Aberglaube und Angst: Die Wiederkehr des Verdrängten
Über Angst, Hyperrationalismus, Narzissmus und Regeldrang -- Mattias Desmet, Die Psychologie des Totalitarismus - Teil 10
Dies ist der zehnte Teil einer Artikelserie zu Mattias Desmets Die Psychologie des Totalitarismus. Hier geht es zum ersten Teil. Dieser Teil ist aber auch für sich genommen gut lesbar.
Menschen haben immer Angst, schon immer gehabt, denn, wie Peter Sloterdijk es in Du musst Dein Leben ändern ausdrückt, schon dem ersten Jäger, der im Zuge der Menschwerdung in der Savanne zum ersten Mal zum Himmel aufgeblickt habe, hätte sich unweigerlich der Eindruck eingestellt, der Horizont sei keine schützende Umhüllung, sondern ein Tor, “durch das die Götter und die Gefahren eintreten.”
Angst im Abendland: das Meer
Wovor wir Angst haben, und was wit tun, um der Angst zu begegnen, das ist allerdings dem historischen Wandel unterworfen. Und so konnte mit der Aufklärungs-Tradition in der Neuzeit die Ambition entstehen, den Menschen von seinen Ängsten zu befreien. Krankheit und Leid waren in den Griff zu bekommen, und Gott und Teufel wurden aus dem Diskurs verbannt, die strikte Knute von Tradition und Sitte wurde gelockert, Pflicht und Sünde durch Recht und Lust ersetzt.
So weit, so gut, so nachvollziehbar. Der Historiker Jean Delumeau hat unter dem Titel Angst im Abendland große Studien zur “Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts” veröffentlicht, die sehr lesenswert sind.1 Delumeau schreibt zu Beginn seiner Untersuchung, der “Ort der Angst par excellence” sei in der frühen Neuzeit das Meer gewesen. Und der andere Jean, Jean Gebser, liefert uns eine interessante Erklärung dafür, demnach die Meerfahrt als Symbol gilt für die Bewusstwerdung, die “Durchmessung der eigenen Seele”:
“Erst wer es erlernte, zu sich selbst “Ich” zu sagen und sich damit nicht mehr an alle Welt austeilt oder sich aller Welt entzieht, erst der ist fähig, sich auch ganz zu verlieren — und sich damit, um das Du bereichert, wiederzugewinnen. Doch das Geheimnis dieses ‘Gewinnes’, der zugleich ein Verlust ist, ist vielleicht das tiefste Lebensgeheimnis und so tief und unauslotbar wie das Meer.” (Ursprung und Gegenwart, I, S. 150, m.H.)
Und das Meer, wie das Durchmessen der Seele, ist vollkommen unwägbar: Strömungen, Winde, Sturm, Krankheiten, all dem ist man ausgeliefert. “Wenn du lernen willst zu beten, dann fahr aufs Meer hinaus”, sagt Sancho Panza im Don Quichote.2 Zudem wusste man damals überhaupt nicht, wo es einen hinführen könnte, wenn man sich auf das offene Meer wagt.
Wandel der Angst
Heute haben wir zum Großteil keine Angst mehr vor dem Meer. Ganz im Gegenteil ist es zu einem Sehnsuchtsort geworden: Inseln, Palmen, Strände, Jachten. Obwohl das Meer weiterhin seine Toten fordert und weiterhin etwas Bedrohliches haben kann, so hat es doch auch etwas tiefgehend Beruhigendes, Erdendes.3
Wir haben auch keine Angst mehr vor “den Sternen, den Wunderzeichen, vor Gespenstern”, “der Pest, den Hungersnöten, den Steuererhöhungen und dem Durchzug von Kriegsvolk”, noch weniger vor den “Handlangern des Teufels”, “Ketzer, Hexen, Türken, Juden usw.”, geschweige denn vor dem Satan selbst, den wir abgeschafft haben.4
Das große aufklärerisch-wissenschaftlich-technische Projekt der Neuzeit hat uns weitgehend von diesen Ängsten befreit. Und doch… und doch, so schreibt Desmet, verkehre sich dieser Trend “in sein Gegenteil”:
“Die Idealisierung des menschlichen Verstandes führte letztlich eher zu einer Intensivierung der Angst vor Krankheit und Leiden, die zwischenmenschlichen Beziehungen wurden immer mehr von Unsicherheit und Verwirrung geprägt. Die alten Gebote und Verbote wurden schließlich durch ein Wirrwarr von Regeln und Regelchen und eine hyperstrenge Moral ersetzt. Wie ist das alles psychologisch zu verstehen?” (S. 89)
Ein neuer Aberglaube
Einen Teil der Antwort kennen wir bereits. Das aus seinen bisherigen Verbindungen und Bindungen herausgerissene Individuum sieht sich einer Welt gegenüber, die ihm gegenüber indifferent ist. Ohne einen Zusammenhang mit einem Kosmos lebt und stirbt der Mensch der Neuzeit im Grunde vollkommen sinnlos. Wir dürfen daher vermuten, dass die alten, abergläubischen Ängste ersetzt wurden durch die Angst vor der Sinnlosigkeit und die Angst vor dem Tod und damit dem vollständigen Erlöschen der eigenen Existenz.
Und so wie wir Rituale und andere Methoden entwickelt hatten, die abergläubischen Ängste im Zaum zu halten, so entwickelten wir Rituale und Methoden, um diese neueren Ängste zu bewältigen.
Was die interessante und offene Frage aufwirft: Haben wir womöglich die eine Art des Aberglaubens einfach nur durch eine andere Art ersetzt?
Hyperrationalismus
Eine mögliche und plausible Antwort bietet uns Egon Friedell in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit, wenn er an mehreren Stellen über den Hyperrationalismus der Neuzeit spricht, und seiner Hoffnung Ausdruck verleiht, diese Zeit sei nun (in den 1920ern geschrieben) wohl bald vorbei:
“die Steigerung und Übersteigerung der rationalistischen Prinzips in seiner Anwendung auf alle Lebensgebiete” (S. 902)
die “Heraufkunft eines extremen, exklusiven, allumspannenden Rationalismus” (S. 233)
“dass der Rationalismus nicht das einzige, sondern nur eines von den vielen Vorurteilen ist, die die Menschheit in ihrer Geschichte zu durchlaufen hat. Dass er aber besser als die anderen, dass er das einzig sinnvolle, ja dass er überhaupt kein Vorurteil sei: diese Annahme ist ein moderneuropäischer Lokalwahn.” (S. 239)
“Und es ist mehr als wahrscheinlich, dass der Mensch der Zukunft … in unserer Neuzeit mit ihren ‘Errungenschaften’ die Ära des finstersten, unfruchtbarsten und borniertesten Aberglaubens der bisherigen Geschichte erblicken wird.” (S. 239)
Wir sollten nur nicht den Fehler begehen, den Desmet ja auch nicht begeht, sozusagen das Kind mit dem Bade auszukippen, und uns aus der Ablehnung des übersteigerten Rationalismus in einen Irrationalismus, oder generell in die Vergangenheit flüchten wollen. Wir sollten nicht zu einem unlogischen, oder prälogischen Denken zurückkehren, sondern zu einem überlogischen Denken fortschreiten.5
Laut Desmet lassen sich zwei weitverbreitete psychische Phänomene der heutigen westlichen Gesellschaft auf die “Angst und Unsicherheit”, die der Hyperrationalismus erzeugt hat und die ihn wiederum verstärken, zurückführen:
Narzissmus
Regeldrang
Narzissmus: das verhüllte Subjekt
Der Begriff des Narzissmus wird von verschiedenen psychologischen Schulen verschieden verwendet, “definiert” und erklärt. Der Kern ist für Desmet der Wunsch des Menschen, “das [eine] Objekt der Mutter”, später anderer Bezugspersonen zu sein. Der “Archetyp der narzisstischen Erfahrung” sei es für das Kind, sich im Beisein der Mutter im Spiegel zu erkennen und zu begreifen: “Ich bin Es für den Anderen.”
Diese Erfahrung befreie das Kind für einen Moment von der ständigen Unsicherheit seiner Existenz, die für Desmet damit zusammenhängt, dass unsere Kommunikation “von Unklarheiten, Missverständnissen und Zweifel” geprägt sei, sodass das Kind nie ganz sicher sein könne, was man eigentlich von ihm will und wer es sei.
Bei einer gesunden Entwicklung befreie sich der Mensch im Laufe seiner Entwicklung vom Wunsch nach vollständigem Verstehen und vollständiger Abgrenzung. Die Erkenntnis, dass auch die Eltern nicht allwissend und allmächtig sind, führe zu einer Befreiung vom Wunsch, “vollkommen korrekt zu sein”. Statt einer logisch-rationalen Ebene der Sprache eigne sich der Mensch eine kreativ-poetische Ebene an:
“Die lockere Handhabung von Sprache und Wörtern, nicht auf definitive Bedeutungszuweisung gerichtet, trägt die Fähigkeit in sich, etwas von der ungreifbaren Eigenheit des Kontexts mitschwingen zu lassen, in dem sich ein Kind befindet: eine Mutter, ein Vater, ein Elternpaar, eine Familie. Auf diese Weise findet das Kind, nachdem es den langen Umweg über das Erwerben eines Selbstbilds im Spiegelstadium und die Periode des erwachenden logisch-rationalen Denkens gemacht hat, in Geschichten und Poesie Echos und Gerüche des verlorenen Mutterparadieses seiner allerersten Lebensmonate wieder.” (S. 111f., m.H.)
Wenn dieser Prozess nicht gelingt, dann führe die bleibende Verunsicherung dazu, dass keine poröse Grenze zwischen Selbst und dem anderen souverän gemeistert werden kann, sondern “die mental-visuelle Grenze zwischen dem Subjekt und dem Anderen so dick und prononciert [wird], dass das Subjekt … mental in diesem Selbstbild eingeschlossen wird.” Dadurch fehle es ihm an Empathiefähigkeit, also der Möglichkeit, sich in die anderen einzufühlen, aber auch es selbst fühle sich innerlich leer und bleibe um “äußeren Schein bemüht”.6
Und Desmet findet, dass diese Charakterisierung unsere modernen westlichen Gesellschaften gut beschreibt: Wenig Empathie, viel innere Leere, und der ständige Drang, sich zu inszenieren, um überhaupt zu sein. (Chirurgische Eingriffe, Beauty-Industrie, Selfies, “social media”, Konsum, Werbung: Haste was, biste was.)
Regeldrang: extreme Unsicherheit
Die tief gehende Unsicherheit, wer man eigentlich ist und wie man sich verhalten sollte, die das souveräne Selbst nicht kennen würde,7 führt gesellschaftlich zum “Regeldrang”, dem Wunsch, dass einfach alles nach expliziten Regeln abläuft, an die man sich leicht halten kann, wenn man sie kennt, und dass nichts der Vagheit überlassen bleibt, in der man sich so unsicher fühlt.
“Es ist nicht zu übersehen, dass sich auch die Gesellschaft immer mehr in endlosen Wucherungen von Regeln festfährt. Diese Regeln werden einerseits von der Regierung auferlegt, andererseits wird aber auch in der Bevölkerung selbst der Ruf nach mehr Regeln — nach einer hyperstrengen Moral — laut.” (S. 101)
Dieser Ruf sei der “krampfhafte Versuch”, die Ängste und Unsicherheiten in den Griff zu kriegen. Er führe aber zu einer Moralisierung, “die sich in verschiedener Hinsicht als strenger, launischer, irrationaler und scheinheiliger erweist als die religiöse Moral”, beispielsweise mit “dem Aufkommen der Woke-Kultur.”
Die woke Hypermoral
Diesen Begriff wählt Desmet für die gesellschaftlichen Phänomene, deren Anliegen zwar legitim sind — gegen Sexismus und Rassismus vorgehen, Naturschutz und Solidarität — deren Lösungsansätze “in vielerlei Hinsicht maßlos, inkonsistent und kontraproduktiv” seien:
“Im MeToo-Diskurs verschwimmen die Grenzen zwischen ungeschicktem Flirten und Vergewaltigung; im Black-Lives-Matter-Diskurs wird jeder Verweis auf die Hautfarbe zum Eiertanz; die Klimabewegung entfremdet den Menschen noch mehr von der Natur; in der Coronakrise wird Gesundheitsfürsorge zu einem Anschlag auf das Leben.” (S. 104)
Besonders schwer muss für eine politische Bewegung eigentlich der Vorwurf wiegen, kontraproduktiv zu sein, obwohl Eric Hoffer eine plausible Theorie dazu vorstellt, warum der Bewegung der Vorwurf egal sein wird, weil sie sich nämlich selbst nur am Leben erhalten kann, indem sie die ursprüngliche Motivation des Menschen, sich der Bewegung anzuschließen, gerade nicht befriedigt.8
Die Aggressivität der neuen Moral führt zu breiter Ablehnung ihrer Ideale, und es lässt sich tatsächlich beobachten, dass sexistische und rassistische Äußerungen zunehmen, generell die kommunikativen Sitten roher werden, mehr Menschen den Klimawandel leugnen oder ignorieren, und ein nicht zu unterschätzender Teil der Bevölkerung sämtlichen Respekt vor der staatlichen Ordnung verliert, weil er die Corona-Maßnahmen als zwanghaft ablehnt.
Die Tragik der Corona-Maßnahmen
Das ist tragisch, weil wir eigentlich eine sehr schöne staatliche Ordnung haben, wie sie sich im Grundgesetz ausdrückt. Man würde sich wünschen, dass sie auf eine nicht-narzisstische und nicht-regeldrängende Weise lebendig umgesetzt würde. Mit Bezug auf die Corona-Maßnahmen hätte dies meines Erachtens eine Freiwilligkeit und Eigenverantwortung bedeutet, die dem Menschen gutgetan hätte.
— Aber dann hätten sich viele nicht an die Maßnahmen gehalten!
Das stimmt, aber es haben sich auch so viele nicht an die Maßnahmen gehalten, zum Beispiel Boris Johnson und seine Regierungsclique. Und einige Maßnahmen waren unsinnig, was heute teilweise auch eingesehen wird, aber auch schon im Mai 2020 einsehbar gewesen wäre. Die langen Schulschließungen und die Maskenpflicht in Schulen zum Beispiel. 2G. Das Wegsperren der Alten und das Ausschließen der Ungeimpften — alles in meinen (betroffenen) Augen, insbesondere durch die Rhetorik, die damit einherging, verfassungswidrig, oder zumindest gegen den Geist der Verfassung.
Mir ist bewusst, dass Verfassungsrichter das teilweise anders sahen.
Verwalten, Verwalten, Verwalten
Ein Indiz dafür, dass unsere Gesellschaft vom Regeldrang langsam erdrückt wird, ist die gewaltige Zunahme von Verwaltungsjobs (zu großen Teilen Bullshit-Jobs) und der Verwaltungsaufgaben, die auch “Ladenbesitzer, Landwirte oder Lehrkräfte” erfüllen müssen. Pedantisch muss ständig alles, was überhaupt getan wird, auch dokumentiert werden, um in jedem noch so unwahrscheinlichen Fall nachweisen zu können, dass alles “mit rechten Dingen” abgelaufen ist und man selbst jedenfalls keine Schuld an irgendetwas trägt, weil man sich an “Recht und Ordnung” gehalten hat. Nur: je mehr Regeln es zu bedenken gibt, desto schwieriger wird es auch, allen jederzeit gerecht zu werden, was zu einer zwanghaften Verkrampftheit führt:
“Der Regeldrang trägt in all seiner Maßlosigkeit und Absurdität erheblich zu den psychischen Problemen unserer Zeit bei. Die Widersprüchlichkeit und Unklarheit der Regeln führt zu einem neurotischen pawlowschen Effekt, und ihr exzessiver Charakter nimmt dem Leben die Befriedigung, Spontaneität und Freude.” (S. 107)
In seinem Hang, wirklich alles reglementieren zu wollen, weil man nur dann, wenn alles einer expliziten Regel unterworfen ist, wirklich wissen zu können meint, dass man alles richtig macht, lebt eine Tendenz zum Totalitarismus. Der perfekte Bürokrat handelt wie ein Computer, also rein rational-berechnend, ohne Poesie, ohne Kreativität — und in dieser Hinsicht, so Desmet, gleiche der Computer dem “idealen totalitären Führer. Dem Führer, der der Bevölkerung rücksichtslos seine Logik aufzwingt.”
Regeldrang und Totalitarismus
Die Kombination aus Regeldrang und digitaler Massenüberwachung ist besonders beunruhigend. Wenn alles reglementiert ist, und jeder sich ständig überwacht fühlt, sind wir nicht mehr weit weg von einem social-credit-System nach chinesischem Vorbild, selbst wenn es niemals offiziell implementiert wird. Eine freie Gesellschaft braucht die unüberwachten, unreglementierten Freiräume, in denen das menschliche Leben zu seiner vollen Entfaltung kommen kann.
Eine unfreie Gesellschaft ist hingegen zum Scheitern verurteilt.9 Denn die Position des totalitären Führers, oder der Führungsriege, sei, so Desmet, “unmöglich, einfach weil auch er, trotz seines megalomanen Glaubens und seines ideologischen Fanatismus, der Struktur der Sprache unterworfen” sei — er könne zwar so tun, als biete er die allumfassende Sicherheit, dies beruhe dann aber immer mehr auf Fehlern und Widersprüchen, auf Lügen und Betrug.
Es wäre naiv zu bestreiten, dass auch in unserer Gesellschaft bereits Fehler und Widersprüche, ja auch Lügen und Betrug in relevantem Ausmaß lebten. Dass aber immerhin Fehler zugegeben wurden und — wenn auch sehr schleppend und wenig zielstrebig — eine Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen stattzufinden beginnt, können wir als positives Zeichen werten, dass sich die totalitären Tendenzen, die den Corona-Maßnahmen durchaus innewohnten — womit nicht behauptet sein soll, dass dies auch intendiert war, sondern lediglich, dass die starken Eingriffe ins Privatleben wie ausgeführt rein strukturell in eine totalitäre Richtung gehen —, sich (vorerst) nicht durchgesetzt haben.
Was sich in dieser Zeit aber sehr wohl beobachten ließ, auch an anderen Beispielen, auch schon vorher und hinterher, und was auch nicht so schnell verschwinden wird, ist die Tendenz der “mechanistischen Ideologie”, in der Bevölkerung — “ängstlich, sozial atomisiert und sich nach Richtung und Autorität sehnend” — einer “speziellen sozialen Gruppe” Vorschub zu geben, “die die psychologisch-gesellschaftliche Basis des totalitären Staates bildet: der Masse.” (S. 116)
Wir haben nun das Ende des ersten Teils von Mattias Desmets Die Psychologie des Totalitarismus erreicht — und somit seine Überlegungen zu Ende geführt, weshalb die moderne Gesellschaft den Totalitarismus im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat und ihn auch wieder — laut Hannah Arendt dann wohl in unpersönlicher, bürokratischer Form — hervorbringen könnte.
In den kommenden Artikeln werden wir uns dem zweiten Teil des Buches widmen, das den Prozess der Massenbildung selbst untersucht.
Stay tuned.
Auf diese weist Ivan Illich in In den Flüssen nördlich der Zukunft, und stellt die These auf, dass diese Ängste des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit durch den Prozess hervorgerufen wurden, die er “Kriminalisierung der Sünde” nennt:
“Through the Incarnation, as I have said, a new kind of betrayal becomes possible. The Christian is called to be faithful not to the gods, or to the city’s rules, but to a face, a person; and, consequently, the darkness he allows to enter him by breaking faith acquires a completely new taste. This is the experience of sinfulness. It is an experience of confusion in front of the infinitely good, but it always holds the possibility of sweet tears, which express sorrow and trust in forgiveness. This dimension of very personal, very intimate failure is changed through criminalization, and through the way in which forgiveness becomes a matter of legal remission. Once the sinner is obligated to seek legal remission of a crime, his sorrow and his hope in God’s mercy becomes a secondary issue. This legalization of love opens the individual to new fears. Darkness takes new shapes: the fear of demons, the fear of witches, the fear of magic. And the depth of these fears is also expressed in the new hope in science as the way of banishing this darkness.”
Den ich nicht gelesen habe. Ärgerlich. Kannmannixmachen. Gebser zitiert den Satz nebst anderen.
Ich schreibe diese Zeilen als jemand, dem ein sehr guter Freund im Meer ertrunken ist und der selbst einmal fast ertrunken wäre. Und ich nehme an, dass diese beiden Erlebnisse durchaus eine tiefe Bedeutung für mein Leben hatten und in jedem Fall die Schwelle meines Übertritts in das Erwachsenenleben markieren.
Wobei mir der äußerst amüsante Dialog zu Beginn von Bulgakows Meister und Margarita einfällt, in dem der Chefredakteur Berlioz dem Lyriker Besdomny und einem “Ausländer” auseinandersetzt, dass Jesus nie existiert habe, dass auch Gott nicht existiere, dass der Atheismus sich in ihrem progressiven Land durchgesetzt habe, dass sämtliche Gottesbeweise lächerlich seien; woraufhin der Ausländer, der “wohl Deutscher” sei, ein Intermezzo darüber beginnt, wer denn eigentlich die menschlichen Schicksale dann wohl lenke, und dass man jederzeit sterben könne, um schließlich zum Thema zurückzukehren mit der Versicherung, dass Jesus durchaus existiert habe, er sei schließlich dabei gewesen, und darüber hinaus existiere auch der Teufel, dafür gebe es einen siebten Beweis und der sei wasserdicht. (Und im Weiteren wird immer deutlicher, dass dieser “Ausländer”, der “wohl Deutscher” ist, in Wahrheit der Teufel selbst ist.)
Jean Gebser bietet die Terminologie “perspektivisch” für das normale neuzeitliche Denken und “aperspektivisch” für das Kommende an. Man könnte vielleicht sagen, dass das perspektivische, logische Denken überall da angebracht ist, wo der Satz vom ausgeschlossenen Dritten und der Satz vom Widerspruch gelten, also in den Bereichen des Krämertums und des Technisch-Machbaren.
Wer an den genauen Details von Desmets Ausführungen interessiert ist, lese das 5. Kapitel im Buch.
Bei Platon, könnte man spekulieren, ist das souveräne Selbst das tugendhafte Selbst, dass aufgrund seiner Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit allzeit und in jeder möglichen Situation weiß, was zu tun ist, und wer man ist, nämlich die Verkörperung ebendieser Tugenden, die sich zum Höchsten, der Gottesschau nämlich, oder der Idee des Guten aufschwingen will.
Eric Hoffer, The True Believer: Thoughts on the Nature of Mass Movements. Auch Desmet denkt in eine ähnliche Richtung, wenn er schreibt, dass diese Bewegungen zwar “an reale Probleme an[knüpfen], aber diese Probleme sind nicht ihr eigentlicher Existenzgrund. Sie entspringen vor allem dem dringenden Bedürfnis der Bevölkerung nach einer autoritären Instanz, die ihr die Richtung weist, ihr die Last der Freiheit [wie Erich Fromm es nennt] und die damit einhergehende Unsicherheit von den Schultern nimmt.” Und fügt düster hinzu: “Und der Staat ist gern bereit, diese Leerstelle zu füllen.” (S. 113)
Das mag einerseits beruhigend sein, aber die Geschichte hat gezeigt, dass selbst dieser Untergang noch mit gewaltiger Brutalität und schier unermesslichem Leiden verbunden sein kann.
Ja, ich like und kommentiere meine Artikel auch immer selbst xD
Lieber Conrad, ich bin ebenfalls beeindruckt von deiner Ausführung über Mattias Desmets Buch und seine dortige Gedankenwelt. Ich hatte auch schon vor, ihn selbst zu lesen - Buch 52 auf dem Stapel - doch dein Text hier macht es einfacher für mich und rascher am Inhalt zu partizipieren. Ich bin von euch beiden beeindruckt und werde mit Freude und Interesse weiterlesen.
Deine Fußnoten sind ebenfalls super interessant. Gebser ja! Ich dachte es mir doch beim Lesen. Schön ist es, wenn ich so viel Zustimmung fühlen darf beim Lesen, doch auch Inspiration erfahre - und das Corona Kapitel? - da bin ich eher weiter weg vom Autoren aufgestellt. Das fühlt sich aber auch gut an, erfrischend und qualitative Nahrung für den Geist. Ein lieber Gruß geht in der Hitze raus an dich ... und ich lese immer weiter ...