SO nutzt Du deinen freien Vormittag effektiv... (es ist NICHT, was du DENKST)
Vignetten eines ländlichen Lebens - Teil 1
Ich schrieb diesen Text schon Anfang Oktober, aber dann habe ich es nicht geschafft, die richtigen Bilder dafür zu erstellen und war auch mit anderen Dingen (meiner Yogalehrer Abschlussarbeit) beschäftigt. Jetzt ist dieser schöne, goldige Oktober bereits eine Erinnerung, aber vielleicht macht das den Text ja sogar noch charmanter :) Beurteilt selbst.
“So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier.”
(Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge)
Manchmal, darauf hatte ich bereits in meinem allerersten Artikel hier auf Substack hingewiesen, ergeben sich interessante Muster, wie zufällig, vielleicht aber kein bisschen zufällig, sondern schicksalhaft, im Leben. Für das Erkennen solcher Muster spielt es keine Rolle, ob Zufall oder Schicksal. Steve Jobs sprach vollkommen frei von spirituellen Befindlichkeiten davon, dass man im Rückblick immer die Punkte des eigenen Lebens zusammenfügen könne zu einer Gestalt.
Und so oder so ist es ein angenehmes und erhebendes Gefühl, solche Muster zu empfinden. Wie das Zusammensetzen eines Puzzles, wenn es plötzlich klickt und man spürt, hier gehört das hin. Hier, an diesen Ort, oder in diese Tätigkeit, in diesen State of Mind, gehöre ich hin. Man erlebt sich als eingebettet, in einen sinnhaften Zusammenhang, der einen trägt, dem man vertrauen kann, der einem Wurzeln gibt. Selbst der Atheist Isaac Asimov war vollkommen fasziniert vom pattern of life und schrieb recht poetisch darüber.
Das Muster, das ich nun darzustellen oder vielmehr anzudeuten versuchen will, setzt sich vordergründig zusammen aus meiner gerade neu entflammten Rilke-Lektüre, in Kombination mit dem anderen Buch, das ich gerade lese:
s Against the Machine: On the Unmaking of Humanity und den Aktivitäten des heutigen Vormittags.Lasst es mich versuchen.
Ich bin allergisch auf Effizienz
Die Kinder hatten am Vorabend etwas angeschlagen gewirkt — über Bauchschmerzen geklagt, ins Bett gewollt, dann aber nicht leicht in den Schlaf gefunden, möglicherweise leicht gefiebert —, also hatten wir entschieden, einen “Pausentag” einzulegen. (Den Begriff hatte uns der Waldorfkindergarten beigebracht. Kleine Kinder bräuchten durchaus vielleicht ab und an einen Pausentag, und wenn möglich, sollte man ihnen den dann auch gewähren. Wenn möglich. Und wir alle wissen noch aus der Schulzeit, wenn wir uns erinnern, dass Pause nicht bedeutet, nichts zu tun, sondern die Pausen der Ort und die Zeit waren, wo das wahre Leben stattfindet, wo man sich jagen und prügeln konnte, oder was andere in ihren Pausen gemacht haben.)
Heute morgen, als wir etwas später und gemütlich und ausgeschlafen aufgestanden waren, ging es ihnen dann eigentlich wieder gut. Man hätte auf den Gedanken kommen können, dass sie streng genommen doch zu Schule und Kindergarten hätten gehen können. Man hätte sich darüber ärgern können, sich die Möglichkeit verbaut zu haben, am Vormittag richtig etwas hinzubekommen. Ich vermute aber, dass dies ein Irrtum gewesen wäre. Ich glaube, es ging ihnen gut, weil sie Pause hatten, auch wenn diese noch vor ihnen lag. Ich fühlte mich in meinem Glauben bestärkt, dass dieses Kränklichsein der Kinder oft nur eine Art allergische Reaktion auf ein zu durchgetaktetes Leben ist, in dem man funktionieren muss, solange man gesund ist.
Wer nicht funktionieren will, muss krank werden. Und wenn er krank ist, wird er nicht gesund gemacht, sondern wieder funktionsfähig.
Ich glaube — und wer glaubt das nicht? Aber handeln wir danach? Fordern wir es ein? Es ist, als glaubten wir es alle nicht. Kognitive Dissonanz? —, dass es uns allen gut täte, mehr im natürlichen Rhythmus des Jahres zu leben. An den langen Tagen der warmen Jahreszeit ist offensichtlich, so scheint mir, mehr körperliche Aktivität sinnvoll, man braucht weniger Schlaf, man fühlt eine Lust zur Regsamkeit in sich, während die kürzer werdenen Tage diese Regsamkeit immer stärker ins Gedankliche und Geistige hineinträgt. Man will nicht mehr so viel LEISTEN, sondern KONTEMPLIEREN. Wie auch am Nachmittag und vor allem am Abend eines erfolgreichen Tages, wie ich gelegentlich einer Betrachtung zu den vier Temperamenten schon einmal überlegt hatte.
Der Takt einer Maschine kümmert sich aber nicht darum, was ein Mensch will und braucht. Und unsere Gesellschaft ist als Maschine organisiert, nicht als Organismus mit natürlichen Rhythmen.
Wir fliegen aus…
Wir schnappten uns den Hund, Findus, und machten einen Ausflug mit dem Lastenrad über die Feldwege.
In unserer Straße kann man sehen, dass dies früher ein christlicher Weg war. Wir haben hier zwei Kapellen stehen und mehrere Wegkreuze. Von uns aus, den Hügel aufwärts, liegt die kleinere Kapelle, eigentlich nicht viel mehr als ein Heiligenschrein mit Opferstock aus Holz und Eisen.
Hier wirft aber niemand mehr etwas ein.
Und das hat einerseits sein Gutes, ist andererseits aber tragisch. Die Blumen sind aus Stoff und Plastik, damit sie lange halten, Jahre lang, Jahrzehnte, ohne dass sich jemand kümmern muss.
Früher hätte der Besitzer des Hofs gegenüber regelmäßig neue Blumen gebracht, oder bringen lassen. Das Wegekreuz, das noch näher gelegen ist, zu versorgen, war ehedem die Auflage der Anwohner, hier ein Haus bauen zu dürfen. Was nicht ewig her ist, die Häuser wurden erst im 20. Jahrhundert gebaut. Unseres sogar erst in den 60ern. (Die meisten anderen sind älter.)
Ein, zwei Mal im Jahr, meistens zu Ostern und irgendwann im Sommer, vielleicht sogar nochmal im Herbst, ich kriege ja auch nicht immer alles mit, was hier so geschieht, zieht eine katholische Prozession durch unsere Straße. Die Kinder sind fasziniert. Die meist alten Leute winken uns zu. Meistens sind Musiker mit Blasinstrumenten Teil des Ganzen, aber sie spielen nicht, während sie bei uns vorbei prozessieren.
Einerseits freut es mich, dass diese Prozessionen stattfinden. Aber irgendwie kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass die Leute gar nicht mehr wissen, was sie da tun, so wie laut Alasdair MacIntyre wir immer weniger wissen, wovon wir eigentlich reden, wenn wir moralisches Vokabular benutzen.
…und begegnen Ruinen
An MacIntyre knüpft auch Kingsnorth an.
Wir leben, sagt er, in den Ruinen der ehemals christlichen Kultur.
Um uns herum ist alles längst niedergebrannt, was auch ein Bild ist, das Giorgio Agamben wiederholt gebraucht hat, aber wir merken es nicht, weil wir so sehr an den Anblick der Ruinen gewöhnt sind, und uns nicht an die Katastrophe erinnern, die das ehemals prächtige Gebäude zerstört hat.
Und weil wir uns einbilden, wir hätten dieses Christentum längst hinter uns gelassen und durch etwas Besseres ersetzt. Rationalismus, Humanismus, Transhumanismus. Aber eigentlich ist das alles Nihilismus, der sich die alten Fetzen des Christentums angezogen hat und zahnlos grinsend durch die Straßen zieht, sozusagen mit einem Fuß am Hungertuch nagend, während er für den anderen eine Bekleidung erbittet…
Fügen wir dem eine Szene aus Rilkes Aufzeichnungen hinzu. Malte Laurids Brigge beschreibt, wie er einer älteren Frau zusieht, die über die Straße läuft, “sie war ganz in sich hineingefallen, vornüber in ihre Hände”. Er hatte darüber philosophiert, dass die Menschen immer verschiedene Gesichter tragen, manche verschwenderisch, andere genügsam, sodass sie die übrig gebliebenen an ihre Kinder vererben.
Die Frau aber erschrickt sich:
“Die Frau erschrak und hob sich aus sich ab, zu schnell, zu heftig, so dass das Gesicht in den zwei Händen blieb. Ich konnte es darin liegen sehen, seine hohle Form. Es kostete mich unbeschreibliche Anstrengung, bei diesen Händen zu bleiben und nicht zu schauen, was sich aus ihnen abgerissen hatte. Mir graute, ein Gesicht von innen zu sehen, aber ich fürchtete mich doch noch viel mehr vor dem bloßen wunden Kopf ohne Gesicht.” (S. 10)
Brigge fokussiert sich auf die Hände, um nicht das “Gesicht von innen” sehen zu müssen. Noch schlimmer aber wäre der Anblick des “wunden Kopf ohne Gesicht”. Das ist ein interessantes Bild und lässt sich vielfach deuten. Es lässt sich hier wunderbar auf die Kultur beziehen, die Rilke zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlebte und die wir noch immer zu ertragen und zu überwinden lernen.
Zweckrationale Überlegungen
Streng genommen ist es nach rationalen Kriterien bescheuert, mit dem Elektro-Lastenrad — noch ganz neu — über die Feldwege zu brettern. Schnellerer Verschleiß, erhöhte Unfallgefahr, alles wird dreckig und wer wird jemals die Zeit finden, das wieder abzuwaschen? (Wir hatten tatsächlich schwarze Fahrradtaschen gekauft, obwohl die gelben VIEL anziehender waren, weil man auf den Gelben den Dreck schneller sähe und sie zudem schneller mal geklaut werden würden.)
Wenn so eine Straße gut asphaltiert ist, dann bietet sie dem Radfahrer eigentlich nichts Interessantes. (Vergleiche die Ästhetik des Glatten (the smooth).) Spannend wird es, man spürt das sympathische Nervensystem in Fahrt kommen, und sich zwischenzeitlich auch mal wieder ein wenig beruhigen, wenn der Asphalt endet und man dort entlang fährt, wo sonst nur Kühe ihre Hufe in die feuchte Erde drücken. Entsprechend holprig geht es zu — den Kindern gefällt’s.
Ich denke, die Erschütterungen tun ihren Knochen gut. (Je mehr die Knochen in der Kindheit Erschütterung erfahren, habe ich mir sagen lassen, desto fester werden sie, um dieser Umwelt gerecht zu werden. Also nichts gegen Erschütterungen des Körpers in der Kindheit.) Insofern ist eine solche Fahrt nur auf den ersten Blick bescheuert. Auf den zweiten ist sie meta-rational. Eine, um mit einer Formulierung des Physikers Richard Feynman zu sprechen, absolut vernünftige Abweichung vom ausgetretenen Pfad. (Der, das weiß man, ja sowieso ins Verderben führt.)
Ginette, eine freiheitliche Ziege
Die Sonne schien, das Grün der Wiesen leuchtete, der Mais stand hier teilweise noch, langsam gelblich werdend.
Fährt man immer weiter geradeaus, kommt man an ein alleinstehendes Wohnhaus (hier stehen die meisten Häuser allein, es ist halt Pampa), wo manchmal eine Ziege alleine herumstromert, manchmal auch in Begleitung eines schwarzen Hahns und/oder einer (weißen) Gans. Die Ziege heißt Ginette.
Als wir ihr vor Jahren zum ersten Mal begegneten, wenn ich recht erinnere in Begleitung ihrer ungleichen Gefährten, klingelten wir, um bescheid zu sagen, dass die Ziege entlaufen sei. Da erfuhren wir, dass sie alle drei hier ein freiheitliches Leben führen und auch alle drei vor der Schlachtung gerettet worden waren. Die Gans und den Hahn habe ich jetzt schon lange nicht mehr gesehen. Ob sie noch leben? Falls nicht, hatten sie hier aber jedenfalls sicherlich einen schönen Lebensabend.
Heute war auch von Ginette keine Spur zu sehen.
Heute sperrt man Tiere gerne ein. Es ist auch wirklich schwierig, Tiere frei zu halten. Zu gefährlich für die Tiere, zu gefährlich für die Autofahrer, alles viel zu gefährlich. Früher war das Leben halt gefährlicher. Das hatte sicherlich auch seinen Reiz und seine Tragik.
Unsere Tiere lieben auch die Freiheit. Wenn die Kinder mal wieder die Tür zu den Hühnern offen stehen lassen, dann laufen diese in unseren Anbau, um zu sehen, ob sie nicht was Leckeres zu Fressen finden. Findus bemerkt dies oft und kommt gucken, wedelt aber nur mit dem Schwanz und grinst dämlich. Er hat keinen relevanten Jagdtrieb. Er hat die Hühner ganz am Anfang aber mal gejagt. Nachdem ich ihn daher ernsthaft ermahnt hatte, traut er sich das wohl nicht mehr. Oder er hat Mitleid mit ihnen. Man weiß es nicht.
Er ist ein ziemlich intelligenter Hund und er findet ständig Möglichkeiten, unsere Grundstück zu verlassen. Wie viele Löcher ich schon im Zaun habe flicken müssen. Man ist ganz erstaunt, durch wie kleine Löcher er durchkommt. Dazu gleich mehr.
Alte Höfe erinnern mich an Ivan Illich
Bei Ginette kann man nach rechts abbiegen, dann kommt man an einer Tierarztpraxis vorbei, in ein altes Bauernhaus modern hinein konstruiert und wenn man weiterfährt, landet man auf der Schnellstraße. Biegt man nach links ab, kommt lange Zeit nichts als Felder, dann landet man irgendwann zwischen Lontzen und Herbesthal und muss sich entscheiden, wohin. Geradeaus war für mich noch unbekanntes Terrain.
Beziehungsweise, ich war da im Winter mal lang gejoggt und nach kurzem, in einer Senke, war der Weg in einem regenbedingten Brackteich verschwunden. Aber heute war es trocken.
Ich weiß nicht, warum ich mich heute entschied, dieser Richtung doch noch einmal eine Chance zu geben. Vielleicht, weil ich im nahegelegenen Wald vor ein paar Wochen mal eine ältere Dame getroffen hatte, die gerade einen Herzinfarkt hinter sich hatte und die erzählte, dass sie dort bei den Bauernhöfen irgendwo wohnte. Aber warum wäre das ein Grund? Man weiß es manchmal nicht. Ziemlich oft sogar.
Die meisten Menschen wissen tatsächlich die allermeiste Zeit über gar nicht, warum sie tun, was sie tun, und stellen sich diese Frage auch nicht. Wenn man damit anfängt wird es schwierig. Es ist, wie in dem Witz mit dem Tausendfüssler, der gefragt wird, wie er das eigentlich macht, seine Beine zu koordinieren und der es daraufhin nicht mehr hinkriegt.
Jedenfalls stehen dort drei alte Höfe. Wir hielten an, um uns das alles zur Genüge anzuschauen. Findus schnupperte überall herum, er war sehr freudig erregt. Es roch wahrscheinlich unglaublich intensiv hier. Auf den Wiesen weideten ein paar Kühe, die uns gelangweilt musterten. Ein paar hatten Hörner. Immerhin.
Der erste Hof war ein freistehendes Bauernhaus und daneben Ställe. Beim zweiten Hof, direkt daneben, waren Haus und Stallungen aneinandergebaut. Beide sahen so aus, als wären sie auch noch in Betrieb. Der dritte Hof auf der gegenüberliegenden Seite des Weges war modern zu Wohneinheiten umgebaut. Drei Parteien. Architektonisch war das durchaus gelungen. Es ist immer schade, wenn Bauernhöfe verschwinden. Aber wenn die Gebäude wenigstens gerettet werden, indem sie zu Wohnraum umfunktioniert werden, anstatt dass sie verfallen (und so leerstehende Häuser verfallen verdammt schnell), ist das immerhin etwas.
Meine Kinder teilen interessanterweise meine Vorliebe für alte Gebäude. Die Ältere (6 Jahre) formuliert das mittlerweile auch schon von sich aus. Was ihr gefällt. Manchmal sagt sie: “Guck Mal, Papa, die Farben da und wie die Sonne drauf scheint, das ist schön, oder?” Und solche Dinge. Ich habe das Gefühl, dass sie da nicht nur einfach Dinge nachplappert, die wir so sagen, sondern dass sie da wirklich die Schönheit empfindet. Wie schön.
Dass die Höfe so dicht beieinander liegen, könnte einen unbefangenen Beobachter zunächst irritieren. Brauchte ein Bauernhof nicht das ganze Land drum herum?
Tatsächlich habe ich hierzu bei Ivan Illich (In den Flüssen nördlich der Zukunft) einmal etwas Interessantes gelesen. Illich beschreibt dort, dass die technischen Neuerungen im 12. Jahrhundert im Umgang mit Pferden es erst möglich machten, dass sich ländliche Gemeinden bilden konnten.
“Dieser Zuwachs an Schnelligkeit, Reichweite und Leistungsfähigkeit bedeutete, dass die Felder viel weiter von zu Hause entfernt liegen konnten und dass die Bauern in Dörfern zusammenleben konnten und immer noch ihre Felder erreichten. Diese Verdichtung führte auch zur Gründung von Pfarren, die sich um die Pfarrkirche gruppierten. Das christliche Landleben war von nun an keine auf kleine Flecken verstreute Lebensweise mehr, sondern wurde um eine Gemeinschaft zentriert.” (S. 109f.)
Weiter hinten im Buch kommt Illich noch einmal auf dieses Thema zurück und führt detaillierter aus, dass die drei relevanten Neuerungen im 10. und 11. Jahrhundert die “Pferdestärke um einen Faktor der auf das Drei- bis Fünffache geschätzt wird”, erhöhten:
Die Pferde kriegten Hufeisen.
Das Geschirr lag nun auf dem Brustbein und nicht mehr auf der Kehle (wie bei einem Hundehalsband).
Der Sattel mit Steigbügeln wurde eingeführt.
(In Asien, vor allem in Indien und China, hatte man diese letzten beiden Techniken schon länger angewandt.)
Der Eid und die Kriminalisierung der Sünde
Für Illich interessant an dieser ganzen Geschichte ist, dass zu dieser Zeit in etwa der Eid wieder grundlegendes Element der zwischenmenschlichen Beziehungen wird:
“Im 13. Jahrhundert war es grundlegend für die europäische Kultur geworden, einen Eid zu leisten … Im 12. Jahrhundert beispielsweise bestimmte die Kirche, dass die grundlegende Zelle der Gesellschaft, nämlich die Familie, durch einen gegenseitigen Vertrag von zwei freien Menschen zustande kam, die sich gewählt hatten und ihre Wahl durch einen Eid bekräftigten, der vor Gott geleistet wurde. Der Eid machte aus der Eheschließung ein so genanntes Sakrament, das sie unter Gottes Siegel und Schutz stellte.” (S. 110)
Illich reflektiert dann, dass der Eid eine Kulturkonstante sei, allerdings im Neuen Testament ausdrücklich verboten wurde. Er sagt, er würde gerne verstehen, warum dieses radikal neue Verbot entstand, “warum und in welchem Zusammenhang Jesus das Schwören verbietet.” Und warum die Christen dann aber beschlossen, doch zu schwören, woran sie ja bis heute festhalten.
Illich vermutet, dass die Verbindung der Menschen durch den Eid durch die Vereinigung im Heiligen Geist ersetzt werde. (Und dass das Schwören also wieder aufkam, als dieser nicht mehr verstanden, geschweige denn wahrgenommen wurde.1) Die frühen Christen hätten einerseits das Abendmahl (symposion) gehalten, zudem aber die conspiratio gepflegt, “was bedeutete, sich gegenseitig von Mund zu Mund zu beatmen.”
“Die [frühen] Christen kamen also zusammen, um zu essen und zu küssen, auf den Mund zu küssen. Auf diese Weise teilten sie den Heiligen Geist miteinander und wurden Glieder einer Gemeinschaft in Fleisch, Blut und Geist; und solange dieses Ritual das Zustandekommen einer Gemeinschaft begründete, machte die conjuratio, also die Herstellung einer Gemeinschaft durch gegenseitigen Schwur, keinen Sinn.” (S. 111f.)
Was nun für Illich daraus folgt, dass der Schwur, die conjuratio, wieder eine bedeutende Stellung im Rechtsleben einnahm, insbesondere im Bereich der Ehe, ist, dass die “sündhafte Untreue zum Verbrechen” wird:
“Der Eheeid verrechtlicht die Liebe, und die Sünde wird zu einer juristischen Kategorie. Christus kam, um uns vom Gesetz zu befreien, aber das Christentum ließ es zu, dass die Mentalität des Gesetzes ins Herz der Liebe eindringen konnte.” (S. 113f.)
Und Illich ist, in Anschluss an den Historiker Paolo Prodi, der Ansicht, dass diese “Kriminalisierung der Sünde den Schlüssel zum Verständnis der westlichen politischen Begriffe für die nächsten fünfhundert Jahre enthält.” (S. 115) Wie auch — die Kernthese seines Buches — generell die westlichen Institutionen historisch verständlich werden nur als hervorgegangen aus einer Pervertierung des Christentums, die sehr viel mit dieser Kriminalisierung der Sünde zu tun hat, man könnte anders auch sagen: damit, dass die Kirche sich entschieden hat, nicht Christus’ Weg der Machtlosigkeit zu gehen, sondern ein Machtfaktor zu werden.
Der Gedenkstein und der Rapunzelturm
An einem der Höfe steht ein Gedankstein, der an Christine und Victoire erinnert, die im Alter von 21 respektive 22 Jahren hier im Jahr 1944 von einer V1-Rakete getötet wurden. “Was ist eine Rakete”, wollen die Kinder wissen.
“Eine Art Bombe. Die explodiert und zerstört alles, was da ist.”
“Hast du das erlebt?”
“Nein, das war vor 80 Jahren, im Krieg. Seitdem hatten wir keinen Krieg mehr.”
Und denke: Aber jetzt rückt der Krieg wieder näher. Und das ist so saumäßig dumm. Und überflüssig. Aber die Kräfte wirken. Gestern erst hatte ich die Schätzung gehört, dass im Ukraine-Krieg wohl schon eine Millionen Menschen gestorben seien.
Kurz hinter den Bauernhöfen endet der Weg an einem Gatter zu einer Wiese, an der ein Schild mit der Aufschrift “privé” hängt. Aber nach rechts biegt ein schmaler, unbefestigter Wanderweg ab, der durch die Felder führt und schließlich in einer Schnellstraße endet. Zwischendurch kommt man aber an einem kleinen Türmchen vorbei, das auf einer der Wiesen steht.
Die Kinder fanden, er sehe aus wie ein Rapunzelturm und wollten dorthin. Praktischerweise befand sich zu dieser Wiese tatsächlich ein Drehkreuz als Durchgang. Wir liefen zum Turm, unrundeten ihn, stellten fest, dass es sich um ein Brunnenhaus handelte. Das Gemäuer war alt, teilweise verwittert. Eine Steinplatte im Gemäuer zeigte eine Inschrift, die aber kaum zu entziffern und zudem auf Französisch war. Ich schlug der Älteren, die unbedingt wissen wollte, was dort steht, vor, dass wir mit Papier wiederkommen und es abpausen könnten. Wahrscheinlich könnte man die Schrift dann entziffern.
Wir kehren um. Die Kinder wollen sich die Bauernhöfe noch einmal anschauen.
Findus gönnt sich
Am vorderen Hof begrüßt uns diesmal ein recht kleiner und ängstlich wirkender Schäferhund. Er bellt kurz, Findus schaut neugierig zurück, dann reißt der Schäferhund aus. Weil Findus sich mit der Schleppleine um das Lastenrad gewickelt hat, kann ich nicht sofort weiterfahren. Eine Frau kommt aus dem Haus und grüßt uns. Ich erkläre, dass wir in der Nähe wohnen und den Hof bewundern.
Dann nehme ich Findus kurz von der Leine, um sie vom Rad los zu kriegen. Das nutzt er, um, zack, durch den Zaun zum Schäferhund zu laufen. Wir sind alle baff, dass er da durch gepasst hat. Und wusste, dass er durchpassen würde, so wie er dagegen gerannt ist. Ich will mich entschuldigen, aber die Frau scheint es nicht zu stören und die Hund spielen schön miteinander.
So kommen wir ins Gespräch. Ich frage, ob die Ställe in Nutzung sind. Das hätten sie wieder vor, sagt die Frau, aber sie seien noch damit beschäftigt, die Erbschaftssteuer zu bezahlen und hätten kein Geld für die nötigen Investitionen. Sie hätten das Haus von einem Freund geerbt. Und in einem solchen Fall betrage die Erbschaftssteuer 80%! Sie leben da jetzt ohne richtige Heizung, nur ein Zimmer ist renoviert. Eigentlich sei es Quatsch gewesen, diese Erbschaft anzutreten, aber der Freund sei ihnen wichtig gewesen.
So sind Menschen, denke ich. Machen die unsinnigsten Dinge für Freunde, selbst wenn diese schon tot sind, ohne Rücksicht auf Verluste. 80% Erbschaftssteuer. Der belgische Staat! Meine Güte!
Die Kleine ist schon müde, und will auf meinen Arm. Irgendwann kommt Findus auch zurück gelaufen und wir machen uns auf den Heimweg.
Trautes Heim…
Zurück zu Hause wollen die Kinder ein Picknick im Garten machen. Es ist irgendwie schon nach Mittag, also passt das gut. Sie organisieren sich eine Picknickdecke, ich das Essen.
Dann ignorieren sie beides aber, weil sie im Baum herumklettern.
Findus schlägt kurz an, weil der Postbote kommt. Ansonsten ist er platt vom langen Ausflug und schläft unter’m Gartentisch.
Ach, die Maschine. Wie wohl es tut, wenn sie stillsteht. Wenn man nicht funktioniert, sondern einfach nur lebt — in vollen Zügen. Der Haushalt, die Finanzen, die Arbeit, die Politik, selbst die Philosophie schweigen, während ich das Spiel des Herbstwindes mit den Magnolienblättern beobachte und das Spiel der Sonne in Licht und Schatten.
Ihr dürft auch einfach nur kommentieren, wie weak der Titel dieses Artikels war, wie bescheuert ich selbst, oder wie süß der Hund. Ich freue mich über jeden Kommentar.
Lest auf jeden Fall noch den Witz in der Fußnote!
Dazu einen Witz, den ich vor kurzem erzählt bekam: Der Himmel will einen Betriebsausflug machen auf die Erde und es wird überlegt wohin. Jerusalem wird vorgeschlagen. “Nein, da will ich nicht hin”, sagt Jesus, “da habe ich unangenehme Erfahrungen gemacht.” Dann vielleicht nach Lourdes. “Auf gar keinen Fall”, sagt Maria, “da fühle ich mich echt nicht wohl.” Warum gehen wir nicht nach Rom? “Au ja”, ruft der Heilige Geist. “Da war ich noch nie.” (Ich find’s brutal lustig.)









Danke Conrad, ich finds wunderschön erzählt. Und dass du den Kommentar auch jetzt noch liest, rechne ich dir hoch an. Danke für die echten Ortsnamen. So finde ich dich (fast), 600 km von hier. Und ja, die Pervertierung des Christus-Impulses, üble Sache, und trotzdem habe ich Hoffnung, dass die Widersacher irgendwann erlöst werden können, da stehen noch viele Jahrhunderte Arbeit an.
Trag deiner Familie und dir und Findus und den Hühnern Sorge, die Welt braucht euch.
Lieben Gruß aus dem Land der Diminutive.
Hab alles mit Illich weggelassen, der Ausflug hat mir sehr gefallen!