Dies ist der zweite Teil einer Artikelserie zu Mattias Desmets Die Psychologie des Totalitarismus. Hier geht es zum ersten Teil.
“Wir müssen die heutige Angst und das psychische Unbehagen als ein Problem an sich betrachten, ein Problem, das sich nicht auf Angst vor einem Virus oder irgendeinem anderen bedrohlichen ‘Objekt’ reduzieren lässt. Die Ursache unserer Angst liegt auf einer völlig anderen Ebene, der Ebene (des Scheiterns) der Großen Erzählung unserer Gesellschaft.”
(Matthias Desmet, Die Psychologie des Totalitarismus, S. 14f., m.H.)
Ursache der Angst ist laut Desmet einerseits schon die große Erzählung selbst, andererseits dann aber auch ihr Scheitern. Das heißt, wir hatten eine Erzählung, die uns sowieso schon nicht gut tat, aber nicht einmal an diese — in letzter Konsequenz nihilistische — Erzählung können wir noch glauben. Entwickeln wir diesen Gedankengang ein wenig.
I. Welche große Erzählung?
Desmet arbeitet begrifflich nicht ganz sauber, so wie er auch nur lapidar zwischen der Erzählung und ihrem Scheitern differenziert. Hier zeigt sich vielleicht, dass er sich als Psychologe und Statistiker fachfremd, sozusagen als gebildeter Laie, in den Bereich der Geisteswissenschaften vorwagt. Was ich in keinster Weise kritisieren will. Wir brauchen mehr fächerübergreifendes Denken — bspw. auch in den Schulen, wo noch immer der nur leicht erweiterte Fächerkanon aus dem 19. Jahrhundert unterrichtet wird, aber dies sei nur am Rande bemerkt.
Da der Vorwurf des Mangels an Professionalität heutzutage aber gerne erhoben wird — meines Erachtens oft, um sich mit unliebsamen Minderheitsmeinungen nicht auseinandersetzen zu müssen —, möchte ich in einem kurzen Exkurs auf ein paar Sätze Egon Friedells eingehen, der zu diesem Vorwurf schon in den 1920er Jahren anlässlich seiner eigenen laienhaften Beschäftigung mit der Kulturgeschichte Stellung bezog.
Exkurs: Egon Friedell: “Der berufene Dilettant”
“Will in Deutschland jemand etwas öffentlich sagen, so entwickelt sich im Publikum sogleich Misstrauen in mehrfacher Richtung: zunächst, ob dieser Mensch überhaupt das Recht habe, mitzureden, ob er ‘kompetent’ sei, sodann, ob seine Darlegungen nicht Widersprüche und Ungereimtheiten enthalten, und schließlich, ob es nicht etwa schon ein anderer vor ihm gesagt habe. Es handelt sich, mit drei Worten, um die Frage des Dilettantismus, der Paradoxie und des Plagiats.” (Kulturgeschichte der Neuzeit, S. 48)
Mit diesen einleitenden Worten macht Friedell sich daran, alle drei Vorwürfe als normativ unberechtigt, wenn auch in der Sache korrekt, zu entkräftigen. Wir besprechen an dieser Stelle nur den ersten Vorwurf des Dilettantismus, werden aber sicherlich in Zukunft Gelegenheit finden, auch die anderen beiden aufzugreifen.
Nur der dilettantischen Beschäftigung mit einer Sache wohne “Lebenskraft” inne, so Friedell, und das liege daran, dass der Dilettant, “der mit Recht auch Liebhaber, Amateur” genannt werde, eine “wirklich menschliche Beziehung” zu seinem Gegenstand eingehe, während der “Fachmann” intellektuell von der Tradition wie auch dem Detailwissen überformt sei und zudem viel zu sehr darauf bedacht, nur ja nichts Falsches von sich zu geben. Deshalb seien Revolutionen in einem Fach meistens von Dilettanten ausgelöst worden. Friedell kann einige aus dem 19. Jahrhundert nennen, darunter Joule, der Bierbrauer, Fraunhofer, der Glasschleifer, und Farraday, der Buchbinder gewesen sei.
“Der Mut, über Zusammenhänge zu reden, die man nicht vollständig kennt, über Tatsachen zu berichten, die man nicht genau beobachtet hat, Vorgänge zu schildern, über die man nichts ganz Zuverlässiges wissen kann, kurz: Dinge zu sagen, von denen sich höchstens beweisen lässt, dass sie falsch sind, dieser Mut ist die Voraussetzung aller Produktivität, vor allem jeder philosophischen und künstlerischen oder auch nur mit Kunst und Philosophie entfernt verwandten.” (S. 49)
Womit Friedell nicht gesagt haben will, dass jeder Dilettant brilliant (bzw. produktiv) sei — dies wäre eine verbreitete Fehlanwendung des modus ponens. Wohl aber, dass Dilettantismus nicht nur nicht ausreicht, um die Ansichten eines Menschen zu entwerten, sondern dass man gerade hier die relevantesten Einsichten zu finden hoffen darf. Seine Argumente sind nicht zwingend — wann sind Argumente das schon? — aber sie sind einleuchtend und können im Hinblick auf den heutigen Zustand des “Expertentums” noch verstärkt werden, wie sich im Laufe der kommenden — selbstverständlich ebenfalls dilettantischen — Betrachtungen immer wieder zeigen wird, und auch bereits in der hiesigen.
[Ende des Exkurses]
Aber zurück zum eigentlichen Thema. Desmet gebraucht im Zusammenhang der (gescheiterten) Großen Erzählung unserer Zeit folgende Formulierungen:
die mechanistisch-materialistische Weltsicht
die Aufklärungstradition
Wissenschaft als Ideologie
Rationalismus
Ungenannt bleibt der Begriff des “Szientismus”, auf den Desmet wohl eigentlich zielt, nämlich die Ansicht, die Naturwissenschaften lieferten das einzig wahre Wissen über die Welt, und alles, was nicht Gegenstand naturwissenschaftlicher Untersuchung sein könne, könne es auch gar nicht geben.1 Dies ist eine auch unter heutigen Philosophen weit verbreitete Ideologie, die sich auf den Erfolg der Naturwissenschaften beruft, dabei das Rationale gegenüber dem Empfindsam-Ästhetischen in den unbedingten Vordergrund rückt, was ein Impuls ist, der in der Tat der Aufklärungstradition entspringt, und der folgerichtig, wenn auch verbohrt, versucht, alle Phänomene auf ihre physikalische, d.h. oft mechanistisch-materialistische Dimension zu reduzieren.
Diese Erzählung in ihrer heute gängigsten Form erzählt vom Urknall als dem Beginn des Universums und davon, wie sich dann nach und nach alles entwickelt, die Galaxien und Sterne und Planeten, wie auf der Erde zufällig Leben entsteht, dass dann ebenso zufällig immer komplexer wird im Prozess der Evolution, sodass zu einem irrelevanten Zeitpunkt zufälligerweise der Mensch sich entwickelt, der genauso bedeutungslos ist wie der Rest von allem — und der sich lediglich einbildet, etwas zu bedeuten:
“In einem solchen Menschenbild wird das komplette Register der menschlichen Subjektivität zu einem unbedeutenden Nebenprodukt mechanistischer Prozesse. Der Mensch ist sich dessen vielleicht nicht bewusst, aber seine Menschlichkeit spielt eigentlich keine Rolle, sie ist nichts Wesentliches.” (S. 28)
Die Welt ist, dieser Ansicht zufolge, eigentlich so etwas wie eine riesige Maschine, und auch der Mensch ist nichts anderes als eine Maschine. Hierhin gehören auch die Überlegungen, die den menschlichen Willen für unfrei erklären,2 sein Bewusstsein zu einem nicht wirksamen Epiphänomen erklären oder ihm dieses Bewusstsein als verrückte Selbsttäuschung von etwas nicht-Existentem gleich ganz absprechen.3
II. Woran ist unsere große Erzählung gescheitert?
1) Der Beginn der modernen Naturwissenschaften
Vorsichtiger müsste man vielleicht die Frage stellen, ob sie überhaupt wirklich gescheitert ist, denn immerhin ist diese Erzählung noch immer die gängigste Erzählung in westlichen Gesellschaften, oder zumindest in den “gebildeten Kreisen”, und auch ein Habermas kommt trotz immens ins Detail gehender Analysen, bspw. zur Willensfreiheit oder zum “Diskurs über Glauben und Wissen”, nicht dahin, über seinen Schatten zu springen und ernsthafte Zweifel zu formulieren an der Stichhaltigkeit dieser Erzählung. Wer die physikalische Kosmologie oder, schlimmer noch, die Evolutionstheorie in Frage stellt, macht sich schnell zum Paria in diesen Kreisen.
Desmets Antwort auf diese Frage wäre, und da schließe ich mich ihm gerne an, dass diese Erzählung daran scheiterte, dass sie unredlich mit ihrem eigenen zugrunde liegenden Gegenstand, der Naturwissenschaft, umging. Abzulehnen, weil fehlerhaft, sei nämlich nicht das naturwissenschaftliche Forschungsprojekt, das im 16. Jahrhundert begonnen habe und mit dem wir die großen Namen verbinden:
Kopernikus (1473-1543)
Galilei (1564-1642)
Kepler (1571-1630)
Newton (1643-1727)
Habermas weist in Auch eine Geschichte der Philosophie darauf hin, dass diese “Forscher keineswegs einen Perspektivenwechsel vorgenommen” hätten im Hinblick auf die “anthropozentrische Wende” — “Gläubige Christen waren sie alle.”4 (Bd. 2, S. 114) Für sie selbst standen ihre Forschungsergebnisse auch nicht im Konflikt mit dem Glauben. So wie auch die katholische Kirche anfangs kein Problem mit Galileis Entdeckung der Jupitermonde hatte.
2) Exkurs: Galilei und die katholische Kirche
Der Legendenbildung zum Trotz, für deren allgemeine Verbreitung wohl vor allem Bertold Brechts Das Leben des Galileo Galilei verantwortlich ist, waren weite Kreise des Vatikans, einschließlich des Papstes Urban VIII., große Anhänger Galileis und nur die mächtigen Jesuiten waren seine entschiedenen Gegner - aber auch das nicht vordergründig wegen seines Heliozentrismus, sondern wegen seiner Ablehnung der aristotelischen Physik und Substanzlehre, auf der aber die Transsubstantiationslehre beruhte.
Wobei die Jesuiten sich vielleicht auch einfach nur persönlich angegriffen fühlten. Die Details schildert in ihrer ganzen politischen Verworrenheit Wolfgang Behringer, Der große Aufbruch, S. 469-476. Dort steht u.a. zu lesen:
“Der Präsident der Akademie der Luchse, Fürst Cesi, überreichte Papst Urban VIII. das ihm gewidmete Buch [Saggiatore, von Galilei geschrieben]. Weitere Exemplare bekamen der Kardinalnepot und die Kardinäle. Der Papst ließ sich in den nächsten Tagen bei Tisch einige Stellen vortragen und amüsierte sich über Galileis Polemiken gegen den Jesuiten [Orazio Grassi].” (S. 472)
Kurz darauf erfolgte eine anonyme Anzeige wegen Häresie bei der Inquisition, die wahrscheinlich auf den gekränkten Orazio Grassi zurückgeht, der an der römischen Jesuitenuniversität lehrte, dass “außerhalb von Aristoteles keine Wahrheit zu finden sei” (S. 473).
Der Papst beschützte seinen Lieblingswissenschaftler aber, woraufhin der Streit innerhalb des Vatikans immer weiter eskalierte und sich auch Spanien einmischte. Einen acht Jahre später erneut angestrengten Prozess zog der Papst an sich, um Galilei zu schützen.
“Für Galilei wurde immer eine Extrawurst gebraten. Mit dem irregulären Verfahren konnten sowohl der Papst als auch seine Gegenspieler ihr Gesicht wahren. Vor allem aber rettete es Galilei das Leben.” (S. 475)
Einer anderen möglichen Interpretation zufolge, die auch Egon Friedell (Kulturgeschichte der Neuzeit, S. 384f.) vorträgt, sei es den Gegnern Galileis dann aber doch gelungen, einen Keil zwischen ihn und den Papst zu treiben, indem sie letzteren glauben machten, eine Spottfigur in Galileis Dialogo stelle den Papst dar.
“Der Jesuit Grimberger erklärte, wenn Galilei es verstanden hätte, sich die Sympathien der Jesuiten zu erwerben, so hätte er über alles mögliche schreiben können, auch über die Umdrehung der Erde.” (S. 385)
“Wie dem auch sei”, beschließt Behringer seine Darstellung, “Galilei ist niemals als Ketzer verurteilt worden”, sondern stand lediglich unter “Hausarrest”, was für den “Greis” eine glückliche Heimkehr in die Toskana bedeutet hätte, wo er sich feiern lassen und von anderen Größen der Zeit besucht werden konnte - und natürlich weiter forschen. (S. 476)
Ziel dieses Exkurses war es nicht, die katholische Kirche in Schutz zu nehmen. Sie hat ja durchaus “Ketzer” verbrennen lassen. Was sich aber am Beispiel Galilei zeigt, ist, dass der heute gerne behauptete Gegensatz und Kampf zwischen Religion und Wissenschaft in dieser naiven Einfachheit nicht stimmt und dass der Kampf zwischen verschiedenen Weltanschauungen sehr viel komplizierter ist. Die Möglichkeit, diese Verschiedenheiten in geeignete Synthesen zu führen, ist nur eine Frage der Kreativität.
[Ende des Exkurses]
3) Die Nutzbarmachung der Naturwissenschaften
Die eigentliche philosophische Erneuerung, so Habermas, hätten aber eben nicht diese Naturforscher betrieben, sondern eine Handvoll von Philosophen, von denen der erste Francis Bacon (1561-1626) war. Die Tiefenwirkung Bacons wird m.E. oft unterschätzt, sodass bspw. auch Habermas ihm nur zwei von 1500 Seiten seines Werkes widmet (S. 116f.).5
Er sieht Bacon vor allem als Proponent einer induktiven “Logik der Forschung”: von den Einzelbeobachtungen (im Experiment) ausgehend auf immer allgemeinere Sätze schließend, zuletzt auf die Naturgesetze. Bacon habe zudem als erster erkannt, dass die neuen Erkenntnisse nutzbar seien “für technische Verbesserungen, die das Leben erleichtern können.” Diese Erkenntnis mische sich bei Bacon dann mit seinem Calvinismus zu einer religiösen Zielsetzung:
“Gott hat der gefallenen Menschheit die Wissenschaft als ein kollektives Projekt zur Verbesserung ihrer Lebensumstände aufgegeben. […] [Wissenschaft und technischer Fortschritt] dienen im Geiste der Millenaristen der Wiederherstellung des voradamitischen Zustandes.” (S. 118)
Auch Behringer sieht in Bacon vor allem einen geschickten Politiker, der erkannt habe, dass das neue Projekt der modernen Naturwissenschaften eine “Verkaufsstrategie” benötige, um diese dann auch zu liefern: “seine Leser würden Zeugen von etwas unerhört Neuem, sie hätten Teil an einer Neuen Wissenschaft in einer Neuen Zeit.”
“Das Schiff des Wissens verlässt gut ausgerüstet die bekannten Gestade und wendet sich jenseits der Säulen des Herkules, nach antiker Ansicht der Rand der Welt, neuen Ufern zu. Wie Kolumbus würden die Wissenschaftler neue Welten entdecken.” (S. 477)
Desmet, von dem wir uns gefährlich weit entfernt haben, zu dem wir in Bälde aber zurückkehren werden, erwähnt Bacon überhaupt nicht. Dafür verweilt Friedell, der diesbezüglich einen guten Riecher hatte, ungewöhnlich lange bei Bacon: 13 Seiten widmet er ihm (S. 386-399).
Bei Bacon sei “hemmungslose Servilität gegen den Hof, eine fast krankhafte Angst vor königlicher Ungnade und öffentlicher Zurücksetzung” zu diagnostizieren, er sei ein “schwacher”, “kalter”, und “unphilosophischer” Mensch gewesen, dem “Ehre, Macht, Besitz, flüchtiger Genuss und leerer Prunk” viel wichtiger gewesen seien als “Frieden und Wissen.” Entsprechend seien seine “philosophischen” Schriften ausgestaltet: Sie könnten “weder auf Tiefe noch auch nur auf Neuheit Anspruch machen” und litten darüber hinaus unter “zwei katastrophalen Gebrechen”:
Mit seiner einseitigen Betonung der induktiven Methode verkenne Bacon vollkommen die Bedeutung der “schöpferischen Intuition”, die “der beste Teil aller, auch der exaktesten Forschung” sei. Diese Ansicht vertritt auch Desmet unter Berufung auf den “großen Mathematiker" René Thom, dass nämlich die Fähigkeit, “‘in die Haut der Dinge zu schlüpfen’, sich in alle Entitäten der externen Welt einfühlen zu können” die wichtigste Zutat wissenschaftlicher Entdeckungen sei. Wissenschaft, so Desmet selbst, werde “durch eine Fähigkeit zur Empathie realisiert, eine Art resonierenden Einfühlens in das zu untersuchende Phänomen.” (S. 25) Diese Beschreibung trifft wohl auf Größen wie Newton, Gauß6 und Einstein durchaus zu und beschreibt das, was Thomas Kuhn revolutionäre Wissenschaft und Karl Popper überhaupt Wissenschaft nennt.7
Außerdem habe Bacon aus eigener Unkenntnis vollkommen die Bedeutung der mathematischen Formulierung der wissenschaftlichen Gesetze verkannt. (Was andernfalls dazu hätte führen können, dass er sich Gedanken dazu gemacht hätte, ob es auch Bereiche geben könnte, auf die sich die mathematische Methode nicht anwenden lässt, was Newton durchaus bewusst war.)
Vor allem aber habe Bacon mit seiner Betonung der nützlichen Anwendungen der neuen Erkenntnisse (noch bevor es diese nützlichen Anwendungen überhaupt großartig gab) das utilitaristische Prinzip tief in der Forschung verankert: “das [unbewusste] Ziel der baconischen Philosophie sei die Vervielfältigung der menschlichen Genüsse und die Milderung der menschlichen Leiden” gewesen. Das klingt auf den ersten Blick nicht schlecht. Wer will nicht lieber genießen, als zu leiden? Da man aber nur einem Herren dienen kann, wie ich es formulieren möchte, leidet die Erkenntnis, der Drang nach Wahrheit, unter dieser Nützlichkeitsorientierung.
Bei Friedell findet sich hier nun eine äußert faszinierende Passage, die daher — obschon nicht wirklich wichtig — genauer ausgeführt werden soll aufgrund der Ästhetik der Darstellung:
4) Macaulay, Seneca und die Schusterphilosophie
Friedell, in den 1920er Jahren schreibend, bezieht sich in der Bewertung der “Antiphilosophie” Bacons, Anfang des 17. Jahrhunderts schreibend, auf den britischen Historiker aus der Mitte des 19. Jahrhunderts Macaulay, der wiederum auf den um die Zeitenwende wirkenden römischen Philosoph Seneca referiert, der gesagt habe:
“[W]enn es das Amt der Philosophie sei, Erfindungen zu machen und die Menschen über den Gebrauch ihrer Hände zu belehren, statt ihre Seelen zu bilden, so könne man auch ebensogut behaupten, dass der erste Schuhmacher ein Philosoph gewesen sei.” (S. 395)
Macaulay gibt zu bedenken, dass, vor die Wahl gestellt, man doch den Schuster zu wählen habe, denn Schuhe hätten Millionen, ja Milliarden vor dem nasswerden bewahrt,8 “und wir bezweifeln ob es Seneca [mit seinem Werk Über den Zorn] gelungen ist, einen einzigen Menschen vor dem Zorn zu bewahren”. Und diese Argumentation dient Macaulay zur Rechtfertigung Bacons, wie sie Friedell zu seiner Kritik dient:
“[D]iese Deduktion [lehrt], was für eine Art von Philosophie Bacon in seinen Schülern schließlich erzeugt hat und erzeugen musste: eine Philosophie für Schuster, oder, um es vornehmer auszudrücken, für Erfinder von Fußbekleidungssystemen und Nässeschutzapparaten.” (S. 395)
Friedell zeigt, dass Macaulays Beispiel tendenziös gewählt sei. Die Philosophie sei durchaus in der Lage, “die Menschen gegen Ärgeres zu wappnen als gegen Nässe und Zorn”. Das folgende Bild, das Macaulay bemühe, sei aber durchaus zielführend, wenn auch nicht im von diesem beabsichtigten Sinne:
“Wenn der Baum, den Sokrates pflanzte und Plato pflegte, nach seinen Blüten und Blättern beurteilt werden soll, so ist er der edelste aller Bäume. Aber wenn wir den einfachen Probierstein Bacons anwenden und den Baum nach seinen Früchten beurteilen, wird unsere Meinung vielleicht weniger günstig ausfallen. Wenn wir alle nützlichen Wahrheiten, die wir jener Philosophie verdanken, zusammenzählen, wie hoch wird sich ihre Summe belaufen?” (S. 395, m.H.)
Diese Formulierung sei die “utilitaristische Philosophie, die sich von Bacon herleitet, im Extrakt.” Das Nutzenprinzip wird in Anschlag gebracht, um als alleiniger Maßstab des Wertes der Dinge zu dienen, wobei unterschlagen werde, “dass Nutzen und Wahrheit zweierlei Dinge sind, ja in den meisten Fällen einander ausschließen”. Wer den Zweck des Baumes mit seinen herrlichen Blättern und Blüten auf den Nutzen seiner Früchte reduziere, verkenne die wichtigste Dimension des Menschseins. So findet Macaulay auch dies weitere Bild überzeugend:
“Ein Fußgänger kann in einer Tretmühle eine ebenso große Muskelkraft entfalten wie auf einer Landstraße. Aber auf der Landstraße wird seine Kraft ihn vorwärts bringen, während er in der Tretmühle nicht um einen Zoll von der Stelle rückt. Die alte Philosophie war eine Tretmühle und kein Weg.” (S. 395f., m.H.)
Der Vergleich mit der Tretmühle hinke aber. Die alte Philosophie, wie die neue, sei auf der Landstraße unterwegs. Doch während die neue die Landstraße nur beschreite, um beispielsweise ihre Länge zu vermessen oder um Dünger zu transportieren, so gleiche die alte (und kommende) dem “Spaziergänger, der wandert, um die Schönheiten des Weges kennenzulernen oder um einfach seine lebendigen Energien spielen zu lassen.” Dies vergessen zu haben, sei die Narretei der Neuzeit, die ihre lebendigen Energien nicht mehr spielen lassen will oder kann, weil ihr dies nutzlose Zeit- und Energieverschwendung zu sein scheint.9
Wir verweilen für diesmal bei diesen Bildern, und kehren nächstes Mal zu Desmet zurück, wobei wir sehen werden, dass die Bacon’sche Stimmung genau das Problem der Neuzeit ist, das auch er diagnostiziert, und das sich exemplarisch in der Replikationskrise, im Quantifizierungswahn und im Dünkel des akademischen Gate-Keepings zeigt (bspw. im peer-review-Verfahren); und das in letzter Konsequenz im Totalitarismus mündet.
Hier geht es zu Teil 3:
Oder, in einer vermeintlich vorsichtigeren Variante, dieses könne wohl existieren, wir könnten dann aber nichts darüber wissen. Diese Sicht sieht prinzipielle Erkenntnisgrenzen des Menschen.
Diese These im Rahmen des Szientismus wurde beispielsweise von Wolf Singer und Gerhard Roth in den frühen 2000ern medienwirksam vertreten.
Diese Sichtweise verbinde ich mit dem Philosophen Daniel Dennett. Laut John Horgan hat Dennett aber nur die Sichtweise vertreten, unser Bewusstsein sei so unbedeutend, “that it might as well not exist”. Iain McGilchrist, auf den wir noch wiederholt zurückkommen werden, würde diese Sichtweise wohl als gutes Beispiel für “left hemisphere capture” ansehen, also, in aller Kürze naiv und unvollkommen ausgedrückt, eine Engstirnigkeit, die auf der einseitigen Fokussierung auf Details ohne Einbettung in das “große Ganze” beruht, wozu die linke Hirnhälfte tendiert, wenn sie nicht von der rechten integrativ beherrscht wird. McGilchrist ist auch der Ansicht, dass eine genaue Betrachtung ergibt, dass Bewusstsein wahrscheinlich basaler ist als Materie (Iain McGilchrist, The Matter With Things, Bd. 1, Ch. 12 & 16, & passim).
Besonders interessant scheint mir dabei der Hintergrund Newtons zu sein: “Er steht noch unter dem Einfluss der hermetischen Überlieferungen der Kabbala, Jakob Böhmes und der Rosenkreuzer und begreift Raum und Zeit als Sensorium Gottes, mit dem dieser die Welt im Ganzen ordnet und umfasst.” (Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. 2, S. 115) Die Vermutung liegt nahe, dass Newton nicht trotz, sondern gerade wegen seines sozusagen alchimistischen Hintergrunds seine bedeutenden Entdeckungen tätigen konnte.
Für Habermas, wie auch für die meisten anderen Philosophen ist der “Übeltäter”, der einen überstiegenen Materialismus eingeleitet hat, René Descartes (1596-1650), dessen Schriften nur wenige Jahre nach den letzten Bacons erschienen. Für Descartes war die Welt einschließlich der Tierwelt explizit nur Maschinen, resp. Automaten, und auch über die Beseeltheit anderer Menschen könnten wir nur indirekt etwas wissen. Man könnte vielleicht formulieren, dass Descartes und Bacon für zwei verschiedene Traditionen stehen, von denen die erste den Menschen so sehr von der Welt trennt, dass unklar wird, wie er überhaupt mit ihr zusammenhängt, während die andere den Menschen so sehr zum Teil der (mechanisch-utilitaristisch verstandenen) Natur macht, dass unklar wird, warum man andere Menschen nicht vollkommen skrupellos als Mittel zum Zweck ausnutzen sollte. (Dies ist nur eine andere Formulierung für die “Skylla und Charybdis” - Rede Hans Jonas’.)
“Meine Resultate habe ich längst, ich weiß nur noch nicht, wie ich zu ihnen gelangen soll”, soll Gauß laut Friedell (S. 394) gesagt haben.
Womit ich mich auf Thomas Kuhns Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Karl Poppers Logik der Forschung, sowie ihre Auseinandersetzungen darüber beziehe, was gute Forschung ausmache.
Ich gestehe, dass ich Schuhe vor der Lektüre dieser Passage noch nie als etwas konzeptualisiert habe, dass dem Schutz vor Nässe dient, vielleicht auch, weil meine Füße trotz des Tragens diverser verschiedener Schuhe über die letzten 35 Jahre doch eigentlich immer früher oder später nass geworden sind. Die Argumentation hängt aber nicht vom eigentlich Zweck des Schuhwerks ab und bleibt somit unbeschadet.
Dies leugnet nicht den Wert der Landvermessung und des Düngens, genauso wie auch der alte Philosoph Schuhe getragen hat. Es ordnet ihren Wert nur in einen größeren Rahmen ein, anstatt ihn absolut zu nehmen. Es stellt die Frage, die Jordan B. Peterson auch zu einem zentralen Pfeiler seines Denkens gemacht hat: “What is it that should be put in the highest place?” Und antwortet mit Platon, das Wahre, das Schöne und, was dasselbe ist, das Gute.
Wirklich guter Text. Vor allem der Teil über Amateure ist mir gut reingegangen.