Die Tage vergehen und so entsteht das Leben und vergeht und am Ende wartet der Tod. Am Ende? Oder wartet er schon die ganze Zeit? Und was wirst du mitnehmen können? Und was wird es am Ende bedeutet haben? Wird es etwas bedeutet haben?
Matthäus 6:19-21: Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, wo Motten und Rost sie fressen und wo Diebe einbrechen und stehlen. Sammelt euch aber Schätze im Himmel, wo weder Motten noch Rost sie fressen und wo Diebe nicht einbrechen und stehlen. Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz.
I.
Als Jugendlicher las ich Camus’ Der Mythos des Sisyphos. Ganz zu Beginn benennt Camus die Frage des Selbstmords als »die Grundfrage der Philosophie«. Auf eine solch absurde These (pun intended) kann man freilich nur in einer solch verworrenen Zeit kommen, wie es die Mitte des 20. Jahrhunderts war. Aber für einen solch verlorenen Menschen, einen Existentialisten, mag die These durchaus stimmen. Nicht aber stimmte sie für die Antike, oder das Mittelalter, oder auch noch weite Teile der Neuzeit, mitnichten stimmte sie für Sokrates, Platon, Aristoteles, Thomas von Aquin und die Scholastiker, Descartes und Locke und Pascal, noch nicht einmal für Kant und Hegel, und wie sie alle heißen.
Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert kulminiert das Gefühl der Sinnlosigkeit der Welt und Nietzsche schreibt, der »unheimlichste aller Gäste« stehe vor der Tür: der Nihilismus. Inzwischen sei der Gast eingetreten, schreibt Hans Jonas 1952, und sei längst kein Gast mehr, aber der Existentialismus versuche sich als guter Gastgeber.
Die Frage war also die längste Zeit über nicht, ob man leben soll, sondern wie - was das Gute Leben ausmacht und unter welchen Umständen man bereit sein sollte, zu sterben - »Lasst uns überdrüssig sein dessen … was nicht sterben will.« (Neruda) -, was also den Guten Tod ausmacht.
Diese Frage streift Camus immerhin im zweiten Absatz seines Essays, indem er die Beobachtung äußert, Menschen ließen »sich paradoxerweise für die Ideen oder Illusionen umbringen, die ihnen einen Grund zum Leben bedeuten.« Und dann, in Parenthesen: »Was man einen Grund zum Leben nennt, ist gleichzeitig ein ausgezeichneter Grund zum Sterben.« Um dann doch zum Fehlschluss zurückzukehren, »dass der Sinn des Lebens die dringlichste aller Fragen ist«.
Natürlich ist dies wie erwähnt für den Existentialisten korrekt, aber dieser muss sich zunächst einmal durch jahrelange gedankliche Verwirrungen an diesen Punkt hingearbeitet haben, die Ideen und die Illusionen gleichzusetzen, wie Camus es in seinem oben zitierten Satz impliziert. Aber die Ideen, so meine These, sind nicht Illusionen, sondern die »Schätze im Himmel«, die das Evangelium erwähnt.
II.
Was man einen Grund zum Leben nennt, ist gleichzeitig ein ausgezeichneter Grund zum Sterben. (Camus)
Prüfen wir diese Maxime als Heuristik, fällt auf, dass sie die hedonistische Lebensweise wie auch die egoistische im weiteren Sinne verwirft. Man kann für andere Menschen leben, zum Beispiel die Familie, und bedenkenlos für sie sterben. Man kann auch für eine Idee leben und sterben, beispielsweise Vaterlandsliebe im Krieg, oder Wahrheitsliebe in der Diktatur, oder Freiheitsliebe in der Sklaverei, um nur wenige plakative Beispiele zu nennen.
Menschen sind aber doch auch bereit, ihr Leben für die Möglichkeit, zu Wohlstand zu kommen, zu riskieren. Oder sie nehmen Risiken in Kauf, die mit einem hedonistischen Lebensstil einher gehen. Aber riskieren ist nicht das Gleiche wie sich willentlich opfern.
III.
Aber wie kommt man als Jugendlicher überhaupt dazu, Camus zu lesen? Und kann man ihn überhaupt verstehen? Als Jugendlicher versteht man in aller Regel eigentlich überhaupt nichts, weder Literatur noch Philosophie, noch die eigenen Beweggründe, geschweige denn die der Anderen. Aber immerhin wähnt man sich, alles bereits verstanden zu haben und dieser Wahn ist wahrscheinlich notwendig um überhaupt so etwas wie Selbstbewusstsein entwickeln zu können und voller Elan in die Welt zu stürmen. (Und dieser Wahn hält an, bis ins Erwachsenenalter hinein, und wenn er es nicht tut, wird man - zumindest eine gewisse Zeit lang - handlungsunfähig.)
Meine erste Freundin war ein großer Fan der Serie Buffy - Im Bann der Dämonen, und so kam ich in den Genuss, mir das auch alles anzusehen (keine Ironie, ich habe es wirklich genossen). In der ersten Staffel gibt es eine Szene, in der Buffys Liebhaber, Angel, irgendwo herumsitzt, meiner Erinnerung nach in einer Art Ruine, aber wer weiß, jedenfalls in einem romantischen Ambiente, und ein Buch liest. Das Buch ist Der Ekel von Sartre.
Weil ich Angel sau cool fand, besorgte ich mir das Buch und las es und war angetan davon. (Aus dem gleichen Grund kaufte ich mir eine Lederjacke…) Nachdem ich Der Ekel gelesen hatte, wahrscheinlich, ohne irgendetwas darin wirklich zu verstehen, war ich angefixt vom Französischen Existentialismus und las weitere Bücher von Sartre und von Camus, dessen Bücher im gleichen Verlag und ebenfalls in roten Taschenbuchausgaben erschienen waren. Ich glaube, ich las von Camus zunächst Der Fremde, aber dann schnell auch den Mythos, ohne irgendetwas zu verstehen, aber trotzdem mit Genuss. (Und vielleicht verstand ich das ein oder andere ja doch, zu einem gewissen Grade.)
Aber im Nachhinein glaube ich, dass die Existentialisten nicht aufgrund ihrer philosophischen Tiefe bestochen haben - schließlich las ich ja auch vor allem die Romane, später dann auch von Simone de Beauvoir - sondern aufgrund der Power ihrer Attitüde, die sehr gut zu jugendlichem Rebellentum passt. »Nichts ist wahr, alles ist erlaubt, vor allem aber ist es extrem wichtig, lässig zu sein.«
IV.
Camus nutzt die Figur des Sisyphos aus der griechischen Mythologie, um seine zentrale These als Bild zu formulieren: Sisyphos ist von den Göttern dazu verdammt, eine sinnlose Aufgabe für alle Ewigkeiten auszuführen - nämlich einen Stein einen Hügel hinaufzurollen, der dann wieder hinunterrollt, sobald er den höchsten Punkt erreicht hat und dies ad infinitum. Und dennoch, oder sogar deswegen, so Camus, müssten wir ihn uns »als einen glücklichen Menschen vorstellen.«
Ich glaubte damals, dass das stimmt, weil ich alles glaubte, was ich in Büchern las, weil ich mich beim Lesen wohl, ohne mir dessen damals bewusst zu sein, in die Perspektive des Autors einfühlte, und aus seiner Perspektive stimmte, was er schrieb. So konnte ich Paulo Coelho lesen und seine Bücher als wahrhaftig empfinden und zugleich Richard Dawkins lesen und seine Bücher als genauso wahrhaftig empfinden. Erst ab einem bestimmten Punkt, vielleicht so mit 21, sah ich mich gezwungen, mich zwischen diesen Standpunkten zu entscheiden, und nur noch einen für wahr zu halten. Damals entschied ich mich zähneknirschend für Dawkins, aber heute habe ich mich der ursprünglichen Perspektive wieder angenähert, nachdem ich im Philosophie-Studium jahrelang Wahrheitstheorien studierte, um mich schließlich ziemlich intensiv auf Richard Rorty einzuschießen. Aber davon will ich ein anderes Mal berichten.
V.
Was ich als Jugendlicher aber mit aller Deutlichkeit verstand, war, dass es nichts gab, wofür ich zu sterben bereit war, und dass dies wohl ein Defekt in meiner Persönlichkeit sein müsse. Denn, so mein Gedanke in nachträglich präziserer Wiedergabe, da man sowieso leben und auch sterben müsse, sei es doch sehr viel besser, für etwas zu leben und zu sterben, als ohne jeden Sinn.
Ich entwarf damals ein Gedankenexperiment, das mir seitdem immer wieder durch den Kopf gegangen ist.
Du kannst einen Draht anfassen, um eine Belohnung zu erhalten Auf dem Draht kann eine tödliche elektrische Spannung liegen, die dich sofort tötet, wenn Du ihn anfasst. Frage: Wie hoch muss der Gewinn sein, und relativ dazu, wie hoch die Wahrscheinlichkeit zu überleben, dass Du den Draht anfasst. Würden eine Million und 999/1000 reichen?
Und das Experiment variierend, was würde sich für dich ändern, wenn du durch den Kontakt nicht sofort, sondern erst in drei Wochen sterben würdest, es aber vorher wüsstest, oder eben auch nicht wüsstest. Wenn du durch den Kontakt andere Menschen retten könntest? Fremde, oder Bekannte, oder Freunde, oder Kinder?
Als Jugendlicher musste ich mir eingestehen, dass ich den Draht nicht würde anfassen können, egal worum es ginge, und egal wie die Wahrscheinlichkeiten lägen, und dass dies wohl zeigte, dass ich eine irrationale Angst vor dem Tod hatte.
VI.
Mich hat immer fasziniert und beunruhigt, wie lebensgefährlich das Leben früher war. Insbesondere darauf gestoßen wurde ich von Berichten über frühe Seefahrer und Flieger, aber auch über Soldaten im Krieg. Wieso waren diese früheren Menschen bereit, ihr Leben auf einer Reise ins Ungewisse zu riskieren? Wieso sind wir es heute nicht mehr? Ein Teil der Antwort liegt sicherlich darin, dass auch das Zuhausebleiben früher weniger Sicherheit bot. Andererseits ist auch heute noch das eigene Zuhause oft gefährlicher als das Reisen, und Autofahrten gefährlicher als Fliegen. Trotzdem haben die Menschen mehr Angst vorm Fliegen.
Klammern wir uns vielleicht stärker als früher an dieses Leben, gerade weil wir es für sinnloser halten? Ein sinnloses Leben auf sinnlose Weise zu verlieren wiegt vielleicht schwerer als ein sinnvolles Leben auf sinnvolle Weise zu verlieren?
VII.
Nach meiner Hochzeit kam mir der Gedanke, dass ich jetzt bereit sein müsste, für meine Frau zu sterben. Und etwas überraschend fühlte ich mich auch wirklich bereit, für sie zu sterben. Obwohl man wohl erst wirklich weiß, wie es um solche Fragen steht, wenn sich die Gelegenheit ergibt.
Nahbegegnungen mit dem Tod hatte ich ein paar, die drei, an die ich mich am lebhaftesten erinnere, liegen alle im Bereich meines jungen Erwachenenlebens.
Ich saß einmal in einem Auto, in dem nach und nach alle Passagiere, auch ich, eingeschlafen sind, und zuletzt dann auch der Fahrer. Wir wachten alle auf, als das Auto von der Straße abkam, aber zum Glück war dort ein breiter Schotterstreifen und zum Glück waren wir in diese Richtung abgedriftet und nicht in den entgegenkommenden Verkehr.
Dann habe ich selbst einmal in übermüdetem Zustand eine rote Ampel aus Versehen überfahren - ich fuhr auf die Ampel zu, sie wurde rot, ich dachte, dass ich jetzt bremsen müsse, und habe es aber irgendwie nicht getan… - und sah einen dicken LKW auf mich zukommen, aber er bremste und ich fuhr weiter, und wir kollidierten nicht. Das war im Zivildienst, wo ich ständig übermüdet war.
Und dann bin ich mit 23 einmal fast ertrunken, weil ich in Portugal mit Freunden gut gelaunt bei wehender roter Fahne trotzdem in den Atlantik gesprungen bin und die hohen Wellen uns raustrugen, und die Rettungsschwimmer uns nicht gesehen haben. Aber wir waren in der Nähe einer Klippe, und auf der Klippe stand ein Restaurant, und der Restaurantbesitzer hat uns gesehen und die Rettungsschwimmer angerufen und so wurden wir gerettet.
Ich war dumm genug, mein Leben für Nichts zu riskieren, aber ich wäre nicht bereit gewesen, es für Etwas zu opfern. Ich hoffe, dass dies heute anders ist.
VIII.
»Verschlungen von der unendlichen Weite der Räume, von denen ich nichts weiß und die von mir nichts wissen, erschaudere ich«, schreibt Blaise Pascal im 17. Jahrhundert schon. »Ich staune, dass ich hier und nicht dort bin; keinen Grund gibt es, weshalb gerade hier und nicht dort, weshalb jetzt und nicht dann.« In diesem »keinen Grund« lauert der Nihilismus. Hans Jonas diagnostiziert ein über die »Heimatlosigkeit, Verlorenheit und Angst« hinausgehendes Gefühl der Sinnlosigkeit, dessen sich Pascal nur im irrationalen (aber nicht antirationalen) Rückgriff auf das Christentum erwehren zu können meint:
Als Funktion des Willens sind die Zwecke meine alleinige Schöpfung. Wille ersetzt Schau; die Zeitlichkeit des Akts verdrängt die Ewigkeit des »Guten an sich«. Dies ist die Nietzschesche Phase der Situation, in der der europäische Nihilismus an die Oberfläche bricht. Nun ist der Mensch allein mit sich.
Die Welt - ein Tor
Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer das verlor,
Was Du verlorst, macht nirgends Halt.So sprach Nietzsche (in »Vereinsamt«) und beschloss das Gedicht mit den Worten: »Weh dem, der keine Heimat hat!«
(Gnosis, Existentialismus und Nihilismus, in: Organismus und Freiheit, S. 296)
Mir scheint das Gefühl, nicht das Argument, das sich im Nihilismus ausdrückt, eine Art notwendiges Durchgangsstadium der Menschheit, aber auch im Leben eines jeden Menschen zu sein, eine Schwelle, die man passieren muss, um einen gewissen Ballast hinter sich zu lassen, eine gewisse Naivität, ein Festhalten am Alten, das aber nicht mehr funktioniert und in Zukunft immer weniger funktionieren wird. Auf das nihilistische Gefühl müsste man sich demnach einlassen, um es dann zu überwinden - oder daran zu scheitern, wie Nietzsche selbst, der die letzte Dekade seines Lebens in »geistiger Umnachtung« verbrachte.
Hans Jonas zitiert eine »berühmte valentinianische [gnostische] Formel«:
Was uns frei macht, ist die Erkenntnis, wer wir waren, was wir wurden, wo wir waren, wohinein wir geworfen wurden; wohin wir eilen, wovon wir erlöst werden; was Geburt ist und was Wiedergeburt. (S. 310)
Und schließt seinen Aufsatz mit dem Aufruf, es sei »Aufgabe der Philosophie« einen dritten Weg, einen Ausweg aus der Scylla und Charybdis Situation des modernen Geistes zu finden. Skylla: der dualistische Solipsismus, der uns ganz von der Welt trennt; und Charybdis: der monistische Naturalismus, der uns ganz in der Welt aufgehen lassen will. Beide führten in den Nihilismus. Und Jonas deutet an, was ihm vorschwebe, sei eine Überwindung des Dualismus zwischen Dualismus und Monismus. Was immer das ausbuchstabiert dann heißen mag.
IX.
Ich habe eine Theorie, die mir selbst recht spekulativ erscheint, aber doch eine gewisse Logik in sich trägt, weshalb ich sie abschließend vortragen will: Demnach hat der Nihilismus seinen Weg immer tiefer in die Seele des Menschen und der Menschheit gefressen: Im 17. Jahrhundert erfasst er das Denken, im 19. dann das Fühlen und im 21. Jahrhundert ist er bis in den Willen des Menschen vorgedrungen, und lähmt ihn im Handeln.
Umgekehrt wird auch die Überwindung des Nihilismus im Denken beginnen, und hat bereits begonnen, und ist in der Theorie zu einem großen Teil bereits zu Ende gedacht. Aber die Gedanken sind nicht lebendig genug ausgeformt, dass sie schon das Fühlen ergreifen könnten. Im Fühlen sind wir noch zu einem großen Teil dem Nihilismus ausgesetzt. Und im Wollen wissen wir nicht einmal, um mit einem Bild zu sprechen, wo uns der Kopf steht.
Wir wüssten schon, was zu tun wäre, aber wir tun es nicht, weil wir es nicht fühlen. Wir fühlen es noch nicht, weil wir es nicht zu Ende gedacht haben. Weil wir vielleicht, dies ist eine weitere spekulative Theorie von mir, dazu verdammt sind, erst einmal jeden möglichen Irrweg zu gehen, bevor wir den Ausgang aus diesem Labyrinth zu finden bereit sind. Aber die Hoffnung besteht, weiterhin, entgegen dem Nihilismus, dass es einen Ausgang gibt, und dass wir, etwas paradox gesprochen, nachdem wir ihn gefunden haben, erkennen werden, dass wir schon immer draußen waren.
Wenn der Gegenstand der Hoffnung das Unerfüllbare ist, können wir nur als Unrettbare - schon Gerettete - auf Rettung hoffen.
(Agamben, Der Freund, S. 68)
"Ich war dumm genug, mein Leben für Nichts zu riskieren, aber ich wäre nicht bereit gewesen, es für Etwas zu opfern. Ich hoffe, dass dies heute anders ist."
Die Passage fand ich interessant, weil ich sie überhaupt nicht nachvollziehen kann. Mir ist dadurch klar geworden, dass ich persönlich noch nie bewusst in Lebensgefahr geschwebt habe oder es schon verdrängt habe.