Bret Weinstein & Heather Heying: A Hunter-Gatherer’s Guide to the 21st Century
Teil 1: The end is extremely fucking nigh
Auf den letzten Seiten von Du musst dein Leben ändern schreibt der Philosoph Peter Sloterdijk, es lasse sich nicht leugnen:
"Die einzige Tatsache von universaler ethischer Bedeutung in der aktuellen Welt ist die diffus allgegenwärtig wachsende Einsicht, dass es so nicht weitergehen kann." (2007, 699)
Ein beeindruckender Satz in seiner apodiktischen Entschlossenheit! Sloterdijk knüpft mit dem Titel seines Buches an ein Gedicht von Rilke an; mit diesem Satz vor allem aber an Nietzsche, der erkannt habe, so Sloterdijk, dass die einzig mögliche moderne Ethik der Imperativ zur Überforderung sei, der Mensch sei das Tier "von dem zuviel verlangt wird". Schon beim ersten Jäger, der im Zuge der Menschwerdung in der Savanne zum ersten Mal zum Himmel aufgeblickt habe, hätte sich unweigerlich der Eindruck eingestellt, der Horizont sei keine schützende Umhüllung, sondern ein Tor, "durch das die Götter und die Gefahren eintreten".
Sloterdijk will mit seinen rhetorischen Höhenflügen wohl zum Ausdruck bringen, dass dieses Gefühl der drohenden Katastrophe einerseits in der Moderne akut wird, andererseits aber schon immer im Menschen veranlagt war. Und er spricht 2007 von der "wachsenden Einsicht" - man könnte geneigt sein, zu vermuten, dass es sich um exponentielles Wachstum handelt - "dass es so nicht weitergehen kann.«
I. Das Ende ist nah…
14 Jahre später, 2021, erscheint A Hunter-Gatherer's Guide to the 21st Century von Heather Heying und Bret Weinstein (HH+BW). Die Autoren versuchen sich in diesem Buch an einer allgemeinen kulturellen Lagefeststellung nebst Notfalltherapie aus ihrer - beruflich und neigungsbedingten - spezifisch evolutionstheoretischen Sicht.
Nach einigen einleitenden Kapiteln zur Entwicklung ihres Standpunktes "from first principles«1 gehen sie verschiedene Felder der menschlichen Existenz durch - Medizin, Ernährung, Schlaf, aber auch Kindheit, Schule, Erwachsen werden... -, um sich in den abschließenden zwei Kapiteln noch einmal auf ihr mutmaßliches Kernanliegen zu fokussieren, nämlich die Einsicht, unsere Art sei »in danger of destroying our world« (xvf.) und die Fragestellung, was zu tun sei:
"We are explorers and innovators by design, and the same impulses that have created our troublesome modern condition are the only hope for saving it." (xvi)
II. Was ist der Mensch?
Aus der evolutionstheoretischen Sicht ist der Mensch ein Tier unter Tieren. Das zweite Kapitel bietet einen groben Überblick über seine Abstammungsgeschichte, wie man ihn in größerem Detailreichtum beispielsweise auch in Richard Dawkins' The Ancestor's Tale nachlesen kann. Der Mensch ist ein Wirbeltier, Fisch, Tetrapode, Säugetier, ein Primat, seine nächsten Verwandten sind die Menschenaffen, am allernächsten Schimpansen und Bonobos.
Was den Menschen nun aber doch von allen anderen Tieren, insbesondere auch diesen letztgenannten, unterscheide, sei seine Fähigkeit, dem Druck auszuweichen, sich einer bestimmten biologischen Nische anzupassen. Der Mensch sei als Spezies ungewöhnlich unspezialisiert - das Mängelwesen Mensch, das nichts so richtig gut kann - und gerade deshalb aber in der Lage, sich hochgradig zu spezialisieren, wodurch er sich ungewöhnlich gut an sich verändernde Umstände anpassen, adaptieren, könne.
Diese Fähigkeit des Menschen beschreiben und erklären die Autoren durch drei ihnen zentrale Begriffe, nämlich Bewusstsein, Kultur und Lagerfeuer. Durch seine sprachlichen und gedanklichen Fähigkeiten, könne der Mensch bewusst Innovation schaffen und sich darüber austauschen. Die dabei entstehenden Fähigkeiten und Techniken würden Teil seiner Kultur, also des Hintergrundwissens, wie die Welt aussieht und wie man mit ihr zu interagieren hat.
Diese beiden Vorgänge würden miteinander durch die Lagerfeuer - auch metaphorisch zu verstehen - integriert, um die Menschen sich seit der Zähmung des Feuers versammelten. Hier wurde Kultur - kodiert in Gesang und Erzählungen - tradiert, während in Betrachtungen des Tagesgeschehens - der Jagd und anderer Tätigkeiten - das Neue bewusst besprochen und evaluiert werden konnte. Die dabei entstehenden Innovationen sickerten nach und nach, wenn sie sich bewähren, in die Kultur ein.
Wichtig sind den Autoren an dieser bisher nicht besonders gewagten These zwei Punkte, die sie zumindest nicht für selbstverständlich halten. Erstens haben die Inhalte einer Kultur typischerweise die faszinierende Eigenschaft, aus unserer westlich-wissenschaftlichen Sicht heraus auf der rein semantischen Ebene falsch zu sein, während sie aber auf einer metaphorischen - man könnte vielleicht auch sagen, pragmatischen - Ebene in der Regel weisheitsvolle Wahrheiten ausdrücken, die das Überleben dieser Kultur über lange Zeiträume ermöglicht hat. Anders ausgedrückt: die Mythen und Legenden, die wir uns früher erzählt haben, waren hochgradig funktional.
Daraus ergibt sich der zweite Punkt, dass wir Kultur als Teil des evolutionären Geschehens betrachten sollten, diesem nicht entgegengesetzt oder unabhängig von ihm, sondern integrativer Teil des Adaptionsprozesses. Der Mensch ist dieser Sicht nach also durch und durch Produkt seiner Evolution. Die nature vs. nurture Debatte ist hinfällig.
III. Überfordert im 21. Jahrhunderts
Aus dem Vorhergehenden ergibt sich die - tendenziell konservative - Warnung, tradierte Kultur nicht ohne tiefes Verständnis dessen, womit man es zu tun hat, und nicht ohne Not über Bord zu werfen. Wir wissen in der Regel nicht, was wir dadurch an Stabilität oder sogar Überlebensvorteil verlieren. Dies gilt um so mehr, je irrationaler uns Verhaltensregeln oder Rituale aus der modernen naturwissenschaftlich geprägten Sicht vorkommen.2
Andererseits ergibt sich ebenfalls die - tendenziell progressive - Forderung, dass der kulturelle Bestand angepasst werden muss, wenn die Welt sich ändert, was in unserer Zeit in zunehmendem Maße zu beobachten ist, weshalb die Autoren unsere Zeit und unser Zeitproblem mit dem Begriff "hypernovel" beschreiben: Es verändert sich zu viel zu schnell, sodass es uns nicht mehr gelingt, uns anzupassen - weder kulturell, noch individuell.
Wir leben daher in einem Zustand permanenter Überforderung und wissen nicht, wo wir am Alten festhalten sollen und wo wir Neuerung erstreben müssen. Hieraus ergeben sich die hoffnungslosen Verwirrungen unserer Zeit, wofür die Autoren die Infragestellung der zwei biologischen Geschlechter als Beispiel wählen. Das Zurückwollen zu einem alten idealisierten Zustand - z.B. kein Sex vor der Ehe - wäre in ihren Augen wohl aber eine ebensolche Verwirrung. Wir können nicht zurück.
Die Forderung, das positive Überkommene zu bewahren und sich dabei aber der notwendigen, fortschrittlichen Neuerung nicht zu verweigern, dürfte eigentlich nicht sonderlich kontrovers sein. Aus einer anderen Perspektive hat sie auch Jordan B. Peterson in Beyond Order: 12 more rules for life entwickelt, unter der Überschrift:
»Do not carelessly denigrate social institutions or creative achievement«
Typischerweise würde diese Forderung heutzutage aber eher konservativ klingen, weil sie auf die Bremse drücken will. Der Zeitgeist sagt in etwa: »Let’s denigrate social institutions, because we don’t see the use of them.«
Für Neuerung müssen wir nicht zusätzlich sorgen, sie ergibt sich aus unserem technischen Fortschritt, sie ist aber nicht notwendigerweise förderlich für unser Wohlbefinden oder langfristiges Überleben. Dass man vielleicht weisheitsvoll nach einer Neuerung abwarten - oder besser noch, aktiv evaluieren - sollte, welche unvorhergesehenen Konsequenzen sie eigentlich nach sich zieht, um dann breit gesellschaftlich zu diskutieren, ob wir diese eigentlich in Kauf nehmen wollen, scheint mir vollkommen illusorisch zu sein, so wünschenswert es vielleicht wäre.3
Konservative kämpfen ein Stück weit auf verlorenem Posten, was man ja auch daran sehen kann, dass konservative Positionen von heute oft progressiver sind als die progressiven Positionen vor 50 Jahren. Teilweise muss man nicht einmal so weit zurück gehen.
IV. Das existenzielle Problem
Unsere individuelle wie auch kollektive Unfähigkeit, die Änderungsrate unserer Lebenswelt zu drosseln, wird früher oder später zum existentiellen Problem - und HH+BW sind der Ansicht, dass wir diesen Punkt bereits erreicht haben:
"Our species' pace of change now outstrips our ability to adapt. We are generating new problems at a new and accelerating rate, and it is making us sick - physically, psychologically, socially, and environmentally. If we don't figure out how to grapple with the problem of accelerating novelty, humanity will perish, a victim of its success." (xv, meine Hervorhebungen)
Die Aufzählung der vier Ebenen Körper, Psyche, Gesellschaft und Umwelt im obigen Zitat lädt uns ein darüber nachzudenken, auf welcher Ebene das Problem entsteht und auf welcher es zu lösen wäre. Die Autoren gehen dieser Frage nicht explizit nach, aber sie scheinen beides auf der gesellschaftlichen Ebene anzusiedeln. Das mag naheliegend sein, könnte andererseits aber auch blind machen für Lösungsansätze auf den anderen Ebenen.
So oder so aber macht das (hyper)moderne Leben uns krank. Der Hauptteil des Buches buchstabiert diese Einsicht für verschiedene Lebensbereiche im Detail aus und bietet kurz- und mittelfristige Lösungsansätze für einzelne Probleme.
Beispielsweise haben wir eine Kultur geschaffen, die sich stark negativ auf unseren Schlaf auswirkt:
Wer schläft, kann nicht konsumieren. Wer Probleme entwickelt, weil er zu wenig oder zu schlecht schläft, kann hingegen noch stärker als Konsument ausgeschlachtet werden. Dies ist eine Art Kollateralschaden unseres Wirtschaftssystems.
Es ist für die meisten Menschen - vor allem in Städten, wo die meisten Menschen leben - nachts zu hell. Ein Kollateralschaden der Elektrifizierung.
Insbesondere das Lichtspektrum der modernen Bildschirme beeinflusst unsere Melatonin-Regulation negativ. Ein Kollateralschaden der Digitalisierung.
Und so geht es weiter. Die Lösungsansätze sind naheliegend: Für mehr Dunkelheit sorgen, sich dem Konsumdruck entziehen, sich mehr in der Natur und bei natürlichen Beleuchtungsquellen aufhalten. Duh! Aber, um mich selbst zu zitieren: “Wir wüssten schon, was zu tun wäre, aber wir tun es nicht”.
V. Die Lösung: eine steady-state Kultur?
Die Autoren wissen jedoch genauso gut wie jeder andere, dass dies nur Pflaster sein können auf der klaffenden Wunde des Hyperneuen. Langfristig benötigen wir daher einen radikalen Wandel, und im letzten Kapitel des Buches wird ein Vorschlag skizziert: Wir müssten uns zu einer Kultur entwickeln, die nicht mehr Veränderung, sondern einen stabilen Zustand anstrebt, der sich aber nicht so anfühlt:
"The fourth frontier is the idea that we can engineer an indefinite steady state that will feel to people like they live in a period of perpetual growth, but will abide by the laws of physics and game theory that govern our universe. Think of it like the climate control [in your home] ... Engineering an indefinite steady state for humanity will not be easy, but it is imperative." (227)
Zwei Beobachtungen hierzu: (1) Die Autoren leiten ihre Idee aus einer Perspektive ab, bei der es um materielle Ressourcenverteilung geht. Sie sprechen von einer vierten Grenze, weil sie zunächst von den ersten dreien sprechen, womit sie Möglichkeiten meinen, die eigene Ressourcennutzung zu erweitern:
geografisch, indem man das Einzugsgebiet vergrößert;
technologisch, indem man neue Möglichkeiten der Gewinnung oder der effizienteren Nutzung schafft;
räuberisch, indem man anderen Ressourcen wegnimmt.
Beim Übergang zur "vierten Grenze" scheint ihnen diese Perspektive nun aber etwas unscharf zu werden, wodurch es auch zunächst nicht klar ist, was sie eigentlich meinen: Nämlich nicht eine weitere Möglichkeit, sich mehr materielle Ressourcen zu beschaffen, sondern den Abschied von diesem Streben. Und dies am besten, ohne dass die Bevölkerung es überhaupt fühlt: "that will feel to people like they live in a period of perpetual growth".
Aber wie kann sich ein gleichbleibender Ressourcenverbrauch wie eine permanente Steigerung desselben anfühlen? Die Autoren schweigen sich hierzu aus, vielleicht auch, weil ihnen selbst nicht ganz klar war, dass sie eigentlich das Thema gewechselt haben.
(2) Das zeigt möglicherweise auch ihre Wortwahl im obigen Zitat: "Think of it like the climate control". Eine Klimaanlage funktioniert ähnlich wie ein Toilettenspülkasten als simple negative Rückkoppelungsschleife. Bei einer negativen Rückkoppelung sorgt ein wie auch immer gemessener Parameter für eine natürliche Begrenzung des Wachstums. Wenn der Spülkasten voll ist, hört das Wasser auf zu fließen. Wenn die gewünschte Temperatur erreicht ist, hört die Anlage auf zu kühlen oder zu wärmen.
VI. Rückkopplungen, negativ und positiv
Negative Rückkopplungen finden wir auch in natürlichen Ökosystemen. Als vereinfachtes Beispiel kann man sich vor Augen führen, was in einem Teich passiert, in dem Hechte und Forellen zusammenleben:4
Solange es viele Forellen gibt, geht es den Hechten, die sich von ihnen ernähren, prächtig, und sie pflanzen sich stark fort. Dadurch wächst die Anzahl der Hechte, und sie beginnen, den Bestand der Forellen zu gefährden: deren Zahl nimmt ab. Hierdurch finden die Hechte dann aber nicht mehr genug zu fressen und ihre Population nimmt ebenfalls ab, sodass die Forellen sich wieder stärker vermehren können, weil nicht mehr so viele gefressen werden, was wiederum mehr Nahrung für die Hechte bedeutet, usw. In diesem System begrenzen sich Hechte und Forellen gegenseitig: Je mehr Forellen, desto mehr Hechte, desto weniger Forellen, desto weniger Hechte, desto mehr Forellen…
Nun sind solche Systeme aber eben nicht steady-state, sondern eher natürlichen Schwankungen unterworfen. Und für die meiste Zeit verhielt sich die menschliche Zivilisation auch dementsprechend: es war ein Auf- und Niedergang. Bis wir dann irgendwann anfingen, nur noch Aufs zu haben, oder haben zu wollen. Und geschichtsvergessen die Möglichkeit der Abstiege verdrängten.5
Dass dies möglich war, liegt daran, dass die ausschlaggebenden technologischen und sozialen Faktoren der letzten Jahrhunderte für die Entwicklung des Menschen eher zu positiven Rückkopplungen geführt hat, denn zu negativen. Positive Rückkoppelung - die interessanterweise erst später als Konzept entdeckt wurde, als die negative - ist das, was zum Beispiel entsteht, wenn ein Mikrofon auf den eigenen Lautsprecher gerichtet ist: in dem Fall eine Klangkatastrophe. Positive Rückkoppelung erzeugt exponentielles Wachstum.
Auch dies können wir wieder an einem kleinen Beispiel illustrieren: Nehmen wir an, wir geben ein Bakterium in eine Petrischale mit Nährlösung. Es teilt sich jede Minute einmal und die Größe der Schale ist so gewählt, dass sie nach einer Stunde voll ist von Bakterien. Wann ist die Schale dann halb voll?6
Wenn wir keinen Abstieg erleben wollen, und ein weiterer Aufstieg mit immer größeren Risiken verbunden ist, scheint ein Verbleiben auf dem aktuellen Niveau als logisch plausible Möglichkeit. Ob sie aber auch praktisch - und, sozusagen, metaphysisch - möglich ist, bleibt fraglich. Ich jedenfalls bin diesbezüglich nicht optimistisch.
VII. Ein (bescheidener) Versuch, den Lösungsansatz zu retten
Die Autoren beschreiben keinen Weg, wie wir uns einem solchen steady state Status annähern könnten. Unser Bewusstsein, d.h. unsere Fähigkeit uns rasch anzupassen, soll es richten, obwohl dieses Bewusstsein ja im Zeitalter des Hyperneuen hoffnungslos überfordert ist. Und deshalb auf alte Gewissheiten zurückgreifen will, wie Wachstum ist gut, Stagnation nicht:
"Even though it is logically obvious that we must accept equilibrium, we are not built to be satisfied with it because being unsatisfied has been an excellent strategy for the last several billion years." (227)
Damit verbunden ist das weitere große Hindernis aus Sicht der Autoren, dass wir nämlich schlecht darin sind, Trade-offs realistisch einzuschätzen.7 Wir wollen nicht anerkennen, dass unsere verschiedenen Ziele, Werte und Wunschvorstellungen sich nicht immer miteinander in Einklang bringen lassen, sondern häufig im Gegensatz zueinander stehen. Auf lange Sicht zum Beispiel Wachstum und Nachhaltigkeit.8
Eine mögliche Lösung könnte also sein, auf kultureller Ebene eine Kongruenz der Werte herzustellen. Dies ist nicht für beliebige Werte möglich. Insbesondere für die aktuell tonangebenden nicht, wie sich zeigt:
»The partisan nature of Western democracy can make us feel as though we could never align behind a set of shared values, but realizing that we have a lot in common is the only way to achieve collective consciousness. We have but one planet.« (236)
Das heißt, wir bräuchten einen sehr viel tiefer gehenden Wandel, bei dem eben nicht unsere Ressourcennutzung und unsere Wirtschaft immer weiter wächst, sondern etwas anderes.
VIII. Was wird mehr, je mehr man davon gibt?
Was könnte unendlich wachsen? Als Philosoph fallen mir schnell Begriffe ein, bei denen ein asymptotisch immer weiter an ein Maximum sich annäherndes Quantum wünschenswert erscheint. Weisheit zum Beispiel. Liebe. Einsicht in die tieferen Gesetze des Lebens und der Welt.
Mir scheint aus meiner Beobachtung, dass die meisten Menschen für ein erfülltes Leben kein Wachstum im Ressourcenverbrauch benötigen, auch nicht das Gefühl, dass dies so sei. So banal dies klingt, die meisten Menschen beziehen mehr Glück aus wachsenden Beziehungen als aus wachsendem Wohlstand. Menschen werden auf ihrem Sterbebett nur schwerlich bereuen, zu viel Zeit mit ihren Kindern im Wald verbracht zu haben. Sie werden schwerlich bereuen, nicht genug Zeit mit Bürokratie verbracht zu haben. Insofern ist der beste Rat, den HH+BW zu bieten haben, vielleicht nicht ihre etwas inkongruente Rede von der fourth frontier, sondern was sie an anderer Stelle raten:
"Sit around more campfires." (221)
Heute morgen regnete es stark und ich lief mit meiner kleinen Tochter in Regenmontur in den nahegelegenen Wald. Wir stapften durch den angeschwollenen Bach, wir lauschten den Geräuschen, dem Trommeln des Regens auf das Blätterdach, wir balancierten über einen Baumstamm von Ufer zu Ufer. Wir kehrten zurück, um frisch gebackenes Brot aus dem Ofen zu holen. Später versuchte sie, auf meiner Geige zu musizieren, und als ihr dies halbwegs gelang, versteckte sie sich mit der Geige im Puppentheater und ich sollte mich davor setzen für ein Konzert. Ist dies nicht alles das Glück?
Aber mit diesen persönlichen Lifestyle Entscheidungen, die HH+BW sicherlich guthießen, löse ich nicht das soziale, das kulturelle Problem, "dass es so nicht weitergehen kann". Dieses Problem bleibt auch nach der Lektüre von A Hunter-Gatherer's Guide to the 21st Century ungelöst, beinahe unberührt. Unseren Fokus als Gesellschaft von materiellen Ressourcen-Fragen auf etwas Anderes verlagern zu wollen, bleibt ein frommer Wunsch, solange keine Methode, kein Weg, vorgestellt wird, wie wir von A nach B gelangen könnten.
"The problem is evolutionary. So is the solution." (243)
Das wird nicht reichen für eine langfristige Lösung. Die Stärke des Buches bilden die kurz- und mittelfristigen Möglichkeiten sich dem Wahnsinn des Hyperneuen zu erwehren. Ihnen werde ich mich in einem zweiten Teil widmen.
(Image by Colleen ODell, Pixabay)
“from first principles“ - Als Philosoph ist man ein wenig amüsiert, wenn diese Formulierung benutzt wird, darauf dann aber keine Herleitung der fundamentalen Kategorien des Seins folgt. Gemeint ist so etwas wie “bisherige Grundannahmen hinterfragen” - soweit ich sehen kann, tun die Autoren dies jedoch nicht in einem zufriedenstellenden Ausmaß, die Formulierung ist m.E. daher irreführend.
HH+BW knüpfen an eine Parabel des britischen Philosophen und Schriftstellers G. K. Chesterton an, die sie “Chesterton’s Fence” nennen: »The more modern type of reformer goes gaily up to [a fence] and says, ›I don’t see the use of this; let us clear it away.‹ To which the more intelligent type of reformer will do well to answer: ›If you don’t see the use of it, I certainly won’t let you clear it away. Go away and think. Then, when you can come back and tell me that you do see the use of it, I may allow you to destroy it.« (47)
Wir denken im 21. Jahrhundert vielleicht an das Internet, Smartphones, KI und VR - wenn wir in frühere Jahrhunderte blicken, könnten wir Raffinadezucker, Kaffee, Kartoffeln, später dann Radiologie in Schuhgeschäften, Asbest in Gebäuden, Contagan und andere Medikamente betrachten. Das Problem ist nicht per se neu.
Ich verdanke das Beispiel dem anregenden Buch Die Entdeckung des Chaos von John Briggs und F. David Peat.
Dies zeigt sich auch im Fortschrittsglauben, der sich hartnäckig hält, obschon er stellenweise spätestens seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts bröckelte (Vgl. bspw. Gernod Böhme, Am Ende des Baconschen Zeitalters). Man bedenke aber, dass die meisten Kulturen über den größten Zeitraum ihrer Existenz von einem dauerhaften Abstieg des Menschen aus einem goldenen Zeitalter in den Weltuntergang hinein ausgingen, dargestellt bspw. in Hesiods Werke und Tage.
Eine Minute bevor die Stunde rum ist. D.h. kurz bevor alles aufgebraucht ist, sieht es noch vollkommen in Ordnung aus: 50% der Nährlösung ist noch vorhanden. Eine Minute später beginnen die Bakterien, in ihren eigenen Stoffwechselprodukten zu sterben. Meiner Erinnerung nach kommt dieses Beispiel aus dem Buch Immoderate Greatness von William Ophuls.
Interessanterweise gibt es keine adäquate Übersetzung des Begriffs trade-off, wie er in diesem Kontext gebraucht wird, ins Deutsche. Gemeint ist, dass wir für das, was wir durch eine Neuerung gewinnen, immer auch etwas verlieren. Nichts ist umsonst, nichts ist vollkommen.
Jonathan Haidt hat ausgeführt, dass Wahrheit und "Social Justice" nicht gleichzeitig maximiert werden könnten; und in Essentialism von Greg McKeon wird eine Herdplatten-Metapher diskutiert, deren Wahrheitsgehalt ich nicht bestimmen kann, die mich aber fasziniert:
Dein Leben ist ein Elektroherd mit vier Platten: Familie, Freunde, Gesundheit, Beruf. Willst du erfolgreich sein, musst du eine dieser Platten auslassen. Willst du sehr erfolgreich sein, sogar zwei. -
In mir regt sich die Wunschvorstellung, dass dies doch kein Nullsummenspiel sei und dass es möglich sei, gerade durch das Maximieren seiner Gesundheit beruflich wie privat erfolgreich sein zu können, aber mit zunehmendem Alter beobachte ich, wie das nicht funktioniert und wir zunehmend gezwungen sind, uns für Mittelmaß oder für das Auslassen mancher Platten zu entscheiden.