Werke und Tage
Literatur als Wegweiser: Wie Poesie und Prosa unser Leben durchdringen, verwandeln, erleuchten.
Was mich hierhergeführt hat in diesem Leben, an diesen Punkt, an dem ich jetzt stehe, mag ich kaum mehr zu überschauen. Was war wichtig, was nebensächlich? Und gibt es überhaupt Nebensächliches?
Aber hin und wieder fügen sich verschiedene Begegnungen, mit Menschen, mit Büchern, weniger häufig auch mit Gegenständen und Tieren - ich erinnere mich an einen Schmetterling, der sich im Marstall in Heidelberg einmal auf das Buch setzte, das ich, tief traurig, las, und der den Tag erhellte - zu einer Gestalt zusammen, die auf etwas hinzudeuten scheint, das sich meistens aber nicht in Worte fassen lässt. In Worte fassen, wie Max Frisch oder ich selbst es einmal formulierten - ich weiß es nicht mehr -, wie einen Edelstein in Schmuck.
Und was ist mit Max Frisch? War er wichtig, für mich, oder nebensächlich? Max Frisch führte zu Peter Noll, Diktate über Sterben und Tod, erschütternd. Und Frischs Entwürfe zu einem Dritten Tagebuch sind in meiner Erinnerung für immer mit dem kurzen und göttlichen Chilenisches Nachtstück von Roberto Bolaño verbunden, da ich eins von beiden oder auch beide meinem Freund Felipe vorlas, in seiner Wohnung, nachts, bis er einschlief, und danach lief ich über die Neckarwiesen durch Nebel und Kälte und durch die Altstadt und weiter in den Süden bis zu meiner Wohnung in Kirchheim, legte mich hin und nahm diese tiefe Traurigkeit mit in den Schlaf.
I.
Während des Studiums belegte ich einen Kurs, British and Irish Poetry in the 20th Century. Mit den meisten Autoren und ihren Gedichten konnte ich nichts anfangen, nur drei sind mir in Erinnerung geblieben, weil sie mich berührten:
T. S. »Life is very long« Eliots The Lovesong of J. Alfred Prufrock;
Louis MacNeices Snow und, vor allem,
Philip »They fuck you up your mom and dad« Larkins Church Going.
Larkin war ein kindheitstraumatisierter atheistischer Sentimentalist, In Church Going beschreibt er einen Besuch in einer Kirchenruine und die davon ausgelöste Reflexion über die Bedeutung der Religion und vor allem des Verschwindens der Religion. Wer wird als letztes diesen Ort als das, was er ist, einen Ort des Glaubens, betreten, fragt er sich. Um dann in der letzten Strophe dem religiösen Gefühl der Sehnsucht, die er nur vage kennt, den Ausdruck zu geben:
And that much never can be obsolete,
Since someone will forever be surprising
A hunger in himself to be more serious, (ll.58-60)
II.
Kurz vor oder kurz nach dem Abitur, genau weiß ich es nicht mehr, reiste ich mit ein paar Freunden nach Irland, nach Dublin. Eine Freundin las gerade Pablo Nerudas Ich bekenne ich habe gelebt. Der Titel erschien mir tiefgründig und poetisch, auch wenn Roberto Bolaño urteilte, es lasse sich kaum ein beknackterer Titel für eine Autobiografie finden, was ich freilich noch nicht wusste, denn auch Bolaños 2666 begegnete mir in diesem Irland-Urlaub zum ersten Mal in einer Buchhandlung, ohne dass ich das Buch kaufte oder las. Obwohl wir viel Zeit in Buchhandlungen verbrachten. Und beim Kartenspiel.
Jedenfalls besorgte ich mir Nerudas Buch - und woran erinnere ich mich? Dass er einen Arbeitermantel von seinem Vater trug, dass er Schneckenhäuser sammelte, dass er Kommunist war, dass er gen Ende äußerst bewegend den Militärputsch gegen Allende beschrieb - und las dann auch einen Gedichtband, oder las ein paar Gedichte aus diesem Band, den ich in einem Antiquariat in Heidelberg gefunden hatte: Extravaganzenbrevier. Darin das erste Gedicht Um aufzufahren gen Himmel…, und Wilder Kampf zwischen Matrosen und einem Polypen von ungeheurem Ausmaß sind mir gut in Erinnerung:
Roberto López schiffte sich auf der »Aurora« ein.
Arturo Soto auf dem »Antarktischen Stern«.
Olegario Ramírez auf dem »Maipo«.
Justino Pérez kam bei einer Schlägerei ums Leben.
Sinfín Carrasco ist Soldat in Iquique.
Juan de Dios Gonzáles ist Bauer und fällt
Lärchenstämme auf den
Inseln des Südens.
Erschüttert hat mich allerdings nur das eine Gedicht: Gewisser Überdruss, in dem der Autor seiner Melancholie - oder, wie wir in Anlehnung an Bolaño sagen könnten, seiner »postutopischen Depression« - Ausdruck gibt, darin die Zeilen:
Sagen wir endlich die Wahrheit,
dass wir nie einverstanden waren
mit diesen den Fliegen und Kamelen
vergleichbaren Tagen.
Und dann, zum Schluss:
Ich will, dass du überdrüssig bist mit mir
all dessen, was da wohlbereitet ist.
All dessen, was uns altern lässt.
Dessen, was sie vorbereitet haben,
die anderen zu ermüden.
Lasst uns überdrüssig sein dessen, was tötet
und dessen, was nicht sterben will.
III.
Von Freunden meiner Eltern bekam ich als Kind Der kleine Prinz als Hörspiel auf zwei CDs geschenkt, das ich unzählbar oft hörte, und bei dem mich anfangs am meisten die Figur des Säufers beeindruckte, der säuft, um zu vergessen, dass er sich schämt, weil er säuft…
Beeindruckt von dieser Geschichte, fand ich später, ebenfalls in einem Antiquariat - in Heidelberg gibt es viele Antiquariate, und wir haben sie oft besucht, nicht wahr? - ein Buch von Antoine de Saint-Exupéry, das Wind, Sand und Sterne hieß, und sich an ein erwachsenes Publikum richtete. Der Autor beschreibt darin seine Erfahrungen mit dem Fliegen, in einer Zeit, als Fliegen noch ein Abenteuer auf Leben und Tod war.
Einleitend beschreibt er das Bild
einer dunklen Flugnacht, in der nur die weitverstreuten Lichter in der Ebene [Argentiniens] gleich fernen Sternen leuchteten. Jedes von ihnen meldete in diesem Weltmeer von Finsternis das Wunder eines Bewusstseins.
Dort lebten sie, die anderen Menschen, die unbekannten Dichter, Lehrer, Zimmermänner…
Ich muss versuchen, Anschluss zu finden. Ich will mich bemühen, mit einigen dieser Feuer, die in weiten Zwischenräumen im Lande brennen, Verbindung herzustellen.
IV.
Worauf will ich hinaus, in dem ich diese drei Bilder, oder Begegnungen mit Literatur zusammenstelle? Das Verlangen nach einer tiefer gehenden Ernsthaftigkeit. Die Unzufriedenheit mit der Bedeutungslosigkeit der Tage, die »Fliegen und Kamelen« gleichen, mit der Ermüdung, mit dem Nicht-Sterben-Wollen wie auch dem Töten. Und der Wunsch nach Verbindung mit diesen anderen Leuchtfeuern im Dunkeln der Nacht.
Dies scheint sich mir, zumindest manchmal, zumindest heute, zu einer Mission zusammenzusetzen, zu der wir als Menschen berufen sind.
Und Novalis echot durch mein Ohr:
V.
Das Leben besteht aus Tagen, oder, wie David Goggins uns anempfiehlt, es zu konzeptualisieren, 24-Stunden-Missionen. Und wozu dient der Tag? Das Tagewerk zu tun, die Arbeit des Tages. Das Leben dient der Arbeit, die Arbeit dem Leben, und so vergehen die Tage, so vergeht das Leben. Aber nur so entsteht auch ein Leben, durch sein Vergehen.
Und darum heißt eines der ältesten Werke in der westlichen Tradition Werke und Tage. Hesiod, der Tradition nach ein Zeitgenosse Homers, belehrt darin seinen Bruder Peres über das rechte Verhältnis zur Arbeit, nämlich dass man sie annehmen soll und nicht versuchen, sich ihr zu entziehen, um sich dem Müßiggang hinzugeben.
Mit dir aber, Erznarr Perses, mein’ ich es gut und will dir sagen: Dürftigkeit lässt sich gar leicht auch haufenweise gewinnen; glatt ist der Weg, und sie wohnt ganz nah. Vor das Gedeihen jedoch haben die ewigen Götter den Schweiß gesetzt. Lang und steil ist der Pfad dorthin und schwer zu gehen am Anfang. Kommst du jedoch zur Höhe empor, wird er nun leicht, der anfangs so schwer war. (Z. 285ff.)
Mir scheint ein tiefes Geheimnis im Sinn der Arbeit zu liegen. Und erinnert nicht auch der Satz »Lang und steil ist der Pfad dorthin und schwer zu gehen am Anfang« an das Bibelwort von der schmalen Pforte: »und der Weg ist schmal, der zum Leben führt; und wenige sind es, die ihn finden« (Matthäus 7:14)?
Die Frage »Warum muss der Mensch arbeiten?« scheint mir auf der gleichen metaphysischen Ebene angesiedelt wie die Frage, warum überhaupt etwas existiert und nicht vielmehr nichts. Und diesem Sinn der Arbeit, so scheint mir, haben sich Larkin, Neruda und Sainte-Exupéry angenähert in ihren Texten und in ihrem Leben. Larkin äußerst widerwillig, Neruda verspielt, Sainte-Exupéry mit einer pathetischen Ernsthaftigkeit.
VI.
Ich meine das Wort »Arbeit« weder nur metaphorisch, noch nur wörtlich. Hesiod beschreibt die Arbeit des griechischen Bauern vor 700 vor Christus. Er beschreibt die rechten Tage für die verschiedenen Arbeiten. Heute arbeiten wir anders. Was die rechten Tage sind, und was die rechte Arbeit, ist eine verwirrendere Frage geworden, wohl auch eine individuellere.
(Aber noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschreibt der Psychologe und Philosoph William James das Gefühl, dass die einzig ehrliche Arbeit die mit den eigenen Händen ist. Und es tut ohne jeden Zweifel gerade dem verkopften Menschen gut, mit den Händen zu arbeiten. »Die Erde schenkt uns mehr Selbsterkenntnis als alle Bücher, weil sie uns Widerstand leistet«, schreibt auch Sainte-Expupéry - das scheint mir aber unpräzise formuliert, denn Bücher leisten uns ebenfalls Widerstand - im Verständnis. Aber wir können uns an ihnen nicht stoßen wie an der Erde, sie bestrafen uns nicht, sie sind geduldig. Nichtsdestotrotz ist es äußerst gefährlich, Bücher zu lesen. Sei gewarnt!)
Aber Arbeit ist auch das, was in der altindischen Philosophie mit karma bezeichnet wurde. Arbeit an sich selbst, Arbeit am Schicksal, Arbeit an der Menschheit, der Menschwerdung. Jede Tätigkeit, die du bewusst ausführst, und einen Grund angeben kannst, warum du sie tust, ist in diesem Sinne Arbeit. Hören wir Allen Ginsberg, in Memory Gardens den Tod seines Freundes Jack Kerouac betrauernd, wobei natürlich sein buddhistisch geprägter Lebenspessimismus pathetisch mitschwingt:
Well, while I’m here I’ll
do the work -
and what’s the Work?
To ease the pain of living.
Everything else, drunken
dumbshow.
Wie treffe ich als moderner Mensch die Entscheidung, was heute, hier und jetzt, gerade das Wichtigste ist, an dem ich arbeiten sollte? Ich werde es nicht überschauen können. Insofern werde ich mich in aller Regel von meinem Gefühl leiten lassen müssen, wohlwissend, dass dieses mich täuschen kann. Aber die Fragen, die sich aus den zitierten Texten ableiten lassen, dienen vielleicht zu einem gewissen Grade als Wegweiser:
Befriedigt die Arbeit mein Bedürfnis, mit Ernsthaftigkeit bei der Sache zu sein? Verbinde ich mich in ihr mit anderen Menschen? Fühle ich mich lebendig und trotzdem oder deswegen bereit zu sterben? Wenn ich diese Fragen mit Ja beantworten kann, befinde ich mich wohl nicht auf einem ganz verkehrten Weg.
Kann ich sie mit Ja beantworten?
(Und Neruda echot durch mein Ohr:)
Juan de Dios Gonzáles ist Bauer und fällt
Lärchenstämme auf den
Inseln des Südens.
Die Bücher habe ich eigentlich alle nicht gelesen. Daher fühle ich mich beim Lesen der ersten Abschnitte etwas ungebildet. Was ich aber sehr schön finde, ist die erste Schlussfolgerung: "Worauf will ich hinaus, in dem ich diese drei Bilder, oder Begegnungen mit Literatur zusammenstelle? Das Verlangen nach einer tiefer gehenden Ernsthaftigkeit. Die Unzufriedenheit mit der Bedeutungslosigkeit der Tage, die »Fliegen und Kamelen« gleichen, mit der Ermüdung, mit dem Nicht-Sterben-Wollen wie auch dem Töten. Und der Wunsch nach Verbindung mit diesen anderen Leuchtfeuern im Dunkeln der Nacht.
Dies scheint sich mir, zumindest manchmal, zumindest heute, zu einer Mission zusammenzusetzen, zu der wir als Menschen berufen sind."
Das regt auf jeden Fall zum Nachdenken an. Ist es wirklich Ernsthaftigkeit, die ich suche? Ist das "Sinn" von dem du sprichst? Ich glaube, das kann ich für mich nicht bejahen. Aber das hier unterschreibe ich: "Und der Wunsch nach Verbindung mit diesen anderen Leuchtfeuern im Dunkeln der Nacht." Der Wunsch danach, mit anderen Seelen zu brennen, um einen lebendigen, niemals gleichen Gegensatz zur Dunkelheit zu schaffen, der niemals der gleiche ist und der es bejaht, dass er alles verzehrt wie ein Feuer.
erster