Europa - Die Hybris eines halben Jahrtausends
Ein Essay über den fiktiven Kontinent Europa, seine Expansion und seinen möglichen Kollaps.
Dieser Essay entstand im Rahmen der Blog-Challenge zum Stichwort “Europa” von
. Vielen Dank für die Anregung!Er ist ein Essay, also ein Versuch, über Dinge zu sprechen, die meinen Verstand und meine Bildung eigentlich übersteigen. Aber wie Cromwell schon wusste, zumindest behauptet das Robert Musil, Ein Mann kommt nie weiter, als wenn er nicht weiß, wohin er will, was, nebenbei bemerkt, ein Satz ist, den ich erst ca. zehn Jahre nach dem ersten Mal lesen verstanden habe. Aber egal ;)
I. Europa: Die wirkmächtige Fiktion
Europa ist der fiktive Kontinent. Während die anderen Erdteile geographisch sinnvoll definiert sind oder werden können, ist die Abgrenzung von Europa und Asien geographisch betrachtet unsinnig, weshalb der genaue Grenzverlauf sich historisch durchaus gewandelt hat, und selbst heute nicht feststeht, ob der höchste Berg Europas der Mont Blanc (unter 5.000m hoch) sei, oder nicht doch der Elbrus im Kaukasus (mit über 5.500m).
Was vielleicht auch egal ist, denn der höchste Berg Eurasiens ist ohnehin der Mount Everest (mit fast 9.000m) im Himalaya, befindet sich in Nepal und heißt auf Nepali eigentlich Sagarmatha. Dass er in der westlichen Welt als Mount Everest bekannt ist, nach einem ansonsten eher unbedeutenden britischen Landvermesser aus dem 19. Jahrhundert, hat auch mit der europäischen Hybris zu tun, die maßgeblich dafür verantwortlich ist, dass wir nicht von Eurasien sprechen, sondern von zwei getrennten Kontinenten, dem uralten Asien, und dem jungen, etwas unreifen, dafür aber überschießenden Europa.
Schuld sind aber eigentlich die alten Griechen, denn diese störten sich nicht daran, dass sie selbst eigentlich halb in Europa und halb in Asien (in der heutigen Türkei) siedelten, sondern grenzten ihren Teil der Welt von den barbarischen Persern ab, die im Osten lagen.
Der Legende und teilweise auch der aktuell für wahr gehaltenen Geschichte nach kommen die heute europäischen Völker aber zu einem Großteil aus Asien, sodass wir Europa auch als Mittelglied zwischen dem uralten Asien und dem neumodischen Amerika eingliedern können, wobei Afrika noch älter als Asien wäre, einer Art Traumzeit entsprechend, als Urquell der Menschheit, und die Antarktis und Australien in diesem Sinne keine Rolle spielen, genauso wenig wie die jeweils autochthone Bevölkerung, die jeweils an den Rand gedrängt und plattgemacht wurde.
Wobei es in Wahrheit natürlich viel komplizierter ist, wenn man mit der modernen Forschung davon ausgeht, dass Amerika zunächst über die zugefrorene Beringstraße1 von Asiaten, sozusagen Chinesen, besiedelt wurde, und natürlich auch Australien und Ozeanien von Asien aus bevölkert wurde. Alle großen und heute noch lebendigen Religionen sind ja auch in Asien entstanden. Aber lassen wir diese Nebensächlichkeiten beiseite, wo sie hingehören.
Europa ist also eigentlich eine Fiktion, kein echter Kontinent, sondern eine Halbinsel Asiens, zusammengenommen Eurasien, aber Fiktionen haben es oft an sich, wirkmächtiger zu sein als Realitäten. So gesehen sind alle Grenzen menschliche Fiktionen, und selbst die unsinnig von Europäern im Rest der Welt gezogenen Grenzen, oft mit Lineal und Stift auf einer Landkarte, ohne Rücksicht auf die vor Ort herrschenden Befindlichkeiten und Traditionen, haben in den meisten Fällen bis heute Bestand.2
Schauen wir uns darum ruhig diese besonders wirkmächtige Fiktion einmal genauer an. Blicken wir dazu zunächst in die Vergangenheit, dann in die Gegenwart, und wagen schließlich einen Ausblick in die Zukunft.
II. “Die Unterwerfung der Welt”
Ungefähr 2.000 Jahre nachdem die Griechen Europa vom Rest Asiens abgespalten hatten, begann die Europäische Expansion. Bis dahin hatte Europa gemütlich im sogenannten christlichen Mittelalter vor sich hingedümpelt,3 und alle Hände voll damit zu tun gehabt, sich gegen weitere Völkerwanderungen aus Asien mit mehr oder weniger Erfolg zur Wehr zu setzen. Wir denken an die Hunnen, dann die Araber, die Ottomanen und schließlich die Mongolen.
Gegen Ende des 15. Jahrhunderts ist vielleicht politisch klar, wo die Grenze zwischen Europa und Asien verläuft — es ist die Grenze zwischen Christentum und Islam, nachdem die meisten Mongolenführer sich zu letzterem bekehrt haben, und die Mauren aber aus Andalusien vertrieben wurden. Während diese Grenze längere Zeit relativ stabil bleibt,4 zieht es die iberischen Mächte auf die See hinaus. Zunächst wird die Umschiffung Afrikas versucht, dann aber auch die Beschiffung des Atlantik in Richtung Westen.
Die Umschiffung Afrikas und der Gewürzhandel
In beiden Fällen ist das Ziel Indien, von wo man auf direktem Wege Gewürze kaufen will, um sie nicht mehr zu Wucherpreisen aus Venedig und letztlich von den Arabern erwerben zu müssen. Denn Europa ist auf den Geschmack gekommen und kann nicht mehr ohne die exotischen Gewürze, die es nur in Asien gibt. 1498 erreicht Vasco da Gama nach Umschiffung des Kaps der Guten Hoffnung auch tatsächlich Calicut (heute Kozhikode) an der Malabarküste, auch Pfefferküste genannt. Er musste allerdings zur Kenntnis nehmen, dass das Arabische Meer von den Namensgebern dominiert war.
Die Muslime machten allerdings den Fehler, da Gama zurückkehren zu lassen, woraufhin weitere Expeditionen, auch militärische, folgten, denn die begehrten Gewürze konnte man vor Ort zu Preisen kaufen, “die ich kaum zu nennen wage”, wodurch das Handelsmonopol der Araber und ihrem europäischen Abnehmer Venedig untergraben wurde. Im Nachhinein kann man sagen, dass um 1500 herum eine “Handelsrevolution” als “global event” stattgefunden hat.
Die Details dieser Zeit sind äußerst interessant, aber wir können hier nicht dabei verweilen. Besonders ausführlich, wenn auch eher trocken, sind sie in Wolfgang Reinhards Die Unterwerfung der Welt: Globalgeschichte der Europäischen Expansion 1415-2015 geschildert. Eher in Form eines Mosaiks amüsanter bis tragischer Begebenheiten findet sich viel Schönes in Wolfgang Behringers Der große Aufbruch: Globalgeschichte der Frühen Neuzeit.5
Die “Neue Welt” und die europäischen Seuchen
Bekanntlich hat Ende des 15. Jahrhunderts auch Kolumbus (für die spanische Krone) Amerika entdeckt, das heißt, eigentlich die Karibik, obwohl es dennoch absurd ist, dass der Doppelkontinent nach Amerigo Vespucci benannt ist, nur weil dieser als erster erkannt haben soll, dass es sich tatsächlich nicht um Asien, sondern um einen neuen Kontinent handelt. Schuld ist, wie so oft in der Geschichte, ein Deutscher: der Kartograph Martin Waldseemüller, der Amerika als Namen verwendete. Zum Glück waren die Rollen nicht vertauscht, sonst sprächen wir jetzt von Nord- und Südwaldseemüll.6
Um 1568 waren globale Seehandelsrouten etabliert, die alle bekannten Kontinente verbanden, obwohl von Nordamerika bisher nur das heutige Mexiko teilweise erschlossen war. (Was, nebenbei bemerkt, ebenfalls eine unglaubliche Geschichte ist, die der geneigte Leser bei Behringer sehr lesenswert nachschlagen kann, die spanischen Conquistadores waren jedenfalls echte Schlawiner.)
Mit dieser Expansion Europas ging einher die Ausrottung der meisten Eingeborenen, mit denen man in Kontakt kam. Allerdings geschah dies meistens nicht absichtlich, sondern in Folge der Einführung der grässlichen Krankheitserreger, welche die Europäer mit sich überallhin trugen. Selbst mittlerweile immun, merkten sie gar nicht, welche Schrecklichkeiten sie da im Gepäck hatten. Gerade im südamerikanischen Urwald wurden Stämme oft dahingerafft, noch bevor sie überhaupt merklichen Kontakt zu den Europäern gehabt hätten. Dadurch bot sich den vordringenden Conquistadores der unheimliche Anblick von ausgestorbenen Geisterdörfern.
Damit soll aber natürlich nicht gesagt sein, dass die Europäer nicht auch ab und an äußerst brutale Gewalt angewandt hätten. Aufgrund ihrer geringen Anzahl war ihnen eine friedliche Begegnung in aller Regel aber lieber. Wobei selbst friedliche Begegnungen aufgrund des europäischen Größenwahns zur zumindest formalen Unterwerfung der Eingeborenen führte. Das Land wurde für die jeweilige Krone in Besitz genommen. Übrigens hatten die Spanier und Portugiesen ihre jeweilige Interessensphären vom Papst abstecken lassen, als die “Neue Welt” noch kaum bekannt war, und dadurch fiel der Großteil Amerikas in spanische Hand, Brasilien aber in portugiesische — und darum wird im größten Land Südamerikas auch heute noch Portugiesisch gesprochen.
Die neuen Europas
Und so entstanden im Laufe der nächsten Jahrhunderte “kleine Europas” in den Amerikas, in Australien und Neuseeland, in Südafrika, und im nördlichen Teil Asiens, der vom ursprünglich hauptsächlich europäischen Russland nach und nach eingenommen wurde, bis der Pazifik erreicht war, und dann weiter bis nach Alaska, dass das Zarenreich bekanntlich erst Mitte des 19. Jahrhunderts (für ‘n Apple und ‘'n Ei) an die USA verkaufte. Wenn wir uns heute eine Weltkarte nach dominierender Religion aufgeschlüsselt anschauen, können wir sehen, wo diese Neu-Europas außerhalb des geographischen Kernlandes entstanden.
Allerdings heißt das Buch von Reinhard nicht umsonst “Die Unterwerfung der Welt”, denn auch Asien und zuletzt (!) Afrika7 wurden großteils europäischer Herrschaft unterstellt, nur dass sich hier der Einfluss subtiler hielt, und Asien und Afrika stärker Asien und Afrika blieben, als der Rest der Welt. Aber gerade in wirtschaftlichen Fragen sind auch diese Weltteile durch und durch europäisiert, sodass wir nicht ohne Grund behaupten können, die Fiktion Europa sei heute eigentlich die ganze Welt. Aber wir können der Hoffnung Ausdruck verleihen, dass sich dieser — in geologischen Maßstäben betrachtet — kurze Wahnsinn bald selbst beenden wird.8
III. “Endspiel Europa”
Spätestens seit 1914 beginnt die eigentlich suizidale Phase Europas, in der wir uns befinden. Der 1. Weltkrieg lässt vier Reiche kollabieren — das deutsche, das habsburgische, das russische und das osmanische — und nach dem 2. Weltkrieg liegen auch die Kolonialreiche des Vereinten Königreichs und Frankreichs brach — auch wenn diese noch Jahrzehnte brauchen, um diesen Umstand auch anzuerkennen.
Dieser moderne “30-jährige Krieg” und die Zerstörungskraft des entfesselten militärischen Prometheus sorgten dafür, dass der sich unmittelbar anschließende Konflikt zwischen den neuen Großmächten USA und UdSSR “kalt” bleibt — zumindest in den Europas, während er sich in einzelnen Regionen Asiens austobt, wir denken an Korea, Vietnam und Afghanistan, aber auch an die Beinahe-Eskalationen, bspw. wegen Kuba.
Das vergebliche Hoffen auf Frieden
Egon Friedell schrieb schon in den späten 1920er Jahren, er habe die Hoffnung, dass dieses dunkle Zeitalter Europas — das er im ausgehenden Mittelalter mit der schwarzen Pest beginnen lässt — nun ende, “dass diese Krisis durch das heilkräftige Trauma des [1.] Weltkriegs nunmehr überwunden und ein neues Weltalter angebrochen ist”, und die gleiche Hoffnung knüpfte sich auch 1945 und 1990 an die Endphasen der Konflikte. Vergeblich!
100 Jahre nach dem Beginn des 1. Weltkriegs war klar, dass wir dieses dunkle Zeitalter noch immer nicht überwunden haben, dass es sich lediglich um kurze Verschnaufpausen zum Sammeln neuer militärischer Kräfte, und dem Finden oder Erschaffen neuer Feinde gehandelt hatte, und dass ganz im Gegenteil die — vielleicht unbewusste — Lust am Kriegsspiel wieder aufflammte. Jeder weiß, dass ein Konflikt im Äußeren von den inneren Problemen ablenken kann. Das gilt für den einzelnen Menschen genauso wie für Gesellschaften.
Das Klagelied auf die EU
Während die EU nach dem Ende des kalten Krieges eigentlich die Überwindung des Nationalstaates, zumindest in seinen zerstörerischen Tendenzen, anstrebte, beobachten wir seit Jahren schon, spätestens seit der Finanzkrise 2008, dass dieses Projekt scheitert, der Nationalismus, sozusagen der Egoismus der Nationen, wieder aufflammt, und die Welt wieder in Lager zerfällt, allerdings unter ganz anderen Bedingungen als sie noch im 20. Jahrhundert herrschten. Das Klagelied auf das sterbende Friedensprojekt der EU singen Ulrike Guérot und Hauke Ritz in ihrem Essay Endspiel Europa.9
Die EU ist krank, sie krankt an einem Mangel an Demokratie, an Realismus und an Vision. Deutschland, die wirtschaftlich bisher dominierende Macht der EU,10 gilt aktuell als der kranke Mann Europas.11 Die Stimmung ist nicht gut, es fehlt auch auf nationaler Ebene an Demokratie, Realismus und Vision.12
Alter Wein und alte Schläuche
Deutschland, die EU, die ganze westliche Welt müssten sich eigentlich neu erfinden. Stattdessen bemüht man sich nach wie vor, um ein Bild aus der Bibel zu bemühen, alten Wein in neue Schläuche zu füllen, oder auch neuen Wein in alte Schläuche, aber in Wahrheit mangelt es sowohl an neuem Wein, als auch an neuen Schläuchen, weshalb man damit vorlieb nehmen muss, alten Wein in alte Schläuche zu füllen und so zu tun, als wäre dem nicht so.13
Der Westen müsste sich in Demut üben und seinen Vormachtanspruch aufgeben, gerade Deutschland täte es Not, sich in den Windschatten der Geschichte zu stellen.14 Das Gegenteil wird versucht. Es herrscht eine große Angst davor, den alten Wein und seine Schläuche zu verlieren. Das ist verständlich ob des Mangels an Neuem. Es ist der horror vacui, der die Menschen am Alten sich festklammern lässt. Wie soll man denn optimistisch in eine nicht länger vom Westen dominierte Zukunft schauen? Insbesondere wenn einem seit Jahrzehnten eingeredet wird, nur der Westen habe etwas geleistet, nur er habe der Welt etwas zu bieten, und nur in ihm könnten Menschen frei und glücklich leben.
Vielleicht aber muss man diesen Sprung in das Ungewisse wagen, vielleicht muss man die Sicherheit aufgeben, insbesondere zu “wissen”, dass man auf der richtigen Seite steht. Denn das kann man vielleicht nicht wissen, sondern nur glauben, hoffen, oder auch verwerfen. Damit etwas wahrhaft Neues entstehen kann, was uns dringend Not tut, muss das Alte zurückgelassen werden. Wenn dem aber so ist, und der Westen dies aber nicht einsehen will, werden wir erst alles verlieren müssen, um zu unserem wahren Selbst zu finden.15
IV. Die (eurasische?) Zukunft Europas
Wir dürfen uns die Zukunft Europas als offen vorstellten: Was sich abspielen wird, hängt von dem ab, was wir tun, welche Entscheidungen wir als Kollektiv treffen, in welche Richtungen wir uns verwickeln lassen oder eben auch nicht. Die Zukunft wird sich irgendwo auf dem Spektrum zwischen der totalen Apokalypse eines Atomkriegs auf europäischem Boden und der seligen Utopie des ewigen Friedens ansiedeln.
Sehr viel wird von der Frage abhängen, ob es uns gelingt, einen weiteren großen Krieg zu vermeiden. Gregor Gysi hat in seiner Rede staatsmännisch behauptet, alle wollten Frieden, die einen glaubten nur, er sei mit Aufrüstung besser zu erreichen, die anderen, mit Abrüstung, das müsse man akzeptieren und sich nicht gegenseitig beschimpfen.
Mir fällt allerdings auch nach längerem Nachdenken kein Beispiel in der europäischen Geschichte ein, wo Aufrüsten einen Konflikt nach einhelliger Meinung verhindert hätte. Selbst die atomare Aufrüstung, die möglicherweise konventionelle Kriege in Europa, nicht aber im Rest der Welt, verhindert hat, wäre über kurz oder lang wahrscheinlich eskaliert, wenn es nicht Abrüstungsbemühungen auf US- wie auf Sowjet-Seite gegeben hätte, die dann auch umgesetzt wurden.
Zudem: Was geschieht denn mit all den Waffen, die man dann im Idealfall nie brauchen wird? Werden sie, wie auch in der Vergangenheit zur Genüge geschehen, dann in den Rest der Welt verschickt, um dort die Kriege und Konflikte anzuheizen? Oder werden sie “lediglich” ein Milliardengrab industrieller Wertschöpfung sein?
“Alle Menschen werden Brüder”
Vielleicht haben wir auch nur die Wahl zwischen einer kurzen oder langen Übergangsphase des Schreckens, können also den Zusammenbruch der westlichen Weltordnung nicht verhindern, sondern lediglich seine Auswirkungen abmildern. Wer weiß?16 Rudolf Steiner hat sich dahingehend geäußert, dass es möglich gewesen wäre, den 1. Weltkrieg zu verhindern, wenn sich eine ausreichende Menge von Individuen gefunden hätte, an den deutsch-französischen Beziehungen auf seelisch-geistiger Ebene zu arbeiten. Wer weiß?
Entsprechendes könnte man heute vermuten, in Bezug aber auf welche Länder? Möglicherweise Deutschland und Russland. Es gibt die Theorie, dass die USA unbedingt eine intensive Zusammenarbeit, gar Freundschaft zwischen Deutschland und Russland verhindern wollen, weil dieser eurasische Zusammenschluss so mächtig wäre, dass er die US-amerikanische Hegemonie gefährde.
Im Sinne des Schiller’schen Wortes “Alle Menschen werden Brüder”,17 den Marx und Engels traurigerweise zugunsten ihrer “Proletarier”-Maxime verwarfen, könnte man auch vermuten, dass man an der Völkerverständigung zwischen allen fast 200 Nationen arbeiten müsste. Einen Versuch wäre dies so oder so wert. Was kann schlecht daran sein, dass allgemein-Menschliche im Anderen zu suchen?
V-A-V statt T-A-T
Wir müssen aufhören uns auf das T-A-T - Schema einzulassen: Teilen - Abwerten - Töten, das Daniele Ganser immer wieder diagnostiziert hat, und zwar im ersten Schritt schon: dem Einteilen der Menschen in die Guten und die Schlechten.18 Stattdessen brauchen wir eine Kultur, in der das V - A - V - Prinzip gilt, das Daniele Ganser auf einer Tagung mit Heinz Grill entwarf:
Verbinden - Aufbauen - Verwandeln
Es wird heute gerne so getan, als sei dies ja nicht möglich, weil diese finsteren Mächte in Asien, namentlich Russland und China, das ihrerseits gar nicht wollten, sondern unbedingt unsere Weltordnung vernichten wollten. “They hate our freedom”, wie die US-Amerikaner nach 9/11 glaubten. Möglicherweise hassen die Anderen aber nicht unsere Freiheit, sondern unsere Überheblichkeit und unsere Neigung dazu, militärisch und wirtschaftlich Fakten zu schaffen, und damit die Souveränität aller anderen Länder zu beschneiden, und oft genug auch ihren inneren Frieden, worunter im 21. Jahrhundert vor allem die arabische Welt sehr zu leiden hatte. Was die BRICS-Staaten eint, ist das Streben, ja, das Verlangen, nach der vollständigen Souveränität.19
Ich zumindest bin überzeugt davon, dass es problemlos möglich wäre, mit Russland und China und allen anderen Ländern eine friedliche Koexistenz zu bewirken. Was wir dafür aufgeben müssten, was wir aber sowieso aufgeben sollten, ist unsere Überheblichkeit, mit der wir weiterhin alten Wein in alte Schläuche packen und dies als Stein der Weisen ausgeben.
Wie seht ihr das? Lasst mir gerne einen Kommentar da, gerne auch, warum ich mit all dem — oder Teilen davon — total Unrecht habe :) Oder wo ihr euch mehr Tiefe oder mehr Humor (oder weniger) gewünscht hättet?
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Eric Weinstein und Heather Heying widmen diesem Kapitel der Menschheit einige Aufmerksamkeit in ihrem Buch, dem ich bereits eine Rezension widmete, die ich selbst ziemlich gut geschrieben finde, vor allem die Einleitung, und deren zweiter Teil aber noch aussteht, weil sie kaum Leser fand. Und ja, diese Fußnote ist Schleichwerbung für meinen Artikel, denn auf die Behring-Straßen-Geschichte gehe ich in meiner Rezension (zumindest im ersten Teil) gar nicht ein. Die Überschrift des ersten Teils (The end is extremely fucking nigh) ist übrigens ein Zitat aus einem Zombie-Film!
Schaut euch eine Weltkarte an. Überall, wo die Grenzen in geraden euklidischen Linien verlaufen, haben die Europäer Mist gebaut. Europa selbst hat selbstredend keine solchen Grenzen.
Egon Friedell, den ich möglicherweise zu oft bemühe, um meine Fußnoten zu bereichern, beschrieb das Mittelalter als “hell”, es habe den Charakter eines Gemäldes gehabt, man habe “damals wirklich alles” geglaubt, dadurch aber auch “an sich” — dadurch sei “das ganze Leben” ein “Abenteuer” gewesen, gleichzeitig aber vom “Müßiggang” geprägt: “entweder im wirklichen, wie die zahllosen Ritter, Bettler und Spielleute oder im gelehrten wie die Kleriker; und hierin liegt wiederum etwas Poetisches.” Aber selbst der Handwerker, der Arbeiter, der Bauer seien zugleich “gewissenhafter” und “fauler” gewesen als in der Moderne, vom Gedanken ausgehend, “dass der Mammon vom Teufel sei” und “dass die Arbeit kein Segen, sondern eine Last und ein Fluch sei”. Und Friedell wirft die Frage auf, “welchen Unterschied in der gesamten Gefühlslage einer Kultur es ausmachen muss, wenn das Geld nicht die allgemeine Gottheit ist, der jeder willenlos opfert und die alle Schicksale souverän modelt und lenkt”? (Wobei es mir sinnvoll und möglich erscheint, Arbeit sehr wohl als Segen anzusehen, und trotzdem nicht dem Geld zu huldigen.)
Wobei Portugals Adel sich beim Versuch dezimiert hat, die Rückdrängung der Muslime auch auf Nordafrika (Marokko) auszuweiten. Bei der Schlacht der drei Könige trafen der junge portugiesische König Sebastião, der gestürzte marokkanische Sultan Muhammad al-Mutawakkil, sowie, siegreich, der neue Sultan Abu Marwan Abd al-Malik aufeinander, und alle drei starben: Sebastião in der Schlacht, al-Mutawakkil ertrank auf der Flucht, und al-Malik erlitt einen Herzinfarkt. Behringer kommentiert: “Die Schlacht von Al-Quasr al-Kabir (4.8.1578) veränderte den Lauf der Weltgeschichte. Die Niederlage führte Portugal in die Katastrophe. Ein großer Teil der adeligen Führungsschicht war tot. … Der junge König war als letzter Vertreter der Dynastie Avis kinderlos gestorben. … Der alte Kardinal Dom Henrique sah keinen anderen Ausweg, als sich in den Laienstand zurückversetzen und als Heinrich I. zum König krönen zu lassen. Als Geistlicher hatte er keine legitimen Nachkommen.” (Der große Aufbruch, S. 357)
Diese kleine Stichprobe mag uns zum Schluss verleiten, dass der Name Wolfgang es mit sich bringt, dass man Neuzeit-Historiker wird, aber induktive Schlüsse sind ja bekanntlich immer etwas unsicher. Eine Kostprobe Behringers Erzählkunst kann man auszugsweise in meinem Artikel zur Amazonas-Expedition nachlesen (die zugleich eine Meditation über die Zeit darstellt). Meine Lektüre beider Geschichtswerke wurde übrigens durch die ansprechenden Layouts des Buchumschlags ausgelöst.
Mir ist bewusst, dass der gute Martin den Vornamen Vespuccis verwendete als Bezeichnung für die neue Welt. Also ist mein Kalauer nicht ganz so gut, wie ich anfangs hoffte, aber was soll’s?
Obwohl Afrika schon im 15. Jahrhundert umschifft wurde, haben die Europäer hier lange Zeit nur Handelsstützpunkte gegründet (mit Ausnahme Südafrikas). Erst im 19. Jahrhundert, als der atlantische Sklavenhandel bereits abgeschafft war, der nebenbei bemerkt ohne die bereitwillige Unterstützung der Eingeborenen nicht möglich gewesen wäre, wurde Afrika dann im “scramble for Africa) unter den europäischen Mächten aufgeteilt.
Egon Friedell bezeichnet die Europäische Neuzeit, also genau den hier betrachteten Zeitraum der Expansion, als “Krisis der europäischen Seele”, die sich seiner Ansicht nach aus einem irrationalen, weil übersteigerten und einseitigen Rationalismus ergeben habe: “dass die ganze Geschichte der Neuzeit nichts anderes enthält als die Steigerung und Übersteigerung des rationalistischen Prinzips in seiner Anwendung auf alle Lebensgebiete.” (S. 902) Womit weder er noch ich sagen wollen, dass dabei nicht auch Gutes entstanden sei, nur eben auch viel Überflüssiges bis hin zu Schädlichem. Genauso wenig soll mit diesem Ausdruck zynisch auf das angespielt werden, was Reinhard Mey mit den Worten besang: “Und wenn die Versuche glücken, sprengen sie die ganze Welt, geben Sie zu, da ist ein Globus doch nur rausgeschmiss’nes Geld”, wobei er der Hoffnung Ausdruck gab, ausgerechnet 2003 (!) habe vielleicht der Verstand gesiegt und es gäbe Frieden.
Viel zu selten wird dies zur Kenntnis genommen. Gelesen und kritisiert (oder, seltener, gelobt) wird das Buch lediglich mit Blick auf ihre Aussagen zum Ukraine-Krieg — dieser ist natürlich auch Anlass gewesen, das Buch zu schreiben, dennoch lautet der Untertitel des Buches zu Recht nicht: “Wer hat Schuld am Ukraine-Krieg?”, sondern “Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist — und wie wir wieder davon träumen können.”
Was nicht nur, aber doch auch darauf basiert, dass Deutschland als eines der ersten Länder einen Dumpinglohn-Sektor (unter einer SPD Regierung!) schuf (wir erinnern uns an die 1-Euro-Jobs?) und die Ost-Erweiterungen dazu nutzte, die osteuropäischen Länder auszubeuten.
Eine Bezeichnung ursprünglich für das Osmanische Reich im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Stichwort: Orientalische Frage, die ein weiters Kapitel europäischer Hybris ist, denn man hätte dem Osmanischen Reich oder seinen Nachfolgestaaten ja auch zu einer ernueten Blüte ihrer Kultur verhelfen können, anstatt sie zu verschachern, aber der westliche Kapitalismus kennt leider Gottes nur einen Wert, den wirtschaftlichen, und diesem wird alles andere untergeordnet.
Was nicht heißt, dass es keinerlei Demokratie, Realismus oder Vision gäbe, aber eben bei Weitem nicht genug. Das ist schon länger so. Wir könnten an Samy Deluxes Song Weck mich auf erinnern, indem dieser beklagt, dass seine Generation “so depressiv” sei, weil es in diesem Land “mehr Mauern als Brücken” gibt, “die Stimmung ist negativ”.
Vorsicht, es wird polemisch: Wobei die kommende Regierung aus CDU und SPD, allesamt alter Wein in alten Schläuchen, (1) sich nicht einmal diese Mühe geben, so zu tun als ob. Siehe Koalitionsvertrag, der etwas Kraftloses hat, auch wenn er sich in der Präambel selbst Mut zuspricht.
(1) Ich mein, schaut sie euch an. Besonders dynamisch kann ein Team ja nicht sein, wenn ein Marcus Söder noch am meisten Pep hat…
Die Rhetorik läuft darauf hinaus, dass man sich nicht mehr auf die USA verlassen könne, und darum selbst Großmacht werden müsse. Großmacht sein ist aber eigentlich kein angenehmer Zustand, so wie reich sein. Ständig muss man Angst haben, seinen Status zu verlieren, und muss sich ständig in alle Angelegenheiten auf der ganzen Welt einmischen, weil man überall Interessen hat. Ich glaube nicht, dass die Bevölkerung Bhutans darunter leidet, keiner Großmacht zu gehören. Im Übrigen ist man heutzutage mindestens ein Nazi, wenn man diese Forderung mit dem Windschatten der Geschichte ausspricht, denn dies ist eine Paraphrase dessen, was der Lord Voldemort der deutschen Politik, wie Roger Köppel es spöttisch formuliert hat, Björn Höcke nämlich, gefordert hat. Nun gut, wir müssen auch Autobahnen nicht blöd finden, weil Hitler sie gut fand, oder Vegetarismus.
“Erst nachdem wir alles verloren haben, haben wir die Freiheit, alles zu tun”, sagt, aus der Erinnerung zitiert, Tyler Durden in Fight Club.
Dies ist bekanntlich die Rahmenstory der Foundation-Trilogie Isaac Asimovs: das dunkle Zeitalter von 30.000 Jahren auf 1.000 Jahre zu verkürzen. Letztlich gelingt es meiner Erinnerung nach sogar schneller, aber es ist ca. 20 Jahre her, dass ich die Bücher gelesen habe.
Allgemein bekannt ist, dass dieses schöne Gedicht An die Freude von Beethoven in seiner 9. Sinfonie vertont wurde — und dass es die offizielle Europa-Hymne ist, allerdings, was mag man sich dabei gedacht haben?, in einer reinen Instrumentalversion ohne den Text…
Teilen und Abwerten wurde in Deutschland zuletzt in der Corona-Zeit flächendeckend betrieben. Wer sich nicht an den Maßnahmen beteiligen wollte, insbesondere der Impfung, wurde abgewertet. Waren sich die Menschen, die sich daran beteiligten, wirklich nicht bewusst, wie gefährlich eine solche Dynamik eigentlich ist? Wer nicht bereit ist, aus der Vergangenheit zu lernen, ist dazu verdammt, wie es heißt, sie immer zu wiederholen. Und was hätte daraus Schönes werden können, wenn Deutschland, wenn die Welt sich Verbinden - Aufbauen - Verwandeln zum Motto gesetzt hätte für die Bewältigung dieser Pandemie?
Emmanuel Todd beschreibt diesen Blick des “Rests-der-Welt” überzeugend in seinem Der Westen im Niedergang, dem ich eine ausführliche Artikelreihe gewidmet habe, dessen letzter Teil ebenfalls noch aussteht.
Ein großartiger Beitrag, der mich nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich tief beeindruckt hat.
Vieles von dem, was hier formuliert wurde, entspricht genau meiner eigenen Sichtweise, aber ich hätte es niemals in dieser Klarheit und Tiefe zum Ausdruck bringen können.
Gerade die Einordnung Europas als wirkmächtige Fiktion und die nüchterne Darstellung der historischen Zusammenhänge finde ich bemerkenswert.
Die kritische Rückfrage bezüglich ‘Hybris und Weltherrschaft’ verstehe ich persönlich nicht – auch für mich ist es nachvollziehbar, dies als ein gesamteuropäisches Phänomen einzuordnen, nicht nur bezogen auf einzelne Staaten.
Ich bin dankbar für diesen Essay, der nicht nur informiert, sondern zum eigenständigen Nachdenken anregt.
Endlich habe ich es geschafft (akuter Lese-Rückstand), diesen Artikel zu lesen. Und bin total erstaunt, dass nur drei Personen hier kommentiert haben! O.O Es gibt doch zu Deinen Gedanken so viel zu sagen!
Du packst immer unglaublich viele Gedanken in einen Artikel, so dass einem gleich beim ersten Lesen klar wird, dass man sich nur einen Punkt herausgreifen kann. Schade, aber es ist schlicht nicht möglich, alle die "Bälle" aufzufangen und zurückzuspielen.
Ich blieb bei Deiner Fußnote Nummer 3 und dem Thema "christliches Mittelalter" hängen. Hier wäre in meinen Augen eine "natürlichere" regionale Einteilung/Abgrenzung Eurasiens zu finden: Nämlich grob in Gebiete nach (überwiegender) Religion.
Vor einiger Zeit schaute ich mal die BBC historic farm series an und ich musste bei Deiner Fußnote an die Serie Tudor Monastery Farm denken, in der auch berichtet wird, wie anders die Denkweise der Menschen damals war, auch in ihrer Vorstellung von der (Arbeits-)Zeit.
Menschen so zum Krieg aufzuhetzen, wie es heute leicht machbar ist, das scheint mir einfach in den damaligen kleinen Strukturen, in denen jeder noch erkennen konnte, wie abhängig er von seinen Nachbarn ist, nicht möglich gewesen zu sein. Und, ja, Geld war noch nicht der (Haupt-)Gott der kleinen Leute. Bei den Herrschern (inklusive der organisierten Kirche) war das anders, aber die große Mehrzahl der Menschen dachte noch friedlich und gemeinschaftlich.
Deinem Schlusswort schließe ich mich vollumfänglich an:
Wir könnten mit allen Völkern (von unserer Seite aus) in Frieden leben, aber die den Deutschen offenbar eingepflanzte Arroganz, das Besserwissen, wie andere leben sollten, verhindert das. Fleischgewordenes Symbol dafür war wohl Annalena.
Dabei wäre es so einfach:
"Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden – im Inneren und nach außen."
(Kann hier leider keine Verlinkung oder Fußnoten einbauen: https://www.willy-brandt-biografie.de/quellen/bedeutende-reden/regierungserklaerung-vor-dem-bundestag-in-bonn-28-oktober-1969/ )
Doch so lange die Menschen nicht erkennen, dass der, der sie gegeneinander aufhetzt, damit Geld verdient, so lange werden sie sich immer wieder spalten lassen.