Am Alten anknüpfen, das Neue wagen
Alasdair MacIntyre - Der Verlust der Tugend / After Virtue - Kapitel 1: Ein beunruhigendes Gedankenexperiment
Dieser (vergleichsweise) kurze Text entstand spontan in Folge (oder richtiger: zu Beginn) eines Leseprojektes, das ich zusammen mit
zu Alasdair MacIntyres Der Verlust der Tugend initiiert habe, und von dem wir dessen Natur nach nicht wissen, wohin es uns führen mag. Schließt Euch der Lektüre gerne an :)
Die Hunnen, Augustin und Platon
In der dritten Geschichte seiner Sammlung Das Aleph von 1949, “Die Theologen”, beginnt Jorge Luis Borges seinen (sehr lesenswerten) Bericht über das Ringen zweier Theologen miteinander mit einer Szene aus dem Hunnensturm. In ihrem Wüten hätten diese Eindringlinge die Bücher einer Klosterbibliothek zerstört, doch das 12. Kapitel der Civitas Dei (Augustinus’ Gottesstaat) habe den Brand fast unbeschadet überstanden. In diesem sei geschildert, “dass Platon in Athen lehrte, am Ende der Jahrhunderte würden alle Dinge zu ihrem früheren Zustand zurückkehren und er in Athen vor derselben Zuhörerschaft abermals diese Lehre vortragen.”
In “dieser entlegenen Provinz” vergaßen die Menschen im Laufe der Jahre, dass Augustin Platons Lehre nur dargelegt hatte, um sie zu widerlegen. Denn das Relikt des religiösen Buches “genoss besondere Verehrung.” Und so sei eine christliche Sekte entstanden, die monotonoi, die Platons Lehre aufgriff, als habe Augustin sie gelehrt, dass die Zeit ein Zirkel sei nämlich, symbolisiert durch das Rad und die Schlange.
Der Verlust des Verständnisses
Es ist nachvollziehbar, wie eine Lehre oder eine Praxis, wenn sie nur noch in Fragmenten überliefert wird, oder über ein paar Generationen ganz in Vergessenheit gerät und dann wiederentdeckt wird, vollkommen missverstanden werden könnte. Man kann sich ausmalen, wie kommende Archälologen, wenn sie in ein paar Jahrtausenden unsere Überreste ausgrüben, allerlei faszinierende Theorien darüber aufstellen könnten, was es mit all unseren Gebrauchsgegenständen und Begrifflichkeiten auf sich haben mag, und ihre Ideen davon, wie wir gewesen sein mögen, also ihre Vorannahmen, werden diese Theorien maßgeblich beeinflussen.1
So wie wir dazu tendieren, alles Alte als rituell-religiös auszudeuten, auch da, wo es womöglich nicht korrekt ist. Oder wie die “Wiederentdeckung” der Antike zu Beginn der Neuzeit (mit der Renaissance und später dem Klassizismus) stark von Projektionen des eigenen Gefühlslebens in die Alten und von schlichten Missverständnissen begleitet waren.2 So kann auch Aberglaube entstehen: Eine ursprünglich sinnvolle Handlung wird immer weiter betrieben, obwohl in Vergessenheit geraten ist, welchen Sinn sie hatte. (Ich vermute, dass wir in unserem bürokratischen Gesellschaftsmodell sehr viel Aberglauben integriert haben.)
Der Verlust der Tugend
Alasdair MacIntyre vertritt nun in seinem Buch Der Verlust der Tugend (After Virtue, 1981) die These, dass so etwas in dieser Art auch mit unserem moralischen Diskurs geschehen ist:
“Wir besitzen in Wahrheit nur Scheinbilder der Moral, und wir gebrauchen weiterhin viele ihrer Schlüsselbegriffe. Aber wir haben zu einem großen Teil, wenn nicht sogar völlig, unser Verständnis, theoretisch wie praktisch, oder unsere Moral verloren.” (S. 15)
Er selbst nutzt zur Plausibilierung dieses Szenarios das Gedankenexperiment einer Welt, in der die Naturwissenschaften ausgerottet würden — vielleicht als zu gefährlich für das Überleben der Menschheit — und Jahrhunderte später die Menschen versuchen würden, anhand von Fragmenten die ursprüngliche naturwissenschaftliche Praxis wieder zu beleben, ohne aber ein tieferes Verständnis dieser Praxis noch zu besitzen.
Kuhn, Foucault, und die Eseleien der Menschheit
Wir könnten mit Thomas Kuhn vermuten, dass so etwas im Kleinen eigentlich auch ständig passiert, ohne dass wir es merken. Wir wechseln von einer Art, über bestimmte Dinge zu sprechen, in eine andere Art. Diese sind unvereinbar miteinander: inkommensurabel. Oder wir könnten an Michel Foucaults Untersuchungen darüber denken, wie Die Ordnung der Dinge von Epoche zu Epoche anderen Strukturierungen folgen kann, ohne fließende Übergänge, sondern voller Brüche.
Wir könnten vermuten, dass so etwas in religiösen Diskursen ebenfalls Gang und Gäbe ist. Dass die ursprüngliche Botschaft im Laufe der Jahrhunderte in Vergessenheit gerät, während sich Dogmen aufeinander türmen, die, wenn man sie neben die ursprünglichen Schriften legt, wenig gemeinsam habe. (Wenn man bspw. die Praxis der Inquisition in der Frühen Neuzeit mit den Evangelien vergleicht, wird man sich fragen, ob diese Inquisitoren sich nicht doch eigentlich als Feinde Christi empfinden mussten, wenn sie die Evangelien lasen.)
Durch all diese Beispiele befeuert, scheint mir MacInytres These kein bisschen unplausibel. Ja, wenn man lange genug darüber nachdenkt, wäre das Gegenteil fast überraschender, dass sich nämlich eine Praxis über die Jahrtausende erhält, ohne korrumpiert zu werden. Deswegen benötigt jede Praxis, jeder Beruf, jede Religion, jeder Diskurs regelmäßige Erneuerung, um nicht in irrigen Dogmen zu erstarren. Und die Erneuerung muss aber — das ist vielleicht etwas paradox — nicht radikal mit dem Alten brechen, sondern das Aktuelle durch Wiederanknüpfung an das Alte, bei gleichzeitigem Weiterdenken des Neuen für die Zukunft, überwinden — das vermute ich zumindest ganz stark.3
Wo finden wir die Belege?
MacIntyre schreibt aber für ein Publikum und eine Zeit, in der seine These äußert verwirrend, unverständlich, vielleicht sogar verrückt wirken musste. Und darum schlägt er einen weiten Bogen, um sie zu plausibilisieren:
Er hält fest, dass weder die Praxis der analytischen Philosophie, noch der Existentialismus oder die Phänomenologie eine solche Verirrung des moralischen Diskurses überhaupt nur zu bemerken in der Lage wären.
Stattdessen müsste man die Geschichte dieses Diskurses dazu befragen, ob man sie in die drei Phasen einteilen könne:
unversehrter moralischer Diskurs
Katastrophe
fragmentarischer pseudo-moralischer Diskurs
Unsere moderne Geschichtsschreibung sei aber “noch keine zweihundert Jahre alt.” Wenn sich die besagte Katastrophe vor diesen 200 Jahren ereignet habe, sei diese Geschichtsschreibung dafür womöglich ähnlich blind, wie die moderne Philosophie.
Da wir bereits wissen, dass MacInytre an die aristotelisch-thomasische Tugendethik anknüpfen will, dürfen wir vermuten, dass seine Katastrophe irgendwo zwischen Thomas von Aquins Wirken im 13. Jahrhundert und den modernen ethischen Ansätzen von Kant, Bentham, und ihren Epigonen im 18. Jahrhundert liegen muss.
MacIntyre glaubt, an Hegel und Collingwood anknüpfend, in ihrer “Art von Philosophie und Geschichte … Belege zu finden” für seine These von einer Katastrophe, die nicht bemerkt wurde, oder die in Vergessenheit geraten ist.4
Wir dürfen gespannt sein, was MacIntyre im Laufe seiner Analyse liefert. Leider widmet er sich in den nächsten Kapiteln aber erst einmal dem zu seiner Zeit aktuellen moralischen Diskurs, um die aktuelle Situation in ihrer Hilflosigkeit und Subjektivität zu analysieren. Ein wichtiger Schritt, der unsere Neugierde aber nicht unmittelbar befriedigt. Doch unseren Willen, es zu erfahren, zurückzuhalten, und uns auf seinen Gedankengang, wie er ihn gegeben hat, einzulassen, ist vielleicht eine gute Möglichkeit, uns in Zurückhaltung zu schulen.
Robert Anton Wilson liefert in seiner Schrödingers Katze - Trilogie ein amüsantes Beispiel hierfür: “*Terran Archives 2803: New York was a city-state or island in the midwestem part of the Unistat. It seems to have been a center of religious worship, and many came there to walk about, probably in deep meditation, within an enormous female statue, the goddess of these primitives. Various authorities identify this divinity as Columbia, Marilyn Monroe, Liberty, or Mother Fucker — all of these being names widely recorded in Unistat glyphs: Perhaps her true name will never be known.”
Als Beispiel seien die weißen Marmorstatuen angeführt, die man gefunden und für ihre erhabene Wirkung gerühmt hat. Wahrscheinlich haben die alten Griechen ihre Statuen aber angemalt und auch parfümiert.
Beispiele hierfür wären, mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg, Mahatma Ghandi, Ivan Illich, und Rudolf Steiner. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Ein imposantes Gegenbeispiel, dass radikale Revolution, die alles Alte tilgen will, nicht funktioniert, ist die Französische Revolution. Natürlich auch die Experimente zum Ganz Neuen Menschen in den Gräuel-Regimen des 20. Jahrhunderts.
Man könnte vermuten, dass die “Krisis der europäischen Seele” in der Neuzeit (Egon Friedell) das nicht immer vollbewusste Bemerken dieses Verlustes ist, und dass die Katastrophe mit dem Hyperrationalismus der Neuzeit in Zusammenhang steht, die ich in meinen anderen Veröffentlichungen immer wieder mal thematisiert habe.
Ich habe das Kapitel jetzt auch gelesen und war froh, als Nicht-Philosophin folgen zu können (bis auf das Namedropping, Collingwood who?).
Du weist in deinem Text auf einen interessanten Punkt hin: korrumpieren vs. weiterentwickeln einer Praxis. Wie entscheiden wir, ob wir eine Veränderung als ersteres oder letzteres bewerten? Messen wir mit den Maßsstäben derer, die die Praxis etabiliert haben, ähnliche wie MacIntyre in seinem Gedankenexperiment zum Aussterben der Naturwissenschaften? Haben die Menschen in der Revival-Phase des Gedankenexperiments nur das Ziel, wieder klassische Naturwissenschaft zu betreiben? Dann wäre es korrumpierend oder zumindest unvollständig. Oder haben sie noch andere Ziele, deren Maßsstäbe wir nicht kennen oder verstehen?
Das erscheint mir unbefriedigend, denn es wurden sicherlich Dinge erfolgreich weiterentwickelt und haben sich dabei von den Maßstäben ihrer Erfinder*innen entfernt (natürlich will mir jetzt kein Beispiel einfallen). Das heißt, scheint mir, es muss noch etwas anderes geben, um die Veränderung zu bewerten.
Ich bin sehr gespannt auf die weitere Reise :)
Ich habe endlich ein bisschen Zeit gehabt, ein paar Artikel von dir zu lesen (bzw. mir anzuhören), sie sind wirklich sehr gut. Mir gefällt, wie du MacIntyre darstellt hast. Ich lese gerade auch sein Buch und sehe viele Verbindungen zwischen seinen Postulaten und dem, was ich schon vermutete, sobald ich anfing, Aristoteles und Thomas von Aquin zu lesen.