Den Seinen gibt's der Herr im Schlaf
Mattias Desmet - Die Psychologie des Totalitarismus, Teil 5
Für Eva; und alle, die mehr als 15 Stunden pro Woche arbeiten :)
Dies ist der fünfte Teil einer Artikelserie zu Mattias Desmets Die Psychologie des Totalitarismus. Hier geht es zum ersten Teil. Dieser Teil ist aber auch für sich genommen gut lesbar.
Der Tag hat 24 Stunden. Da erscheint es in gewisser Weise als stimmig, dass man ihn durch 3 teilt: 8 Stunden Schlafen, 8 Stunden Arbeiten, 8 Stunden Freizeit. Früher gab es die Idee der Freizeit nicht, da hat man 12 Stunden der Arbeit und 12 der Erholung (Schlaf + Ruhe + Gebet + Nahrungsaufnahme) zugeteilt. Laut Gary Snyder haben die frühen “unzivilisierten” Naturvölker aber eher nur 2 Stunden gearbeitet. Er beruft sich dabei auf Marshall Sahlins Stone Age Economics:
“upper Paleolithic people worked about fifteen hours a week and devoted the rest of their time to cultural activities. That period and shortly thereafter coincides with the emergence of the great cave art — for example, in the Pyrenees in southern France. … they ate extremely well.” (The East West Interview, quoted from The Gary Snyder Reader, p. 107)
Wir können nur spekulieren, was diese kulturellen Aktivitäten gewesen sein mögen, basierend auf dem, was Spuren hinterlassen hat: Malerei, Musik, Gesang, Tanz, Geschichten, Reisen …
An dieser Stelle interessieren mich aber vor allem zwei Fragen:
Wieso müssen wir heutzutage mehr arbeiten als früher, wo wir doch so viel Technik haben, die uns die Arbeit abnimmt?
Wieso widmen wir uns in unserer Freizeit mehrheitlich nicht mehr kulturellen Aktivitäten, sondern höchstens kulturellen Passivitäten?
Ich bin versucht, mit einem Zitat aus dem Film Fight Club zu antworten:
“Advertising has us chasing cars and clothes, working jobs we hate so we can buy shit we don’t need.”
In anderen Worten, und etwas weniger profan: Weil wir es so eingerichtet haben. Und dieses “Wir” ist ein virtuelles, in dem der Einzelne keine Macht und kein Mitspracherecht hat. Es ist auch ein Wir, das lange vor unserer Geburt Entscheidungen getroffen hat für unser Leben. Wir hätten es auch anders einrichten können. Das haben wir aber nicht gemacht. Jetzt müssen wir damit leben, wie es ist.
Was nicht heiß, dass wir uns damit abfinden müssten. Wir könnten Ideen entwickeln, wo wir überhaupt hin wollen. Die Dinge abzulehnen reicht nicht. Wir brauchen ein konstruktives Ideal. Und dann brauchen wir gangbare Wege, wie wir von A nach B kommen könnten.
I. Die Welt und der Mensch
Mattias Desmet zufolge war der Mensch bis zum Beginn der Neuzeit gezwungen, sich der Welt anzupassen. Er hatte sie mit all ihren Härten und Entbehrungen hinzunehmen, und entwickelte entsprechende Weltbilder. Das in Europa dominante Weltbild beinhaltete die Vorstellung, dass die Welt ein Jammertal sei, der Mensch als sündiges Wesen in eine sündige Welt geworfen, und dies alles sei eigentlich nur deshalb zu ertragen, weil nach diesem entbehrungsreichen Leben ein besseres und ewiges auf den Gottgefälligen warte.
Die große Ambition der Neuzeit sei es hingegen, die Welt dem Menschen anzupassen. Die Hoffnung auf ein jenseitiges Paradies wird sukzessive durch die Hoffnung auf ein diesseitiges ersetzt, einschließlich der Vorstellung, Leiden und schließlich sogar den Tod zu überwinden.
Innerhalb dieses Weltbildes haben wir uns angewöhnt, alles für prinzipiell beherrschbar zu halten. Naturkatastrophen sind vielleicht noch nicht vermeidbar, sie müssen wohl aber vorhersagbar sein: Vulkanausbrüche, Erdbeben, Flutwellen, Dürre, Überflutungen, alles soll prognostizierbar sein, alles wird überwacht, und wenn es einmal nicht klappt, wird den Verantwortlichen die Schuld dafür gegeben, d.h. wir sprechen dann von menschlichem Versagen, nicht mehr vom Schicksalsschlag.
Dies gilt natürlich dann auch für die anderen Menschen. Auch diese müssen überwacht und ihr Verhalten prognostiziert werden, und wenn sie sich anders verhalten als erwartet, dann ist auch dies menschliches Versagen: der Geheimdienste, der Politik, der Bevölkerung selbst, vor allem aber auch der Technik, weshalb diese noch weiter verfeinert werden müsse. Mehr Überwachung, mehr Befugnisse, mehr Horten von Informationen über jedermann. Mehr Vorhersagbarkeit. Was natürlich heißt: mehr sein wie Gott, wie das christliche Europa ihn sich ausgemalt hat: allmächtig, allwissend, und natürlich allgütig.
II. Bequemlichkeit und ihr Preis
Das Leben sollte leichter werden, zu diesem Zweck mechanisierte und industrialisierte der Mensch seine Lebenswelt, und damit ein Stück weit die ganze Welt. Heute könnte man vielleicht noch hinzufügen: er informatisiert die Welt.1 Dieser Vorgang, so Desmet, hat aber seine unerwartete Kehrseite, nämlich “dass die Beziehung des Menschen zu seiner natürlichen und sozialen Umgebung geschwächt wurde.” (S. 38)
Künstliches Licht, die Uhr, der Kompass, die Industriearbeit in Gebäuden, die heutige Informationsarbeit vor Bildschirmen, und viele andere Errungenschaften, bringen einerseits zwar Erleichterung, aber jeweils um einen Preis:
“Den psychologischen Folgen wurde kaum wirklich Bedeutung beigemessen, wenn sie überhaupt wahrgenommen wurden. Sie waren aber zweifellos immens. Vor der Mechanisierung hatte die Erfahrungswelt des Menschen konstant mit der sich beständig wandelnden Formensprache der Natur resoniert, danach wurde er vor allem von einer monotonen, mechanischen Rhythmik absorbiert.” (S. 38)
Wir gewinnen etwas, aber wir verlieren auch etwas. Und nicht immer ist klar, dass das Gewonnene das Verlorene ausgleicht, oder wert ist. Und es bleibt auch nicht wirklich dem Individuum überlassen, was er nutzen möchte und was nicht. Das wäre eine naive Vorstellung. Denn:
In einer Gesellschaft, in der die Hausarbeit hauptsächlich von Maschinen verrichtet wird, wird dir gesellschaftlich gar nicht die Zeit zugebilligt, dein Geschirr, deine Böden und deine Wäsche in Handarbeit zu reinigen.
Wenn jeder ein Smartphone hat, wird es schwer, darauf zu verzichten, weil du dadurch unbequem für die anderen wirst, und wer möchte den anderen schon zur Last fallen?
Und wer will dich singen oder erzählen hören, wenn er auch ohne Weiteres jeden professionellen Sänger und jeden Autor auf der ganzen Welt abrufen kann?
Mit diesem letzten Gedanken sind wir bei den Massenmedien angelangt, die die sozialen Beziehungen des Menschen stark veränderten. Mit dem Radio und Fernsehen beginnend fiel die Notwendigkeit weg, sich mit anderen Menschen auseinanderzusetzen, denn man konnte auch einfach vor seinem Gerät sitzen und sich beschallen lassen: “in der Folge verringerten sich direkte menschliche Kontakte mit rein sozialer Funktion.” Was bequem und ungefährlich ist. Aber tut es dem Menschen auch gut? Bedeutet es kulturelle Diversität, wenn der ganze Westen das konsumiert, was Netflix und ein paar wenige andere Anbieter produzieren?
Es geht mir — und Desmet — nicht darum, allen Fortschritt schlecht zu reden und den Wunsch nach einem leichteren Leben zu geißeln. Das wäre sehr einseitig. Genauso einseitig wäre es aber, das Verlorene zu ignorieren: Was haben wir verloren? Was könnten wir wiedererlangen, wenn wir danach strebten? Was könnten wir Neues daraus schaffen?
III. Struktur der Arbeitswelt
Arbeit dient dem Überleben in einer per se für den Menschen eher lebensfeindlichen Umwelt.2 Entsprechend übten die allermeisten Menschen die allermeiste Zeit über Arbeit aus, die unmittelbar darauf abzielte, Nahrung und andere Notwendigkeiten des Lebens zu generieren. Sie waren Jäger und Sammler, oder Bauern, und viele bauten ihre Häuser und was man sonst so brauchte selbst.
Seit den frühen Hochkulturen gab es natürlich auch immer einen kleinen Anteil der Menschen, die etwas anderes machten. Die Priester, die Herrscher, die Bürokratie.3 Und nach und nach differenzierten sich die verschiedenen Berufe als Handwerk aus, das heißt, es wurde immer häufiger auch etwas für Andere, nicht für den Eigenbedarf produziert, sodass ein Mittel gefunden werden musste, um den Tausch von Waren und Dienstleistungen zu vereinfachen: Geld.4
Die Abhängigkeit voneinander gab dem Leben eine recht enge Struktur vor. Man war eingebunden in sein Dorf. Das hatte viele Nachteile, aber auch Vorteile. Man wusste, wer man in Bezug auf die anderen Menschen war. Diese festen (starren) sozialen Strukturen wurden durch die Industrialisierung und in verstärktem Maße durch die immer schnellere Veränderung der Arbeitswelt aufgebrochen, sodass wir heute nicht mehr wissen, was wir in Bezug auf die Anderen sind, oder anders herum: dass wir alles sein können oder auch nichts.
Oft wird dies als Siegeszug einer größeren Freiheit dargestellt, mit einem gewissen Recht. Nur wird dabei übersehen, dass bedingungslose, grenzenlose Freiheit Beliebigkeit bedeutet. Freiheit, die uns tatsächlich zum Vorteil gereichen soll, braucht immer einen vorgegeben Rahmen, innerhalb dessen sie sich ausleben kann. Ohne einen solchen Rahmen ist eine Zielsetzung eigentlich nicht möglich und ohne Zielsetzung fehlt uns der Sinn und wir werden handlungsunfähig.
Schlimmer noch, wir fühlen uns unbehaglich und auf unspezifische Weise ängstlich. Desmet lässt sich zu der pathetischen Formulierung hinreißen:
Ihr Wegfallen [der sozialen Struktur] ließ den Menschen verwirrt im dunklen Wald seiner Existenz zurück; seine Angst und sein Unbehagen geisterten umher, ohne dass er sie einordnen konnte.” (S. 39f.)
IV. Sinn und Notwendigkeit der Arbeit
Die frühere Situation war also, dass unser Arbeiten inhärent als sinnvoll empfunden werden konnte, weil wir es entweder in der Produktion von Dingen taten, die unmittelbar unserem eigenen Überleben dienten, oder aber dem uns naher Menschen (die Sippe, das Dorf). Dieses Arbeiten diente einem unmittelbaren Zweck und war notwendig, wenn auch vielleicht nicht sonderlich amüsant.
Heutzutage arbeiten die meisten Menschen in Berufen, in denen überhaupt nicht klar ist, welchen Nutzen sie am Ende gehabt haben werden; in denen sie nichts produzieren, was wirklich dem Überleben auch nur mittelbar dient; in denen sie nicht mit wenigen Nachbarn, sondern oft mit der ganzen restlichen Menschheit in Konkurrenz stehen; in denen aber sowohl die Nutznießer als auch die Konkurrenten ihres Tuns unsichtbar und anonym bleiben.
Das will nicht sagen, dass die heutige Arbeit sinnlos ist — aber der Sinn, wenn er vorhanden ist, ist abstrakter und damit weniger fühlbar geworden für den Arbeitenden. Und die Notwendigkeit ist auf zweifache Weise abhanden gekommen:
Es ist weder für mich notwendig, diese Arbeit auszuführen, denn ich könnte auch etwas anderes oder auch gar nicht arbeiten und mich vom sozialen Netz auffangen lassen.
Es ist auch für die Gesellschaft nicht notwendig, dass ich diese Arbeit ausführe, denn irgendwo unter den anderen 8 Milliarden Menschen (oder, wenn man noch national denkt: 85 Millionen) wird man schon jemanden finden können, der meine Arbeit genauso gut oder sogar besser als ich verrichten könnte.
Innerhalb eines solchen Rahmens verwundert es nicht, wenn die Menschen nicht mehr arbeiten wollen, weil sie ihre Arbeit nicht als sinnvoll oder notwendig empfinden, und darum mehr Freizeit zu brauchen meinen, um in dieser dem Sinn ihres Lebens hinterher zu jagen.5 Das ist aber offensichtlich eine gesellschaftliche Schieflage, und zugleich auch eine individuelle und eine ökologische. Gary Snyder spricht von einer dreifachen Entfremdung, wenn man versucht, das Arbeiten zu vermeiden:
“first, you’re trying to get outside energy sources/resources to do it for you; second, you no longer know what your own body can do, where your food or water come from; third, you lose the capacity to discover the unity of mind and body via your work.” (The East West Interview, quoted from The Gary Synder Reader, p. 100)
Snyder bezieht sich auf körperliche Arbeit. Und er hat natürlich vollkommen Recht. Städte sind Tumore der sie umgebenden Landschaft,6 weil sie immens Ressourcen anziehen und Umweltgifte produzieren. Die meisten Menschen leben in Städten und haben nur eine vage Ahnung davon, wozu ihr menschlicher Körper fähig wäre, und das Wasser kommt aus der Leitung und das Essen aus dem Supermarkt.7 Und natürlich hält das Arbeiten am Bildschirm in ganz praktischer Weise die cartesische Trennung von res cogitans und res extensa aufrecht, die theoretisch längst als überwunden gilt.
All diese Probleme sind längst bekannt und könnten, ohne sich ins Mittelalter zurück zu träumen, behoben werden, wenn ein gesellschaftlicher Wille dazu da wäre. Unser Wille ist aber wie gelähmt. Betäubt. Narkotisiert. Wir wüssten schon, was zu tun wäre, aber wir tun es nicht. Vielleicht, weil die anderen es auch nicht tun. Und der Mensch ist ein Herdentier.
V. Warum wird so viel gearbeitet?
Wir sind nun in einer Position, auf die eingangs aufgeworfene Frage einzugehen, warum wir so viel arbeiten. Anfang des 20. Jahrhunderts, so Desmet, habe der Ökonom John Maynard Keynes prophezeit, “dass wir durch den technologischen Fortschritt gegen Ende des Jahrhunderts nur noch eine 15-Stunden-Woche haben würden." Also genau die Arbeitszeit, die Snyder und Sahlins zufolge auch unsere frühen Vorfahren aufwandten, ganz ohne technischen Fortschritt, aber natürlich auch unter ganz anderen Bedingungen. Tatsächlich aber wurden Ende des 20. Jahrhunderts “mehr Arbeitsstunden erbracht als je zuvor.” (S. 41)
Das liegt selbstverständlich nicht daran, dass Keynes sich bezüglich des technischen Fortschritts geirrt hätte. Wahrscheinlich würden grundsätzlich sogar noch weniger Stunden reichen, um allen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen. Was aber laut Desmet stattgefunden hat, sind die Auswirkungen dessen, was Ivan Illich “Spezifische Kontraproduktivität” genannt hat: das Bemühen, etwas in einer industrialisierten — und heutzutage müssen wir immer hinzufügen: informatisierten — Gesellschaft besser und effektiver zu machen, bewirkt paradoxerweise oft, vielleicht sogar immer, das Gegenteil: weniger Effizienz und weniger Nutzen für den Menschen.
Das ist eine spannende These, die ausführlicher Begründung bedürfte, die ich in diesem Rahmen aber nicht leisten kann. Im Kern scheint mir der Grund für dieses Phänomen aber darin zu liegen, dass wir Menschen sehr schlecht darin sind, die unbeabsichtigten Folgen unseres Einwirkens in komplexe bestehende Systeme vorherzusehen.8 Die Industriegesellschaft richtet laut Illich Menschen darauf ab,
“Dinge vorgesetzt zu bekommen, statt sie zu tun. Sie haben gelernt, das, was sie kaufen können, höher zu schätzen als das, was sie selbst schaffen können. Sie wollen belehrt, bewegt, behandelt oder geführt werden, statt zu lernen, zu gesunden und ihren eigenen Weg zu finden." (Die Nemesis der Medizin, S. 153)
Und das erzeugt dann unübersehbar viele Probleme in diversen Bereichen:
"zeitraubende Beschleunigung des Verkehrs,
die verblödende Erziehung an den Schulen,
die selbstzerstörerische militärische Verteidigung,
die irreführenden Informationen der Medien oder
der Menschen entwurzelnde Wohnungsbau" (150)
und natürlich eine Medizin, die die Menschen krank macht.9
VI. Bullshit-Jobs
Desmet macht keinen Gebrauch von Illichs Vokabular oder Gedanken.10 Er bezieht sich stattdessen auf David Graebers Begriff der Bullshit-Jobs, die aber ebenfalls eine Form der spezifischen Kontraproduktivität darstellen, und die erklären sollen, warum “in unglaublichen Größenordnungen neue sinnlose und nutzlose Jobs” geschaffen wurden. Was wiederum erklärt, warum wir mehr denn je arbeiten: weil wir sinnlose und nutzlose Dinge tun. Diese Dinge erfüllen schon einen gewissen Zweck, aber dieser Zweck ist eben keiner, der dem Menschen nutzt oder Sinn gibt.
Bullshit-Jobs sind Jobs, die von den Ausführenden als (relativ) sinnlos empfunden werden, in denen sie aber dennoch bleiben, weil sie mit einem guten Einkommen und/oder Prestige verbunden sind. Man beachte die subjektivistische Formulierung: es ließe sich in jedem Einzelfall lange darüber streiten, ob der Job nicht doch sinnvoll und nützlich ist. Dieser Schwierigkeit entgeht man, indem man nur darauf abzielt, wie der Inhaber des Jobs ihn empfindet. Und für Desmets Zwecke, nämlich die psychologischen Folgen einer solchen Konstellation zu beleuchten, reicht auch die subjektive Sicht der Arbeitnehmer aus.
Diese ist tatsächlich nicht gerade rosig. In Umfragen verneinten 37% der Befragten, dass ihr Job “einen sinnvollen Beitrag zur Welt leiste”, und weitere 13% “waren sich nicht sicher”.11 Was macht es mit einer Gesellschaft, wenn die Hälfte der Bevölkerung ihre Arbeit als sinnlos empfindet? Und warum empfinden diese Menschen ihre Arbeit als sinnlos? Desmet zufolge geht es vor allem um Jobs, die “im administrativen und ökonomischen Sektor und in den zahllosen Berufen [entstanden], die diese Sektoren unterstützen.”
Ein illustratives Beispiel, das Desmet von Graeber übernimmt, macht das Gefühl der Absurdität deutlich: Ein Soldat zieht von einem Büro in ein anderes auf dem gleichen Flur. “Anstatt dass der Soldat … seinen Computer fünf Meter weit trägt, fahren zwei Personen [aus Subunternehmen von Subunternehmen] insgesamt sechs bis zehn Stunden lang Auto, füllen ungefähr 15 Blatt Papier aus und vergeuden Steuergelder in Höhe von gut 400 Euro.” (S. 42; zitiert nach Graeber, Bullshit-Jobs, Stuttgart: 2018, S. 29f.)
Ein beliebter Mythos sei, dass unsinnige Tätigkeiten vor allem im staatlichen Apparat vorkämen. Privatwirtschaftliche Unternehmen hingegen unterlägen ja dem Konkurrenzdruck und müssten daher effektiv sein. Diese Ansicht übersieht naiverweise die Anreize, die auch im unternehmerischen Feld existieren, einen Verwaltungsapparat unsinnig aufzublähen,12 nicht zuletzt, weil das Unternehmen von Individuen geführt wird, die nicht mit ihm untergehen werden: “Wenn die Firma pleite geht, sind sie sowieso schon längst irgendwo anders CEO.” (S. 43)
Weniger zynisch gesprochen, reicht eigentlich der Verweis darauf, dass diese nutzlosen und sinnlosen Tätigkeiten ja doch in der Regel einen Zweck erfüllen, und dieser ist möglicherweise dadurch gesetzt, dass “die anderen es auch machen” — wenn man mitspielen will, muss man sich den herrschenden Spielregeln beugen.
VII. Regel- und Kontrolldrang
Letztlich sei die “Ursache für den Wildwuchs des administrativen und ökonomischen Sektors bei viel fundamentaleren psychologischen Tendenzen in unserer Gesellschaft zu suchen,” nämlich dem “zwischenmenschlichen Misstrauen und der Unfähigkeit, Unsicherheit und Risiken zu ertragen” (S. 43). Wenn etwas schiefgeht, dann kann dies nicht mehr, wie ich eingangs schon ausführte, als Schicksalsschlag (“höhere Gewalt”) verbucht werden, sondern es muss nach Möglichkeit immer jemand Schuld sein, zur Rechenschaft gezogen und juristisch belangt werden können.
Und das hat natürlich zur Folge, dass sich jede Institution, Firma und auch jede Privatperson ständig dagegen absichern muss, verklagt zu werden; und im Falle, dass man doch verklagt wird, muss sie nachweisen können, dass alles formal richtig gemacht wurde.13 Daher steigt überall, ob es Mediziner oder Lehrer oder Unternehmer sind, der Verwaltungs- und Dokumentationsaufwand:
“Wenn die menschlichen Beziehungen von einem fundamentalen Misstrauen gezeichnet sind, wird das Leben hoffnungslos kompliziert, und eine Gesellschaft verschwendet ihre Energie damit, diverse ‘Sicherheitsmechanismen’ zu erschaffen, die das Misstrauen letztlich nur anfachen und vor allem psychologisch erschöpfend sind.” (S. 44)
Das Vertrauen den Mitmenschen gegenüber hingegen ist psychologisch wie auch wirtschaftlich gesund. Man mag nun einwenden, dass dies nur stimmen kann, solange es — das Vertrauen — auch gerechtfertigt ist, weil man sonst wirtschaftlich zu Grunde gerichtet und psychisch zermürbt wird durch den ständigen Vertrauensmissbrauch. Das stimmt auch. Es gibt die These, dass wirtschaftlich erfolgreiche Länder deshalb erfolgreich sind, weil sich die wirtschaftlichen Akteure gegenseitig vertrauen können (und es auch tun), sodass der Handel florieren kann.
Das allgemeine gesellschaftliche Vertrauen kann man deshalb als eine Ressource betrachten, die gepflegt sein will. Weisheitsvolle Politik würde nichts tun, das dieses Vertrauen unterminiert und im Gegenteil versuchen, es zu stärken. Unsere Politik hat stattdessen versucht, Vertrauen durch Kontrolle zu ersetzen, und so ohne Vertrauen auszukommen. Die Folge ist ein zunehmendes Misstrauen und ein zunehmender Kontrollverlust!
VIII. Beispiele: la dolce vita und Sexverträge
Mir fallen ein paar zufällige Beispiele ein. In einigen Ländern, darunter Italien, wo ich das erlebte, wurde die Pflicht für Kunden eingeführt, eine Quittung vorzeigen zu können, wenn sie ein Restaurant oder Café verlassen — um zeigen zu können, dass ordnungsgemäß abgerechnet wurde. Damit sollte gegen das hohe Maß an “Schwarzmarkt”-artigen Praktiken im Gastronomiegewerbe vorgegangen werden.
Ich glaube nicht, dass diese Strategie aufgeht. Selbst wenn, was ich bereits bezweifle, dadurch die Steuereinnahmen des Staates erhöht werden, so ist nicht klar, welche unbeabsichtigten Konsequenzen diese Maßnahme hat. Mehr Kontrolle führt zu mehr Absicherung, mehr Bürokratie, mehr Müllerzeugung, und weniger Lebenslust und Vertrauen in die Institutionen aufseiten der Kunden. Wenn du überall ständig darauf hingewiesen wirst, dass deine Mitmenschen Betrüger sein könnten, dass man keinem trauen kann, dass alles abgesichert sein muss, dann leidet darunter das dolce vita. Und das ist kein geringer Verlust.
Ein anderes Beispiel ist die Idee, dass man vor dem Geschlechtsverkehr einen Vertrag unterschreiben sollte, um sicherzugehen, dass der Akt im gegenseitigen Einverständnis geschieht, noch mehr aber, um hinterher belegen zu können, dass dem so sei. Diejenigen, die solche Vorschläge machen, wollen ein reales Problem lösen, oder eigentlich sogar mehrere. Sie argumentieren, dass ein solches Vorgehen, sowohl die Frauen davor schützen würde, vergewaltigt zu werden, als auch die Männer davor, unschuldig der Vergewaltigung bezichtigt zu werden.14 Sex ohne Vertrag wäre dann per definitionem eine Vergewaltigung, Sex mit Vertrag grundsätzlich keine. Man hat ja eingewilligt, hier steht es schwarz auf weiß.
Wie absurd diese Vorstellung ist, was ich nicht weiter ausführen, sondern dem Leser zum selber ausmalen überlassen will, zeigt, in welch verzweifelten Sackgassen wir uns kulturell befinden. Interessant aber an dem Beispiel ist die Konsequenz, die dieser Diskurs jetzt schon hat: junge Menschen haben wieder weniger Sex. Das hat diverse Gründe, aber die Angst davor, dabei etwas falsch zu machen und schwerwiegende Konsequenzen tragen zu müssen, scheint einer davon zu sein.
Für Traditionalisten, Konservative und Religiöse ist diese Konsequenz erst einmal begrüßenswert, aber sie lag sicherlich nicht in der Absicht derer, die den Diskurs dominierten. Diese Vertragslösung erinnert strukturell nämlich unheimlich an die früher geltende Vertragslösung: innerhalb der Ehe kann es keine Vergewaltigung geben, außerhalb ist Geschlechtsverkehr sowieso nicht erwünscht und wird, wenn man lange genug in der Zeit zurückgeht, zumindest auf Seiten der Frau, hart bestraft.
IX. Vertrauen ist besser
Der Spruch “Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser” ist als allgemeine Maxime hochgradig problematisch. Vertrauen ist besser, weil effektiver und emotional angenehmer. Kontrolle ist nur da besser, wo Vertrauen bestraft werden würde, und an diesem Punkt hat man sowieso gesellschaftlich betrachtet ganz andere Probleme.
Vertrauen zu seinen Mitmenschen kann man aber wahrscheinlich nur da haben, wo man sie kennt, und Zeit hat, sie kennen zu lernen, und nicht alles zu anonym ist. Wir haben als Menschen ein natürliches Misstrauen dem Fremden gegenüber, und es ist nur natürlich, dass der beste Weg, um Vorurteile einer Sache gegenüber abzubauen, der ist, die Menschen mit dieser Sache zu konfrontieren.
Der eine Aspekt der Vertrauens-Frage ist also: Wie gut funktionieren die zwischenmenschlichen Beziehungen? Die Kehrseite davon ist aber wohl auch die Frage: Welche Anreize schafft die Gesellschaft für das Individuum, ehrlich, oder eben unehrlich zu sein. “Der Ehrliche ist der Dumme”, heißt ein Buch von Ulrich Wickert, das 1995 erschien und 2022 aus Aktualität neu aufgelegt wurde, und den Untertitel trägt: “Über den Verlust der Werte.” Wenn Donald Trump auf die Anschuldigung, er zahle seine Steuern nicht, entwaffnend ehrlich antworten kann: “That makes me smart”, drückt dies vielleicht wirklich in Reinstform den Zeitgeist aus.
Und das Verrückte scheint dabei zu sein, dass es ja wirklich klug im Sinne der phronesis ist, legal weniger Steuern zu bezahlen, indem man juristische Tricks nutzt. Immerhin werden diese Steuern gefühlt ja sowieso nur verschwendet und veruntreut, und für Projekte, die jeder für sinnvoll hält — Bildung, Kultur, Infrastruktur — ist irgendwie immer zu wenig Geld da. Wobei, in der nächsten Wendung, fraglich ist, ob zu wenig Geld wirklich das Problem der Bildung und der Kultur ist, oder nicht doch zu wenig gute Ideen, die auch umgesetzt werden, um endlich mal das 19. Jahrhundert zu verlassen.
X. Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf
Wie dem auch sei — und es sei noch einmal betont, dass wir hier hochkomplexe Fragen behandeln, von denen wir gar nicht wissen können, sondern höchstens erahnen, wie korrekte Antworten auch nur aussehen könnten, darum liegt die Hauptaufgabe darin, zumindest ein paar vermutlich falsche Antworten auszusortieren — wir müssen doch zumindest ganz kurz und oberflächlich zur zweiten Frage zurückkehren, die wir eingangs gestellt hatten: warum wir kulturell eher passiv als aktiv sind.
Ich vermute, dass auch dies ganz stark mit den schwachen sozialen Beziehungen und dem Mangel an klarer Rolle zu tun hat. Dies ist nur eine mögliche Perspektive, eine andere beliebte ist natürlich, dass der heutige Mensch zum Konsumenten erzogen wird. So oder so muss sich die kulturelle Aktivität intrinsisch sinnvoll anfühlen, um vollzogen zu werden, denn sie kostet ja Energie, die man aufbringen muss. Passivität, vor dem Bildschirm sitzen bleiben, auf 9gag oder X oder Insta immer weiter swipen, muss sich nicht sinnvoll anfühlen — tut es ja auch nicht —, damit man es trotzdem macht.
Das sinnerfüllte Leben ist leicht, auch dann, wenn es schwer ist. Das sinnlose Leben ist schwer, auch wenn es leicht ist. So als Kurzformel.
“Es ist umsonst, dass ihr früh aufsteht / und euch spät erst niedersetzt, um das Brot der Mühsal zu essen; / denn der Herr gibt es den Seinen im Schlaf.” (Psalm 127:2)
Auf diesem Befund hackt Byung-Chul Han über diverse Veröffentlichungen hinweg herum, bspw. Infokratie: Digitalisierung und die Krise der Demokratie, sowie Undinge: Umbrüche in der Lebenswelt. Aus letzterem der Satz: “Die digitale Ordnung entdinglicht die Welt, indem sie sie informatisiert.” Und so werden die Dinge, aus denen die Welt bisher bestand, zu Undingen…
In Gegenden, die aufgrund der klimatischen und geographischen Bedingungen weniger lebensfeindlich waren, wurde auch weniger gearbeitet. Wenn man sich nicht von den Unbilden des Wetters schützen muss, weil es keine gibt, und wenn das Essen auf den Bäumen wächst, dann lebt man im Paradies und muss nicht arbeiten.
Aus einer gewissen Perspektive waren das die wichtigsten Menschen: diejenigen, die den Laden am Laufen hielten. Aus einer anderen Perspektive waren sie Parasiten, die andere für sich arbeiten ließen. Beide Perspektiven haben ihre jeweilige Berechtigung.
Geld erfüllt sicherlich auch andere Funktionen, aber um überhaupt etwas sagen zu können, muss man Vereinfachungen vornehmen — und wenn man alles, was man schreibt, absichern wollen würde, hätte ein Text mehr Fußnoten als Sätze. Und dies wäre auch eine Form von Kontrollwahn. Man kann Verständnis nicht erzwingen. Man kann nur von Menschen verstanden werden, die einen auch verstehen wollen und einem daher entgegenkommen.
Stichwort: 4-Tage-Woche.
Auch dies ist wieder nur eine mögliche (ökologische) Perspektive. Städte sind auch Zentren der Innovation und der Kultur; und Horte der Unmoral und Sünde; und Zufluchtsorte in schlechten Zeiten (Stadtluft macht(e) frei); und und und…
Mittlerweile und schon seit langem kommt das Wasser natürlich auch bei der Landbevölkerung aus der Leitung und auch sie kaufen ihr Essen im Supermarkt, z.B. in der nahegelegenen Stadt.
Daher der Spruch: Never touch a running system! James C. Scott beschreibt solche Phänomene in Seeing like a State. Ein schönes Beispiel bietet die Artikelreihe “The Uruk Machine” von Lou Keep, der auf Scott Bezug nehmend den Konflikt zwischen der Sicht des rationalen Staates auf die Dinge (“episteme”) und der Sicht der Bevölkerung in ihrer traditionellen Verwurzelung in Ritualen und Mythen (“metis”) illustriert. Seine Ein-Satz-Zusammenfassung von Seeing like a State lautet: “The effects of technocracy on a polity are almost always negative.” Sein Beispiel ist ein altes Viertel mit engen Gassen, in das der Staat planerisch eingreift, damit bei Unfällen Krankenwagen besser überall hin kommen können — und die “unintended consequences”. Wichtig dabei ist, dass der Protest der Bevölkerung (oder Teile der Bevölkerung) aus der episteme-Sicht irrational wirkt, man könnte sagen, weil sie nicht die gleiche Sprache sprechen, oder nicht die gleiche Weltsicht ansetzen. (Dies hat natürlich eine Parallele zum berechtigten Teil der Kritik der Corona-Maßnahmen.) Dieses Thema wäre eigentlich einen eigenen Artikel wert — Had we but world enough, and time…
Letzteres ist das Kernanliegen von Illichs Buch Die Nemesis der Medizin. Illich schrieb es in den 1970er Jahren. Man ist fast überrascht, dass diese heute aktuellen Probleme auch schon damals gesehen werden konnten und auch gesehen wurden. Wichtig scheint mir noch einmal zu betonen, dass diese Sichtweise nicht von absichtlicher Boshaftigkeit ausgeht, sondern von wohlgemeinten Intentionen, die aufgrund eines Mangels an Weisheit zu schlechten Ergebnissen führt. Und natürlich könnte man auch hier jedem einzelnen Punkt von Illichs Auflistung viel mehr Aufmerksamkeit und einen eigenen Artikel widmen…
Was ich persönlich sehr schade finde, weil ich glaube, dass Desmets Buch im Tiefgang sehr davon profitiert hätte. Aber natürlich kann kein Autor alles alleine leisten. Und so bleibt noch Arbeit für Menschen wie mich übrig, die Zusammenhänge zu knüpfen.
Da die Zahlen von Graeber stammen, ist anzunehmen, dass sich diese Zahlen auf die USA beziehen. In Deutschland und generell Europa wird es aber wohl ähnlich sein, weil die gesellschaftlichen Strukturen hinreichend ähnlich sind.
Anekdotisch kann darauf verwiesen werden, dass Elon Musk nach der Twitter-Übernahme 80% des Personals entlassen haben soll, ohne dass die Funktionalität davon beeinträchtigt worden sei; kein Einzelfall, wie man hört…
Dies führt dann auch dazu, dass riskante Unterfangen einfach unterlassen werden: Riskante Behandlungen, riskante Berichterstattung, riskante Meinungsäußerung — alles viel zu gefährlich.
Theoretisch gilt das natürlich auch anders herum. Quantitativ sind diese Fälle aber zu vernachlässigen.