Für Demian, »How we go on«
»Had we but world enough and time…«
Diese Zeile hat Erich Auerbach seinem Werk Mimesis vorangestellt. Das Buch fiel mir bei einem Freund, der in Maastricht Liberal Arts studierte, in die Hände. Es interessierte mich stärker aufgrund seiner Entstehungsgeschichte als aufgrund seines Inhalts.
Denn Erich Auerbach hatte es geschrieben, als er unter der NS-Diktatur 1935 aufgrund seiner jüdischen Abstammung als Professor in den Ruhestand versetzt worden war. Daraufhin nahm er einen Ruf an die Istanbuler Universität an, wo er von 1936 bis 1947 im Exil lebte. Da er auch nach dem Ende des dritten Reichs seine Professur nicht zurückerhielt, emigrierte er danach in die USA. Die Details sind spannend und erschütternd, wie so viele Lebensläufe dieser Zeit.
Jedenfalls schrieb Auerbach von 1942 bis 1945 sein Hauptwerk Mimesis: Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, wobei er aufgrund seines Standortes keinen Zugriff auf Sekundärliteratur hatte - insbesondere, da er des Türkischen nicht mächtig war -, und sich somit intensivst mit den primären Texten beschäftigte.
Ich las damals die beiden Kapitel über die Texte, die mir halbwegs bekannt waren, auch wenn ich sie damals noch nicht ausgiebig gelesen hatte, nämlich das erste Kapitel über die Odyssee und das Buch Genesis, und das letzte Kapitel über Virginia Woolfs To the Lighthouse und Prousts À la recherche du temps perdu, wobei ich das letztere Werk ehrlich gesagt auch heute noch nicht gelesen habe und wohl auch nicht mehr lesen werde, da mir die Zeit dazu fehlt.1
Ich verstand nicht viel und kann mich an fast nichts erinnern, nur dass es bei der Odyssee um die Szene ging, in der die alte Amme von Odysseus ihn nach seiner heimlichen Heimkehr wiedererkennt. Heute würde ich das Buch gerne einmal wirklich lesen, und mich mit all den Texten beschäftigen, die der vor allem auf romanische Sprachen spezialisierte Auerbach beliebte, in seine Auswahl aus dem westlichen Literaturkanon aufzunehmen. Aber woher die Zeit nehmen?
Und das einleitende Motto, von dem ich damals keinen blassen Schimmer hatte, weshalb Auerbach es wählte, um es seinem Buch voranzustellen, das ist mir am klarsten im Gedächtnis geblieben. Heute glaube ich, Auerbach wollte damit ausdrücken, oder andeuten, dass es all diese literarischen Welten gibt, die versuchen, die wirkliche Welt abzubilden (das bedeutet Mimesis in diesem Kontext), und dass uns aber die Zeit fehlt, uns all diesem hinzugeben.
»Had we but world enough and time…« Später fand ich heraus, dass es eine Zeile aus einem Gedicht von Andrew Marvell ist, To his Coy Mistress. Marvell war ein britischer Dichter aus dem 17. Jahrhundert, ein sogenannter Metaphysical Poet, von denen ich ihm Studium häufiger am Rande gehört habe, die ich aber auch alle nicht gelesen habe und wohl nicht mehr lesen werde. Es fehlt mir an der Zeit.
Aber ist es denn wichtig, irgendetwas davon gelesen zu haben? Ist es überhaupt wichtig, etwas zu lesen? Kann man seine Zeit nicht mit Besserem verbringen? Das Leben ist wichtiger als die Literatur, wurde Roberto Bolaño nicht müde zu betonen. Und andererseits: Kann man je genug gelesen haben? Warum lesen wir? Warum lesen manche so viel? Manche so wenig? Manche gar nicht?
Und ein Echo antwortet: Warum leben wir? Warum leben manche so viel? Manche so wenig? Manche gar nicht?
»Some breath breathes not at all«
(Allen Ginsberg, On Neruda’s Death)
I.
Wolfgang Behringer beschreibt in seinem Buch Der große Aufbruch im Kapitel Amazonas »eine der abenteuerlichsten Expeditionen des Entdeckungszeitalters, angetrieben von jener Mischung aus Abenteuerlust, Profitgier und Entdeckerfreuden, die für das Jahrhundert des Aufbruchs so charakteristisch war.«2
Im Jahr 1540 - Amerika ist seit einem guten halben Jahrhundert entdeckt, Kolumbus seit einem drittel Jahrhundert tot, in England regiert der schreckliche Henry VIII., heiratet seine vierte Ehefrau und lässt sechs Monate später die Ehe wieder annulieren, im Heiligen Römischen Reich herrscht Karl V. und plagt sich mit den Ottomanen und den Lutheranern ab -
… in diesem Jahr also begab sich in Peru ein gewisser Gonzalo Pizarro mit seinem Stellvertreter Francisco de Orellana und 220 weiteren Kastiliern sowie 4000 Indigenen auf eine Expedition ins Landesinnere, um das gerüchteweise existierende indianische Königreich La Canela, d.h. Zimtland, zu finden. Dort sollte neben Zimt (das in Amerika aber nicht existierte) auch Gold zu finden sein (das dort in rauen Mengen existierte, in Peru aber knapp zu werden drohte).
Überliefert ist uns der Bericht über dieses Abenteuer von einem Dominikaner namens Gaspar de Carvajal, der an der Expedition als Geistlicher teilnahm. Nebenbei sei angemerkt, dass dessen Bericht mit den Worten »Ich war damals Erzbischhof von Lima« beginnt, obwohl Carvajal niemals diesen Posten innehielt, weshalb auch der Rest des Berichts vielleicht mit einer gewissen Vorsicht in Bezug auf seinen Wahrheitsgehalt zu genießen sein mag.
Jedenfalls startete die Expedition in Quito, der, so Behringer, »höchstgelegenen Hauptstadt der Welt«, um dann durch die »Allee der Vulkane in das unerforschte Tiefland [zu] führen.« Sie verbrachten Monate damit, sich mit Macheten und Äxten ihren Weg durch den Dschungel zu bahnen. Da sie - für uns nicht überraschend - keinen Zimt fanden, obwohl sie Massaker an den Indigenen anrichteten, drangen sie immer tiefer in nach Osten vor.
Schließlich ließ Pizzaro eine Brigantine bauen, ein Segelschiff mit zwei Masten, was zwei Monate dauerte. Dann fuhr man auf diesem San Pedro getauften Schiff den Rio Coca entlang, bis dieser in den Rio Napo mündete.
Die Expeditionsteilnehmer seien »dem Hungertod nahe« gewesen, als sie die Mündung erreichten. Zu ihrem Glück trafen sie hier auf Eingeborene vom Stamm der Canga-Peba, d.h. Flachköpfe, so genannt, weil sie aus ästhetischen Gründen ihren kleinen Kindern die Schädel so verbanden, dass sie flach und lang wurden. Diese verwiesen sie auf eine »reiche Siedlung« entlang des Flusses, wo ein anderer großer Strom in den Rio Napo einmünde.
Pizarro schickte Orellana mit 57 Männern auf der Brigantine los. »Pizzaro erteilte strikten Befehl, nicht weiterzufahren [als bis zu der Siedlung] und mit genügend Nahrungsmitteln zurückzukehren.« Sie brachen am zweiten Weihnachtstag 1541 auf, das heißt, sie waren bereits seit über einem Jahr unterwegs, und Pizzaros Halbbruder, Francisco Pizzaro, Gouverneur von Peru, bereits seit einem halben Jahr ermordet.
II.
So wie Behringer die Geschichte schildert, kann man ihr in ihrer Logik kaum folgen. Warum fuhren sie nicht alle weiter, warum wurde nur ein kleiner Trupp vorausgeschickt?
Eine kleine Recherche ergibt, was auch logisch ist, dass eine Brigantine natürlich nicht reichte, um die über 4000 Mann starke Armee zu transportieren. Das heißt, das Schiff hatte bisher dazu gedient, die Menschen von einer Flussseite auf die andere überzusetzen (in mehreren Fahrten), und dann auch Kranke und die Ausrüstung zu transportieren. Zudem war zu dem Zeitpunkt, als Orellana losgeschickt wurde, die Hälfte der Männer bereits an Malaria erkrankt, so auch Pizzaro selbst.
III.
Michael Ende lässt in Momo einen der Grauen Herren, die den Menschen ihre Zeit stehlen wollen, dem Friseur Fusi vorrechnen, womit dieser seine Zeit vergeude. Sein Leben dauere voraussichtlich ca. 70 Jahre, 42 davon seien bereits verstrichen, ein Jahr habe 365 Tage, ein Tag 24 Stunden, eine Stunde 60 Minuten und eine Minute 60 Sekunden. Das mache dann … es folgt eine unglaublich hohe Zahl … Sekunden.3 Ein Drittel davon verbringe er mit sinnlosem Schlafen, ein weiteres Drittel mit sinnloser Arbeit, und das letzte Drittel vergeude er mit Nahrungsaufnahme, seinem Haustier, der Pflege sozialer Beziehungen, einschließlich seiner betagten Mutter und einer amourösen Affäre mit einer Rollstuhlfahrerin, der er täglich Blumen bringe, das sei sein Geheimnis, aber heutzutage gäbe es ja keine Geheimnisse mehr, und zu guter Letzt sitze er auch noch abends am Fenster und dächte eine viertel Stunde über den vergangenen Tag nach.
Es lasse sich somit der Nachweis erbringen, dass Fusi die vollen 1 324 512 000 Sekunden, die er bisher gelebt habe, alle verbraucht, und keine einzige davon gespart habe. Dies sei doch nicht hinnehmbar, er müsse wirklich an die Zukunft denken, in der er es sich gut gehen lassen könne, wenn er jetzt beginne, Zeit zu sparen, um sie dann später mit Zins und Zinseszins zurückzuerlangen. Die sozialen Kontakte solle er streichen, die Arbeit effektiver gestalten, und er solle aufhören, blöde zu singen und am Fenster zu sitzen und nichtstuend nachzudenken. Fusi lässt sich darauf ein und spart Zeit und hat keine Freude mehr. Unnötig zu erwähnen, dass diese Betrachtung des Grauen Herrn das ist, was man im Allgemeinen einen verflixter Blödsinn nennt, und eine gemeine Täuschung, denn natürlich kann man Zeit nicht einsparen und später zurückerlangen, man kann sie nur im Hier und Jetzt nutzen, indem man genau das tut, was Fusi damit tat: sie in Dinge investieren, die ihm Freude bereiten, neben dem, was er zum Überleben braucht, wie Schlafen, Arbeiten, Essen.
Die Rationalisierung unserer Zeit erscheint uns so natürlich, dass es schwer vorstellbar ist, wie das Leben ohne eine solche überhaupt funktioniert haben soll. Dabei ist sie ein großes Unglück.
IV.
Orellana brach also am 25.12.1541 mit seinen 57 Männern auf. Sie fuhren mit ihrer Brigantine täglich an die 140 Kilometer (was sie als 25 Leguas bezeichneten), wobei sie zwecks Reparaturen Pausentage einlegen mussten. Schnell wurde klar, dass es ungewiss sei, ob eine Rückfahrt entgegen der Strömung überhaupt machbar war, zumal Tage vergingen, ohne dass man die erhoffte Siedlung erreichte.
Am 4. Januar 1542 wurden schließlich Urkunden ausgestellt, die einerseits belegen, dass die gesuchte Siedlung erreicht wurde und dass Orellana für den König von Spanien das ganze Gebiet offiziell in Besitz genommen hat, die Völker der Aparia und der Irimara hätten sich »friedlich unterworfen«; andererseits beurkundete der frisch ernannte Schreiber der Expedition, der Baske Francisco de Isasaga, »die Petition der Offiziere, nicht 200 Meilen flussaufwärts nach Omagua zurückzukehren, weil dies angesichts der Strömung des Rio Napo unmöglich sei.«
Wir halten inne, um uns vor Augen zu führen, was dies bedeutete. Wenn eine Rückkehr ausgeschlossen war, blieb nur die Option weiter zu fahren nach Osten, obwohl niemand das Amazonasbecken, das noch keinen Namen hatte, kannte - ein riesiges Gebiet, von dem unklar war, ob man es jemals durchqueren und die Ostküste würde erreichen können. Wenn man überlebte, würde man sich vor dem Expeditionsleiter Pizzaro rechtfertigen müssen, da dieser den Befehl erteilt hatte, nicht weiterzufahren, sondern zurückzukehren. Es drohte der Galgen wegen Desertion.
Am nächsten Tag, dem 5. Januar 1542, wurde die Petition Orellana ausgehändigt und dieser entschied, das Anliegen der Offiziere sei »gerecht«, da eine Rückkehr wirklich unmöglich sei. Man wolle aber drei Monate auf Pizzaro warten, ob dieser mit seinen Mannen nachkomme, sobald ihnen klarwerde, dass von Orellana und seiner Vorhut keine Rückkehr mehr zu erwarten sei. In dieser Zeit sei eine größere zweite Brigantine zu bauen, um dann alle Männer den Fluss entlang fahren zu lassen. »Der Bau des zweiten Schiffes, mit dem sofort begonnen wurde, war ein Abenteuer.«
V.
Manchmal werde ich nervös. Du bist schon 37, sage ich mir dann, und du hast noch nichts erreicht.
-Natürlich habe ich schon etwas erreicht.
Das nennst du, etwas erreichen? Pah!
-Nun ja, »ein jeder ist seines Glückes Schmied,« zitiere ich, »und HipHop als Pizza ist auch schlecht noch recht beliebt.«
Dann erinnere ich mich, dass ich erst 36 bin. Glück gehabt.
Und aus einem Buch, das Jugend ohne Jugend heißt, nicht zu verwechseln mit Jugend ohne Gott, von einem gewissen Mircea Eliade geschrieben, kein Unbekannter in gewissen Kreisen, und das Francis Ford Coppola verfilmte, ebenfalls kein Unbekannter, weht mir die Frage entgegen:
Und die Zeit? Was fangen wir mit der Zeit an?
(Und Coppola schien auch ein wenig die Zeit wegzulaufen, bis es ihm 2023 dann doch gelang, sein seit 40 Jahren verfolgtes Herzensprojekt Megalopolis zu realisieren, für dessen Finanzierung er selbst 100 Millionen Dollar klarmachte. Der Film kam im Herbst 2024 in die Kinos und spielte nur 10 Millionen ein. Ein Flop. Der Film enthält die line. »There’s still so much to accomplish. But is there time? Nun ja, Stanley Kubricks 2001 war zunächst auch ein Flop. Aber da ich keine Zeit hatte, mir Megalopolis anzusehen, weiß ich nicht, ob der Vergleich nicht hinkt. Die Verfilmung von Jugend ohne Jugend war auch kommerziell ohne Erfolg und hat mir persönlich sehr gut gefallen, besser sogar als das Buch.)
VI.
Und 50 Shades of Grey war sowohl als Buch als auch als Film kommerziell erfolgreich. Was vielleicht als Indiz hinreichend ist um zu belegen, dass wir mitnichten in der besten aller möglichen Welten leben, wie der alte Leipniz es gerne gehabt hätte.
VII.
Dass Oranella und seinen Kumpanen der Bau eines zweiten Schiffes gelang, ist durchaus beeindruckend, wenn man sich vor Augen führt, dass keiner von ihnen gelernter Handwerker war, und dass sie nur über Äxte und Messer als Werkzeuge verfügten, und alle Materialien zum Bau erst einmal herstellen mussten.
Immerhin war mit der ersten Brigantine ein Vorbild gegeben, was mich an das Gedicht Axe Handles von Gary Snyder erinnert, zu dem mich der selbe Freund brachte, bei dem mir auch das Buch von Auerbach begegnete, und in dem es in Anlehnung an Ezra Pound heißt:
»When making an axe handle
the pattern is not far off.«
Und dass mit den wunderbaren Worten endet:
»How we go on.«
VIII.
Unter anderem mussten 2000 Nägel geschmiedet werden. Es gab, wie erwähnt, keinen Schmied, und auch keine Holzkohle, auch keinen Köhler. Die Holzkohle wurde trotzdem hergestellt. Für den Blasebalg des Schmiedefeuers verwendeten sie Lederstiefel. Es ging voran.
Doch nach wenigen Wochen verschlechterten sich die Beziehungen zu den Indigenen und Orellana und die Seinen verabschiedeten sich mit der noch nicht fertigen zweiten Brigantine und fuhren weiter den Napo entlang. So erreichten sie am »Tag der hl. Eulalia von Barcelona«, Mitte Februar, den Amazonas, der damals aber noch nicht so genannt wurde, sondern Rio Grande, oder Rio Marañón, und der später dann auch mitunter Rio Orellana genannt wurde, weil dieser ihn zum ersten Mal bis zur Mündung befahren sollte. Und es ist nicht ganz klar, warum er heute allgemein als (Rio) Amazonas bekannt ist.4
Hier wurde die zweite Brigantine Victoria fertiggestellt. Hier wurden sie von Indigenen unter der Herrschaft Aparias des Großen im Tauschgeschäft mit Nahrungsmitteln versorgt, und blieben »die gesamte Fastenzeit« als Gäste. Und hier forderten die Offiziere Orellana schließlich auch auf, sein Amt als Stellvertreter Pizzaros endgültig niederzulegen und sich von ihnen zum Kapitän wählen zu lassen, was dieser, wie schon die erste Petition, nicht umzukehren, annahm, und sich notariell beglaubigt und urkundlich bestätigt ernennen und auf das Messbuch vereidigen ließ.
IX.
David Goggins rechnet uns in Can’t Hurt Me vor, dass es möglich wäre, seine Zeit sehr viel effizienter zu nutzen, als wir es im Allgemeinen vornehmen:
»To me, a forty-hour work week is a 40 percent effort. It may be satisfactory, but that’s another word for mediocrity. Don’t settle for a forty-hour work week. There are 168 hours in a week! That means you have the hours to put in that extra time at work without skimping on your exercise. It means streamlining your nutrition, spending quality time with your wife and kids. It means scheduling your life like you’re on a twenty-four-hour mission every single day.«
Es sei ja nicht undenkbar, beispielsweise, um 4 Uhr aufzustehen, eine Stunde laufen zu gehen, dann zwei Stunden mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren, den Vormittag zu arbeiten, währenddessen zu essen, dann in der Mittagspause eine Stunde zu trainieren, die Nachmittagsschicht zu arbeiten, zwei Stunden wieder nach Hause zu radeln, um um 7 Uhr, pünktlich zum Abendessen zu Hause zu sein und um 10 Uhr ins Bett zu gehen. Aber, zur Beruhigung aller, am Wochenende könne man sich auch erlauben, bis 7 Uhr morgens zu schlafen:
»On Saturdays I’d sleep in until 7 a.m., hit a three-hour workout, and spend the rest of the weekend with Kate. If I didn’t have a race, Sundays were my active recovery days. I’d do an easy ride at a low heart rate, keeping my pulse below 110 beats per minute to stimulate healthy blood flow.«
Offensichtlich ist Goggins ein »obsessive maniac« - wie er selbst zugibt -, aber wäre es nicht doch möglich und sinnvoll, sich von ihm eine Scheibe abzuschneiden sozusagen, vielleicht 10%?
X.
Im weiteren Verlauf ihrer Fahrt über den großen Fluss, mussten Orellana und seine Mannen feststellen, dass die Eingeborenen ihnen gegenüber immer häufiger feindlich gesinnt waren. Sie wurden nicht mehr willkommen geheißen. Hunger und Moskitos plagten sie, sodass sie schließlich dazu übergingen, Dörfer zu überfallen, und sich mit Gewalt zu nehmen, was sie brauchten. »Wie Parasiten bewegten sich die Spanier durch das Gebiet der Omaguas.«
Die überfallenen Dörfer wurden natürlich wie alles benannt: Pueblo de la Loza, Pueblo de la Calle, Pueblo de los Bobos… Oft mussten Gegenangriffe der Eingeborenen zurückgeschlagen werden, manchmal verfolgten sie Kriegskanus. Die Spanier hatten scheinbar ein gutes Gespür dafür, wo sie kämpfen und wo sie lieber fliehen sollten.
Schließlich gelangten sie Anfang Juni 1542 an die Mündung eines großen Flusses, »dessen Wasser ganz schwarz erschien und sich über zehn Meilen nicht mit dem Wasser des Großen Stroms vermischte«, und den Orellana daher Rio Negro nannte, wie er bis heute heißt. Wieder eroberten die Spanier eine (befestigte) Siedlung. Hier fanden sie, in einen dicken Baumstamm geschnitzt, was sie als Relief einer großen Stadt interpretierten,
»deren Eingang aus zwei Türmen bestand, die jeweils eine Tür mit zwei Säulen zeigten. Diese Struktur ruhte auf zwei Löwen in Halbrelief, die einander wild anblickten und das Stadtrelief zwischen ihren Klauen hielten. In der Mitte der Struktur befand sich ein runder Hohlraum mit einem Loch.«
Auf ihre Nachfragen erhielten sie laut dem Chronisten von einem Eingeborenen die Auskunft, es handle sich um ein Sonnenheiligtum, hier werde der Sonne Chicha (Maisbier) geopfert, und das Heiligtum solle die Einwohner der Stadt an ihre Tributpflicht gegenüber der Königin der Amazonen erinnern.
Wobei es nicht plausibel ist, dass wirklich von Amazonen die Rede hat sein können, denn das Wort entstammt dem Altgriechischen und bezieht sich auf ein legendäres Volk von Kriegerinnen, die schon bei Homer erwähnt werden. Orella oder Garvajal müssen den Begriff eingesetzt haben, um das Neue in Altvertrautem auszudrücken.
XI.
Es wird Zeit, zum Ende zu kommen, denn wer hat schon Zeit, so lange Texte zu lesen? Shaban und Käpt’n Peng äußerten auf dem Trailer zu ihrem ersten Album, Die Zähmung der Hydra, humorvoll, sie hätten Verständnis dafür, dass das Publikum keine Zeit habe, das ganze Album zu hören, und daher hätten sie es auf vier Minuten kondensiert - um dann noch eine 4-sekündige Schnellfassung nachzulegen.
Was ich sagen wollte, habe ich wohl gesagt. Dem Leser bleibt es überlassen, seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Was fangen wir mit der Zeit an? Und was soll diese komische Geschichte von Orellana damit zu tun haben?
XII.
Die Spanier übernachteten zu Fronleichnam »wegen der guten Versorgung« gegen Orellanas Bedenken in einem Dorf, und wurden prompt nach Sonnenuntergang von den Indianern erfolglos angegriffen, woraufhin Orellana am nächsten Morgen aus Rache »alle Indianer, deren er habhaft werden konnte, aufhängen und das Dorf … komplett niederbrennen« ließ. Manche Spanier hatten mittlerweile dieses Leben so satt, dass sie sich gerne den Indianern angeschlossen hätten, aber man ließ sie nicht.
Sie fuhren weiter, sahen ein Dorf, wo Menschenschädel an Galgen genagelt waren und taufen die Gegend Galgenprovinz; sie fanden Hinweise auf die verlorene Expedition von Diego de Ordaz, der sich scheinbar mit den Indianern verbunden hatte; sie wurden von Kriegskanus verfolgt, sie plünderten weiter Dörfer. Schließlich stießen sie auf ungewohnten Widerstand, der »gefährliche Nahkampf« dauerte über eine Stunde, und hinterher erfuhren sie, dass diese Kämpfer »Untertanen der Amazonenkönigin Conori« seien, »die keine Feigheit vor dem Feind akzeptierte«.
Die Amazonen, so berichtet Carvajal, seien in den weiteren Kämpfen auch selbst in Erscheinung getreten. »Sie waren weiß und groß, trugen ihr langes Haar um den Kopf geflochten und hatten nur ihren Unterleib bedeckt.« Anders als im Mythos seien ihre Brüste intakt gewesen.
Der Bericht behauptet, nachdem man sieben Kriegerinnen getötet habe, seien die anderen schließlich geflohen. Für Behringer sieht der weitere Verlauf aber mehr danach aus, dass Orellana und die Seinen geflohen seien, »während die Indianer erneut zu Wasser und zu Land angriffen«. Carvajal selbst verlor durch einen Pfeilschuss ein Auge, woraufhin sie in die Flussmitte steuerten, um sich von den Ufern fernzuhalten.
Als sie an einer für unbewohnt gehaltenen Insel übernachten wollten, sahen sie sich bald schon mit 200 Kriegskanus, jeweils mit 20-40 Kriegern besetzt, konfrontiert. Wieder flohen sie weiter, ihre Feuerwaffen zur Abschreckung nutzend. Sie kamen in eine neue Gegend, wo die Bewohner »sehr große Menschen mit dunkler Haut« und »angriffslustig« waren, sodass sie auf die Idee kamen, ihre Relinge mit einem Pfeilschutz zu verstärken. Immer wieder wurden sie angegriffen.
Dann machten sie eine Beobachtung, die ihnen neue Hoffnung schenkte: »Der Fluss zeigte einen Tidenhub« - sie näherten sich dem Ozean, das Ende ihrer Irrfahrt nahte. Sie fuhren in das gewaltige Delta des Amazonas ein.
»Von nun an wich der Regenwald der Savanne, und im Fluss erschienen immer mehr Inseln. Orellana fuhr in diese Inselwelt ein und überfiel Dörfer, wann immer diese wehrlos erschienen, um an Nahrung zu gelangen. Von da an sahen die Spanier nie mehr die Ufer des Amazonas.«
Doch nun wartete das nächste gewaltige Unterfangen auf sie. Am Flussdelta selbst gab es keine europäischen Kolonien. Sie würden auf den Ozean hinausfahren müssen, in der Hoffnung, im Norden auf die Insel Cubagua zu gelangen, die Kolumbus 1498 entdeckt hatte und die besiedelt worden war, obwohl, was Orellana und sein Trupp nicht wussten, zu Weihnachten 1541 diese Siedlung von einem Erdbeben mit Tsunami größtenteils zerstört worden war.
»Am Verklärungstag (6.8.1542) entdeckte Orellana eine Bucht, in der beide Schiffe ungestört seetüchtig gemacht werden konnten: die Beplankung, Abdichtung, das Setzen neuer Masten, die Takelage und die Anfertigung neuer Segel aus dem Bettzeug der Besatzung. Diese Arbeiten nahmen 14 Tage in Anspruch, während derer sich die Mannschaft von Schnecken und Krabben ernähren musste und Hunger litt.«
Es hatten auch vorher schon neue Nägel geschmiedet werden müssen, was alleine 18 Tage gedauert hatte. Doch nun ging es tatsächlich hinaus auf die offene See: »Ohne Seekarten, Piloten, Kompass und Anker«. Nach vier Tagen verloren sich die beiden Schiffe aus den Augen, doch beide erreichten um den 11. September 1542 das 1400 Seemeilen entfernte Cubagua. Und das Erstaunliche:
»Von den ursprünglich 57 Mann hatten immerhin 43 die strapaziöse Fahrt überlebt. Elf waren verhungert, [nur] drei von Indianern getötet worden.«
XIII.
»Some are Born to sweet delight
Some are Born to Endless Night«
(William Blake)
XIV.
Man muss konstatieren, dass diese Männer gute zwei Jahre unterwegs waren, und nichts vorzuweisen hatten: keinen Zimt, kein Gold, keine anderen Reichtümer. Was für eine Zeitverschwendung! Aber immerhin hatten sie überlebt. Man hätte nun erwarten können, dass die Überlebenden ihrem Gott danken und sich in ein besonneneres Leben bescheiden würden, doch die meisten wollten nach Peru zurückkehren, um »doch noch Reichtümer anzuhäufen.«
Orellana selbst reiste zunächst nach Spanien, um sich zu rechtfertigen, denn der ebenfalls wieder nach Quito zurückgekehrte Gonzalo Pizzaro - wir erinnern uns, ursprünglich der Chef der Expedition, der Orellana vorausgeschickt hatte - hatte gegen ihn Anklage wegen »Diebstahl, Grausamkeit, Rebellion und Hochverrats« erhoben. Auch er war erst im August 1542 zurückgekommen, und nur die Hälfte seiner Leute hatte überlebt.
Orellana wurde freigesprochen und bat um die Erlaubnis, scheinbar von allen guten Geistern verlassen, das von ihm entdeckte Amazonasgebiet zu kolonisieren und zu christianisieren. Dies wurde ihm bewilligt, eine Flotte vorbereitet. »Orellana fuhr in den Amazonas ein, wo seine Mission scheiterte und er selbst 1546 verstarb.« Pizzaro wurde nach seiner Beteiligung an einer Rebellion 1548 hingerichtet.
XV.
»Cependant, qui sait? La terre a des limites, mais la bêtise humaine est infinie!«
(Gustave Flaubert)
Samuel Beckett hingegen hat Proust ausführlich gelesen, und sogar ein Buch über ihn geschrieben, in dem er ach so düstere Sätze formuliert hat, wie: “The tragic figure represents the expiation of original sin, of the original and eternal sin of him and all his 'soci malorum', the sin of having been born.”
Alle Zitate zur Amazonasfahrt aus Behringer, Wolfgang: Der große Aufbruch: Globalgeschichte der frühen Neuzeit. München, 2023; S. 292-306.
Bei Ende ist die genaue Argumentation des Grauen Herrn etwas anders, aber so gefällt sie mir besser :)
Die von Behringer und auch allgemein vertretene These ist, dass der Name auf die Amazonen zurückgeht, denen Orellana begegnet sein will, wie ich noch ausführen werde. Allerdings gibt es auch die konkurrierende Idee, der Name gehe auf das indianische Wort Amassona zurück, was “Schiffezerstörer” bedeute. Interessanter als die Frage, welche Theorie stimmt, scheint mir die Tatsache, dass es im Griechischen und in dieser indianischen Sprache zwei Wörter gab, die ähnlich genug klingen und im Kontext Sinn ergeben, dass die Debatte überhaupt aufkommen kann.
Ganz ehrlich... Für diese Schiffahrtsgeschichte zu lesen, fehlt mir die Zeit. Auch wenn sie in den Augen eines geduldigen Lesers bestimmt ein tolles Beistück für die ansonsten sehr wertvollen Gedanken in diesem Essay ist.
Wie wertvoll Zeit ist, weiß ich eigentlich erst, seitdem ich Kinder habe. Seitdem habe ich schliesslich fast keine Zeit mehr für mich. Aber was heißt "für mich" überhaupt? Und überhaupt denke ich, das ist gut so. In der Jugend soll man zeit vergeuden und verschwenden. Und wie wertvoll diese Zeit war, wird einem erst bewusst, wenn sie knapp wird. Stören tun mich aber zwei Dinge:
- ich lebe meistens im nächsten Moment, außer wenn ich arbeite, etwas sehr (!) unterhaltsames mit anderen Menschen mache, esse oder trainiere. In fast allen anderen Momenten bin ich mental schon darauf am warten, endlich wieder arbeiten zu können. Ein Besuch bei meiner 87 jährigen Oma, die kurz vorm Abnippeln ist? Ich denke an den nächsten Handytest, während sie mir Geschichten aus ihrem Leben erzählt. Einfach geisteskrank. Ich komme mir dabei manchmal wie ein Monster vor. Aber gut, irgendwie ist es auch steil, ständig arbeiten zu WOLLEN. Immerhin bin ich dafür bei den oben genannten Tätigkeiten, einschließlich
Arbeit, vollkommen im Jetzt.
- ich nehme mir wirklich wenig Zeit für Dinge, die mir Spaß machen. Seit geschlagenen 4 Monaten will ich ein KI-Modell trainieren, was vermutlich etwa 6-8 Stunden dauern würde. Ich komme nicht dazu. Ich denke jeden Tag sehnsüchtig daran, wann es so weit sein wird. Fuck. Es regt mich einfach auf. Ich will ein Flux Modell trainieren. Vielleicht heute? Garantiert werde ich wieder zu müde dafür sein.
Was ich an dir übrigens bewundere, ist, wie viel Zeit du mit lesen verbringst. Dass ich deine Texte hier gelesen habe, ist das erste Mal seit Jahren, dass ich mir ein paar Stunden für etwas Literarisches genommen habe. Ich finde es bewundernswert, wie viel dir das Lesen gibt, dass du ihm so viel Zeit widmest. Aber gut, der eine liest was über Schiffahrtsgeschichten von Orellana (schöner Name) und der andere schneidet sich die läppigen 45 minuten Freizeit aus dem Fleisch fürs Pumpen (schöner Trizeps).
Wie dem auch sei. Irgendwann ist es vorbei. Und genossen hab ich es definitiv. Insofern sollte man vielleicht auch nicht zu krampfhaft versuchen, im Jetzt zu leben. Das ist vermutlich genauso pathologisch, wie die ganze Zeit "nutzen" zu wollen.
Hier noch ein schönes Lied zum Abschluss:
https://music.youtube.com/watch?v=nZ5be5H7lsg&si=FXyZZkZIpuFCvtSk