektive Ansicht von der Richtigkeit einer Grundidee vorzutragen, sondern die wahrscheinlich auch objektive Richtigkeit dieser Grundidee mitzuteilen.” (S. 64)
Was ein Vorgehen ist, das zu Beginn des 21. Jahrhunderts etwas in Vergessenheit geraten zu sein scheint, wenn diese spitze Bemerkung nicht allzu vermessen ist.
Ich bin verliebt, in diesen Autoren und sein Werk, dessen objektive Richtigkeit mitzuteilen sein Anliegen war, wodurch er die Spannkraft aufbrachte, gut 20 Jahre daran zu arbeiten.
20 Jahre arbeite ich jetzt an meiner Bildung. Und nun begegnet mir dieses Buch. Dies ist der richtige Moment, der kairos, es zu lesen, zu studieren, zu ergründen, und mir dabei vorzustellen, der Autor, der seit einem halben Jahrhundert zu den Verstorbenen zählt, werfe mir dabei stille Blicke zu.
Was, so mag man fragen, will Jean Gebser von uns heute?
Nun bin ich aber doch gespannt, wie der Flitzebogen im Bild des Autors, was es mit dieser eingangs erwähnten aperspektivischen Welt auf sich hat.
Kann Conrad schlafen? Conrad kann nicht schlafen.
Conrad muss weiterlesen. Tut es ebenso, wie es — auf meine andere derzeitige Lektüre, Alasdair MacIntyres After Virtue anspielend — der Emotivist als Interpretation seines moralischen Appels anbietet.
Man besorge sich dieses Buch. Man nehme sich nötigenfalls Urlaub. Man lese es. Man danke mir später.
Ich jedenfalls danke
für die Empfehlung. Wer nicht lesen kann oder will — und gerade fällt mir die Augustinus-Anekdote ein: Nimm es und lies :) — dem sei der erwähnte Film empfohlen: A Serious Man. Grandios.(Dieser Text begann als Note und wurde dann zu lang und zu kompliziert. Er folgt ausnahmsweise dem Prinzip der Beat Generation: First thought, best thought, ohne Überarbeitung, und ist insofern nicht repräsentativ für mein Schaffen, wohl aber für mein Denken.)