»Had we but world enough and time…«
(Marvell)
Es gibt so viele Projekte, die ich gerne verfolgen würde. Jenseits dessen, was man vielleicht unter dem Stichwort Selbstoptimierung zusammenfassen könnte, und das mit Bewegung, Ernährung, Schlaf, Haushalt, Gewohnheiten, Lernprozessen, Entspannung zu tun hat; und jenseits dessen, das man unter dem Stichwort Spiritualität subsumieren könnte, und das mit Meditation, Yoga, Seelenübungen, Schöpferischem Lesen, und Bewusstseinsprozessen beschrieben werden könnte; jenseits all dessen, was schon genug wäre, um ein Leben anzufüllen, wenn auch vielleicht nicht auszufüllen, liegen noch mindestens drei weitere Bereiche: die (Lohn-)Arbeit, das Soziale Feld, und die künstlerische Wissenschaft oder wissenschaftliche Kunst.
Meine Arbeit liegt brach und zu meinem sozialen Feld werde ich mich nicht öffentlich äußern, aber das, was ich auf Substack veröffentliche, sind meine Versuche in einer Synthese aus Wissenschaft und Kunst, stark geformt von dem, womit ich mich mein ganzes Erwachsenenleben beschäftigt habe, der Philosophie und der Literatur.
I. Forschungsprojekt
A) Autoren
Seit ein paar Jahren entdecke ich jedes Jahr mindestens einen Autor, dem ich mich gerne intensiv widmen würde, und dem ich mich entsprechend auch durchaus widme, den ich am Ende dann aber doch nicht ganz zu packen bekomme und der mir wieder entfleucht:
2020 Giorgio Agamben, das Homo Sacer Projekt
2021 Ivan Illich, Die Nemesis der Medizin, In den Flüssen nördlich der Zukunft
2022 Iain McGilchrist, The Master and his Emissary, The Matter with Things
2023 Raymond Geuss, Not Thinking Like A Liberal, Changing the Subject
2024 Mattias Desmet, Die Psychologie des Totalitarismus
Um diese Autoren herum schwirren weitere Autoren, die mir weniger zentral werden, die aber irgendwie mit diesen zusammenhängen und nicht aufhören, mir in verschiedensten Kontexten zu begegnen:
Hannah Arendt, auf deren Studien zum Totalitarismus sowohl Agamben als auch Desmet Bezug nehmen, und die neben vielen anderen interessanten Studien auch eine zum Thema »Wahrheit und Lüge in der Politik« im Zusammenhang mit dem Vietnam-Krieg veröffentlichte, und von der kürzlich bisher unveröffentlichte Gedanken zum Thema Palästina erschienen sind.
Jordan B. Peterson, der Iain McGilchrist mehrfach in seinem Podcast hatte, und der leider nie (bisher) einen Podcast mit Mattias Desmet gemacht hat, aber die beiden Denker teilen sich die »Ehre«, einen »Critical Responses« Band verpasst bekommen zu haben.
Friedrich Nietzsche, den ich unlesbar finde, der in der Sekundärliteratur aber immer interessant wirkt, und der wohl auf alle bisher genannten Autoren Einfluss hatte.
Alexander Solschenyzin, auf dessen Archipel GULAG sich Peterson, Agamben und Desmet beziehen.
B) Themen
Wer die genannten Autoren kennt, dem wird aufgefallen sein, dass sie sich alle einem Themenkomplex zuordnen lassen, den man unter dem Stichwort Kulturkritik subsumieren könnte. Spezifischer lässt sich eine Beschäftigung mit dem Phänomen des Totalitarismus erkennen, oder anders formuliert, einem Überhandnehmen der staatlichen Gewalt. Die noch lebenden Autoren haben sich auch größtenteils negativ zu den Corona-Maßnahmen geäußert, wobei jeder einen unterschiedlichen Ausgangspunkt seiner Kritik hatte.
Die Autoren sind aber alle nicht auf dieses Thema reduzierbar, ihr Werk ist äußerst komplex, vielgestaltig, divergent, könnte man sagen. Alle arbeiten an einer positiven Vision für eine bessere künftige Kultur des Menschen.
Auch wenn die Autoren es nicht immer so benennen, könnte man auch die Formulierung wählen, dass sie sich alle am Problem des Bösen abarbeiten, wie es sich in psychologischer, historischer, politisch-soziologischer und anthropologisch-philosophischer Form zeigt.
C) Projekt
Ich will versuchen, aus diesen Gedanken und diesen Autoren das zu extrahieren, was mich interessiert und das vielleicht den ein oder anderen Leser interessieren könnte. Die Mühlen der Corona-Maßnahmen-Aufarbeitung mahlen langsam, vor allem in Deutschland, und ich will mich in den Details dieser Aufarbeitung auch nicht verlieren.
Dennoch scheint es mir wichtig für alle Menschen, ob sie die Maßnahmen für angemessen hielten oder nicht, oder irgendwo dazwischen, die jüngste Vergangenheit nicht zu verdrängen, sondern intensiv darüber nachzudenken, was schief gelaufen ist in den letzten Jahren. Denn dass so gar nichts schief gelaufen ist, wäre eine hoffnungslos naive Annahme, die bereits empirisch widerlegt ist. Und, wie das Sprichwort sagt, wer nicht aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen bereit ist, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen. Aber Geschichte wiederholt sich nicht? Aber sie reimt sich.
Aus der Kritik dessen, was leider geschehen ist, lassen sich positive, konstruktive, ästhetische Ideen zu einer kommenden Kultur extrahieren. Und an diesen Schönheiten, und in der Folge auch an den ihnen korrespondierenden Hässlichkeiten, bin ich immens interessiert.1
Beginnen will ich nächste Woche mit Mattias Desmet und seinem Buch Die Psychologie des Totalitarismus. (Aber wer weiß was wird?)
D) »An welchem Punkt stehen wir?« (Agamben)
Wie Nietzsche sagte - Nietzsche ist immer gut für ein bon mot -, ist der Mensch das »Tier, von dem zu viel verlangt wird«. Das gilt heute sicherlich noch mehr als am Ende des 19. Jahrhunderts. Denn häufen sich unsere Krisen nicht schneller an, als wir sie be- und verarbeiten können?
Corona ging unmittelbar in den Krieg in der Ukraine über, dann kam noch das Wiederaufflammen des Nahost-Konflikts hinzu, jetzt haben wir Krisen in Syrien, Georgien, Rumänien. Viele Beobachter sprechen davon, dass der dritte Weltkrieg schon längst begonnen hat, und wir es nur noch nicht bemerkt haben, weil er sich etwas anders ausnimmt als die ersten beiden.
Zudem haben wir wirtschaftliche Probleme in Deutschland und ein Orientierungsproblem in Europa, die erneute Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten verunsichert uns, die Zunahme von Ressentiments aller Art scheint unaufhaltsam, gleichzeitig verlieren wir noch mehr unsere Verwurzelung in irgendeiner Art von Stabilität im Weltbild. Dann gibt es da noch den Klimawandel, aber von diesem verdeckt auch die anderen ökologischen Krisen, die drohen oder schon längst eingetreten sind.
Und dann ist das noch das eigene Leben, das eigentlich bereits genug Herausforderungen bereithielte. Die Arbeit, das Geld, die Gesundheit, die Zeit, die wir nicht haben. Das allgemeine Unbehagen.
Kinder müssen nicht nur am Leben erhalten, sondern umsorgt, umhüllt und erzogen werden, aber man müsste sich eigentlich intensiv damit beschäftigen, was das jeweils heißt.
Ehen müssen gepflegt werden, weil sie sonst kaputt gehen, und oft sind sie schon kaputt und müssten erst einmal repariert werden, bevor es reichte, sie zu pflegen.
Freundschaften - ach, für Freundschaften haben wir eigentlich schon gar keine Zeit mehr, aber wir brauchen sie doch so dringend. Und diesem Thema will ich mich abschließend noch in aller gebotenen Kürze widmen.
II. Freundschaft
A) O Freunde
In seiner unnachahmlichen Art beginnt Giorgio Agamben seine kurze Abhandlung zum Thema Freundschaft2 mit dem, was ich als sympathische Klugscheißerei bezeichnen möchte. Sein Kollege, Jacques Derrida, habe in der Nachfolge Montaignes und Nietzsches in seinem Traktat über die Freundschaft den Aristoteles zugeschriebenen »sibyllinischen Ausspruch« zitiert:
O philoi, oudeis philos.
(»O Freunde, es gibt keine Freunde«)
Als Quelle des Ausspruches gelten die Leben berühmter Philosophen von Diogenes Laertius. Dort finde sich aber in modernen Ausgaben dieser Satz nicht, sondern:
Oi philoi, oudeis philos.
(»Wer (viele) Freunde hat, hat keinen Freund«)
Es habe »lediglich eines Ganges in die Bibliothek« bedurft, um das Rätsel zu lösen. Seit 1616 sei in den Ausgaben der Leben berühmter Philosophen der Fehler korrigiert, die zweite Version (oi philoi) sei die korrekte, und dies sei sowohl Nietzsche als auch Derrida bewusst gewesen (letzterem habe Agamben dies selbst »umgehend mitgeteilt«). Und Agamben vermutet, diese Korrektur hätten Nietzsche wie Derrida aus strategischen Gründen ignoriert, um ihrem Pessimismus zu frönen.
B) Schimpfwörter
Agamben konstatiert ein »Unbehagen der modernen Philosophen«, wenn es um das Thema und das Wort »Freund« geht, obschon, oder vielleicht auch gerade weil, der Philosoph ja der Freund der Weisheit sein soll, aber diese »Liebe des Denkens« - denn Freundschaft ist ja für den alten Griechen völlig zu Recht eine Form der Liebe3 - sei dem Modernen Denker irgendwie peinlich.
Dem will sich Agamben nicht anschließen. Und er schlägt vor, das Wort einer semantischen Analyse zu unterziehen, mit der er auch sogleich beginnt. Während der Ausspruch »Ich liebe dich« performativen Charakter trage, also »seine Bedeutung mit dem Akt seiner Äußerung« zusammenfalle - und ist dies denn so?4 -, lasse sich vom Wort »Freund« schon einmal feststellen, dass es sich nicht wirklich prädikativ verwenden lasse. Womit Agamben meint, dass es keine Menge an Dingen in der Welt gebe, die mit dem Begriff herausgegriffen und umschrieben werde, anders als für die Wörter »hart«, »weiß«, »heiß« …
Agamben schlägt dann vor, das Wort »Freund« in seiner Art des Funktionierens in die Nähe der Schimpfwörter zu rücken. Denn wenn ich dich als »Esel« bezeichnete, wäre es ein Missverständnis zu glauben, ich würde dich damit in die Menge der Esel einordnen wollen.5
»Seine beleidigende Wirkung entfaltet das Schimpfwort, weil es gerade keine konstative Äußerung ist, sondern wie ein Eigenname funktioniert und auf eine Weise in die Sprache ruft, die der Gerufene sich so wenig gefallen lassen kann, wie er sich ihr zu erwehren vermag … Das Beleidigende am Schimpfwort ist also eine reine Spracherfahrung ohne jeden Bezug zur Wirklichkeit.« (S. 77f.)
Und darin, so Agamben, ähnele das Wort »Freund« nicht nur den Schimpfwörtern, sondern auch den mittelalterlichen Transzendentalien, die »das Sein als solches bezeichnen«.
C) Parting of Sts Peter and Paul Led to Martyrdom
In diesem Bild von Giovanni Serodines, habe er, Agamben »immer eine perfekte Allegorie der Freundschaft« gesehen. Die beiden Apostel in einer »distanzlosen Nähe«, die Gesichter so nahe, dass man sich nicht mehr sehen kann, die sich verschlingenden Hände, das Heroische in ihrer Unbeugsamkeit. Freundschaft mache es aus, »dass man sich vom anderen weder eine Vorstellung noch einen Begriff machen« könne.
Der Freund6 sei kein »etwas«, kein erkanntes und benennbares Objekt, sondern, so würde ich es formulieren, bleibt einem gerade in seiner Nähe etwas vollkommen Rätselhaftes, das man erkundet, ohne es je zu kartographieren, und dem man seine Rätselhaftigkeit lässt, in dessen Anwesenheit man die Rätselhaftigkeit ertragen kann.
D) Aristoteles…
Es sei jedoch nun, so Agamben, an der Zeit, sich einer Stelle in Aristoteles’ Nikomachischer Ethik zuzuwenden. Als bekannt dürfe vorausgesetzt werden, was Aristoteles im 8. und 9. Kapitel zur Freundschaft aussagt, nämlich dass:
Freunde dem Menschen notwendig seien,
man zwischen Nützlichkeits-/Vergnügungsfreundschaften und wahren Freundschaften unterscheiden müsse,
man nur wenige Freunde haben könne und
Freundschaften (geographische) Distanz nicht gut vertrügen.
Zu wenig beachtet worden sei jedoch ganz allgemein eine Stelle, die das »ontologische Fundament« der aristotelischen Betrachtungen zum Thema Freundschaft lege, also worauf Freundschaft in letzter Analyse fuße.7 Aus dieser Textpassage extrahiert Agamben fünf Aussagen, von denen die ersten drei - als eine Art Fundament - darauf hinauslaufen, dass es laut Aristoteles eine »Empfindung des bloßen Seins« gebe, diese sei angenehm, und Sein und Leben seien für den Menschen austauschbare Begriffe.
Die vierte und fünfte These kommen jetzt zum eigentlichen Thema: Das Mit-Empfinden der Existenz des Freundes sei eine spezifisch menschliche Empfindung, und nicht, sozusagen, erst nachträglich hinzugekommen oder erfunden. Die »Empfindung des Seins« sei »immer schon geteilt und mit-geteilt: Der Name dieser Mit-Teilung lautet Freundschaft.«
Der Freund als »anderes Selbst« (heteros autos) meine »eine der Selbstheit immanente Andersheit«.
»Eben in dem Moment, in dem ich meine Existenz als angenehm empfinde, wird diese Empfindung von einem Mit-Empfinden durchkreuzt, das sie zum Freund, zum anderen Selbst hin verschiebt.« (S. 84)
E) … oder Agamben selbst?
Was man beim Lesen der letzten Sätze durchaus und nicht ohne Berechtigung denken mag, ist in etwa: Wat labert der? Versuchen wir uns hineinfühlend an einer Formulierung dessen, was Agamben glaubt, was Aristoteles sagen will, in einfacherer Sprache, die nicht unangenehm an Heidegger erinnert (der ein Lehrer Agambens war).
Agamben will sagen, dass für Aristoteles der Mensch nicht ein isoliertes Denksubjekt ist, das sich sowohl in der Welt als auch gegenüber anderen Menschen erst einmal verbinden muss, um überhaupt dem Solipsismus zu entkommen. Sondern der Mensch ist von Anfang an ein in seine Fleischlichkeit, in seine Lebendigkeit, in sein In-der-Welt-Sein eingebettetes Wesen, das schon mit den Mitmenschen verbunden ist, bevor es überhaupt zu so etwas wie Bewusstsein seiner Selbst kommt.
Der Mensch ist notwendig und somit im Grunde seines Wesens ein soziales Wesen. Und deshalb, so meint Agamben, habe Aristoteles gesagt, gehe die Fähigkeit des Menschen, Freundschaften zu schließen und zu erhalten, auf die fundamentale Beschaffenheit des Menschen zurück, sei ihm also wesentlich. Und zwar auf eine Art und Weise, dass der Mensch das bloße Sein seines Freundes ebenso empfindet (oder doch fast), wie sein eigenes.
Ich vermute, dass Agamben hier das Gleiche tut, was er auch Nietzsche und Derrida nachgewiesen hat, nämlich Aristoteles für seine Zwecke aus strategischen Gründen zurechtbiegen.8 Und ich vermute, dass Agamben einleitend mit voller Absicht diese Strategie aufgedeckt und entlarvt hat, um sie dann spielerisch selbst zu verwenden. Spielt es aber überhaupt eine Rolle, ob Aristoteles solches wirklich behauptet hat, oder ob es Agamben selbst ist, der es behauptet? Dienen die Texte der Vorgänger nicht schon seit eh und je als Material, an dessen Fehlinterpretation sich der gegenwärtige Denker abarbeiten kann, um seine eigenen Gedanken zu entwickeln?9
F) David und Jonathan
Einen ganz anderen Blick auf das Phänomen der Freundschaft gewährt uns Emil Bock im dritten Band seiner Beiträge zur Geistesgeschichte der Menschheit, Könige und Propheten. Gelegentlich der Besprechung des Konfliktes zwischen dem König Israels Saul und seinem Rivalen David - der David, der Goliath besiegte, und dem Michelangelo eine berühmte Statue widmete, der David, der später, vor ca. 3000 Jahren, dann auch wirklich König wurde, und von dem es den Evangelien sehr wichtig war zu betonen, dass Jesus von ihm abstammt - beschreibt Emil Bock, wie David die Gnade erfährt, in Sauls Sohn und Thronfolger, Jonathan, einen Freund zu finden:
»Wie ein Urbild aller Freundschaft steht das Bündnis zwischen David und Jonathan in der Geschichte. In der Tat ging damals überhaupt erst der Stern der Freundschaft am Himmel der Menschheit auf.« (S. 57)
Bisher sei Freundschaft lediglich als mythologische Idee anwesend gewesen, als Prophetie des Kommenden, in Castor und Pollux, in Achilles und Patroklus, und die gewöhnliche Verbindung zwischen Menschen habe ausschließlich auf der Verwandtschaft beruht, der Sippe, dem Stamm.
»Erst mit dem Erwachen der Ichheit wurde das Wunder der Freundschaft, des freien wahlverwandten Zusammenklingens zweier Seelen, möglich. … Das Freundschaftserlebnis ist eine der Entschädigungen, die der Menschheit zuteil wurden, als sich die alten, tragenden, blutsmäßigen Bindungen lockerten und der ichhaft werdende Einzelmensch einsam und heimatlos wurde.« (S. 57)
Die Korrektheit der historischen These Bocks und auch der Sinnzusammenhang mit dem »Erwachen der Ichheit« sei dahingestellt, da in diesem Kontext irrelevant. Interessant erscheint mir aber die Beobachtung, dass gelingende Freundschaft ein Wunder ist,10 dass die Freunschaft eine Entschädigung dafür ist, dass wir nicht mehr in rein familiären Beziehungen existieren (können), und dass der moderne Mensch einsam und heimatlos ist, und sich deshalb nach der freien Verbindung mit anderen Menschen sehnt.11
G) Corona und Freundschaft
Warum sind in der Corona-Zeit so viele Freundschaften zerbrochen? Man wird vermuten dürfen, dass viele zerbrochene Freundschaften keine wahren Freundschaften im Sinne Aristoteles’ waren, und dass die Unlust, die sich im Konflikt der divergierenden Meinungen zwangsläufig einstellte, die Freundschaften aus Vergnügen zerbersten ließ. So trennte sich, bildlich gesprochen, die Spreu vom Weizen.
Aber auch die wahren Freundschaften im Sinne Aristoteles’ wurden auf die Probe gestellt. Es war vielleicht ein bisschen so, als würde einem stumm die Frage gestellt: Ist dir der Wert dieser Freundschaft bewusst? Bist du bereit, die nötigen Opfer zu bringen? Und wenn nein, dann war die Chance nicht schlecht, dass sie endete. Die Frage stellt sich eigentlich fortwährend. Corona und die Isolation waren lediglich Brandbeschleuniger.
Wenn die Freundschaft, wie Aristoteles es formuliert, im Teilen von Worten und Gedanken besteht, dann sind eine Zeit und eine Kultur, in der man weder in seinen Worten noch in seinen Gedanken wirklich frei ist, der Freundschaft abträglich. Ebenso eine Zeit und Kultur, die nichts Rätselhaftes und Unerkennbares duldet, und eine Zeit und Kultur der Bequemlichkeit, in der wir den Begriff des Opfers nicht mehr verstehen, noch verstehen wollen.
Zuletzt könnte man auch noch formulieren, eine Zeit und Kultur, in der dem Menschen die Freude an der bloßen Existenz abgeht, sei der Tod der Freundschaft, weil man sich nur an der Mit-Existenz des anderen erfreuen kann, wenn man sich an der eigenen erfreut. Nur wenn man, wie Aristoteles es nennt, und was nicht im beschränkten moralischen Sinne der Neuzeit interpretiert werden darf, zu den Guten gehört. Was Aristoteles’ rätselhafter Satz bedeuten mag, darüber ist nachzudenken:
»Zu leben ist, besonders für die Guten, begehrenswert, weil zu existieren für sie ein Gut und etwas Angenehmes ist.« (Aristoteles)
Lies jetzt den ersten Teil zu Mattias Desmets Die Psychologie des Totalitarismus:
Man könnte auch von Wahrheiten und Falschheiten, oder von Gutheiten und Schlechtheiten sprechen. Wie ich andernorts ausgeführt habe, sollte man diese Begriffe immer zusammen denken.
Alle Zitate nach Giorgio Agamben. Das Abenteuer / Der Freund. Berlin 2018. S. 71-86.
Neben die philia, die mit Freundschaft übersetzt wird, tritt bei den Griechen eros, die romantische oder sinnliche Liebe, und agape, die göttliche Liebe.
Man könnte lange darüber nachdenken. Mir scheint spontan eher, dass der Ausspruch deshalb seltsam und besonders ist, weil er in jedem Äußerungskontext etwas anderes heißen mag. So scheint er manchmal eine Art Versprechen auszudrücken, manchmal, vor allem in jungen Jahren, eine Emotion, manchmal vielleicht auch nur eine Gewohnheit, oder, traurigerweise, gar nichts.
Ich denke, Agamben hat Recht. Aus diesem Grund geht man auch fehl in der Annahme, als »Hurensohn« bezeichnet, müsse man die Ehre seiner Mutter verteidigen. Diese ist gar nicht tangiert, auch wenn sie es wäre, wenn man »Hurensohn« nicht als Schimpfwort, sondern als Beschreibung gebrauchte. Insofern unterstellt auch »Spast« nicht, der Bezeichnete sei ein Spastiker, und bedeutet insofern auch keine Abwertung des letzteren. Dass »Du fieser Homo« und »Du fiese Hete« pragmatisch betrachtet vollkommen gleich verwendet werden können, zeigt als weiteres Beispiel, wie wenig es auf den semantischen Gehalt des ursprünglichen Wortes ankommt. Selbstverständlich - needless to say - sollte man sich Beleidigungen für die Eingeweihten aufsparen. Fremden gegenüber ist vollkommene Höflichkeit angebracht.
Ich verwende selbstverständlich, Agamben folgend, das generische Maskulinum. Die Zeiten sind schlecht, in denen man darauf hinweisen zu müssen meint, schlecht für die Eleganz der Sprache, aber auch die Stabilität der Psychen.
Die Stelle (1170a 28 - 1171b 35) gibt Agamben wie folgt wieder: »Der Sehende empfindet (aisthanetai), dass er sieht, der Hörende empfindet, dass er hört, der Gehende empfindet, dass er geht, und ebenso sind alle anderen Tätigkeiten von der Empfindung begleitet, dass wir sie ausüben (oti energoumen), sodass wir, wenn wir empfinden, empfinden, dass wir empfinden, und wenn wir denken, empfinden, dass wir denken, was so viel ist, als zu empfinden, dass wir sind: Denn zu sein (to einai) hieß uns ja zu empfinden oder zu denken.
Empfinden, dass man lebt, ist etwas an sich Angenehmes, denn das Leben ist von Natur ein Gut und folglich die Empfindung, es zu besitzen, angenehm.
Zu leben ist, besonders für die Guten, begehrenswert, weil zu existieren für sie ein Gut und etwas Angenehmes ist.
Mit-empfindend (synaisthanomenoi) verspüren sie das Angenehme des an sich Guten und was der gute Mensch bezüglich sich selbst verspürt, verspürt er auch bezüglich des Freundes: Denn der Freund ist ein anderes Selbst (heteros autos). So wie für jeden die Tatsache zu existieren (to auton einai) begehrenswert ist, ebenso ist sie es - oder fast - für den Freund.
Das Dasein ist begehrenswert, weil man empfindet, dass es ein Gut ist, und diese Empfindung (aisthesis) ist lustvoll an sich. Daher muss man auch vom Freund mit-empfinden, dass er ist, und das wird geschehen im Zusammenleben und im Teilen (koinonein) von Worten und Gedanken. In diesem Sinne sagt man, dass die Menschen zusammenleben (syzen), und nicht wie vom Vieh, dass sie dieselbe Weide teilen. […] Denn die Freundschaft ist eine Gemeinschaft und wie man sich zu sich selbst verhält, so verhält man sich auch zum Freund. Nun ist aber die Empfindung der Existenz (aisthesis oti estin) mit Blick auf sich selbst begehrenswert, also auch mit Blick auf den Freund.«
Auch wenn dies in diesem Kontext nichts zur Sache tut, so ist Agambens Absicht, aus der essentiellen Freundschaftsfähigkeit des Menschen auf seine politische Dimension zu schließen. Dies führt er aber nicht weiter aus. Es ist aber eines der Themen seiner kryptischen Homo Sacer Reihe.
Dies ist - im Künstlerischen - die These Harold Blooms in The Anxiety of Influence, gut dargestellt in Richard Rortys Contingency, Irony, and Solidarity.
Wie ich in einem anderen Text darstellte, hat Jacques Brell gesagt, Freundschaft sei noch seltener als Liebe, und diese sei bereits selten.
Auch diesen Teil der conditio humana des modernen Menschen habe ich in einem früheren Text in Anlehnung an Hans Jonas beschrieben - »Weh dem, der keine Heimat hat!«
Auffällig oft gibt es auch Meldungen, z.B. diese, wie unglaublich einsam selbst junge Erwachsene sind. Es ist erschütternd. (Und nebenbei werden die Corona-Maßnahmen explizit als einer der Gründe für die Einsamkeit genannt - einer der vielen Kollateralschäden, über die viel zu wenig gesprochen wird.)
Pffff.... Das war harter Tobak. Besonders gefallen hat mir Ihr Aufsatz über Freundschaft, auch wenn ich nicht das Gefühl hatte, dass einer der Philosophen den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Freundschaft ist eine Wahrheit. Das habe ich einmal auf einer Reise zu Pilzen festgestellt. Die meisten Konzepte sind nur Geräusche und nicht in der menschlichen Existenz verwurzelt. Es gibt nur wenige Dinge außerhalb der Natur, die ein solches Gewicht, eine solche Schwere und ein solches Wesen haben: Mutter, Vater, Frau, Mann, Liebe, Musik, Familie, Tod, Leben, Hingabe, Schmerz, Hass, Freude, Trauer und... Freundschaft.
(Liste nicht vollständig 😉 )
Ich denke, dass wir die falschen Dinge im Leben zu ernst nehmen und die wichtigsten Dinge für selbstverständlich halten. Deshalb versuche ich, den oben genannten Begriffen eine große Bedeutung für mein Leben zu geben. Auch wenn es nicht immer gelingt...