Mehr als ein Gefühl: Liebe als Weg zum Höchsten
Eine Nachzeichnung von Platons Symposion: Eros als Gott, als Daimon und als Weg.
Die nächste Blog-Challenge von
zum Thema Liebe.Man muss ja nicht zu allem seinen Senf geben, denke ich. Dann höre ich “zufällig” bei James Orr, dass Platon im Symposion Sokrates über die Liebe sprechen lässt. Und ich wollte schon immer mal Platon lesen. Also lese ich Platon. Das Gastmahl, oder: Über die Liebe; zur Ethik.1
Mir scheint dies auch daher passend, als hier ja eine gewisse Parallele liegt: So wie Eryximachos im Symposion lädt Margot uns ein, eine Lobrede auf die Liebe zu halten. :)
Prolog: Getriggert
Das Wort Liebe triggert mich. Natürlich liebe ich meine Frau, meine Kinder und meine Freunde. Zudem glaube ich, dass Liebe und Freiheit die Ziele unserer kosmologischen Entwicklung sind. Aber das Wort ist so abgenutzt und ausgelutscht wie sonst vielleicht nur das Wort “Gott”.2
Zudem ist es zu undifferenziert. Die alten Griechen hatten drei Wörter: philia, eros und agape. Aber selbst die sind, wie mir scheint, “inzwischen in Schulen gegangen, in denen das Glaubenkönnen abgeschafft worden ist”, wie Martin Walser in Mein Jenseits schreibt.3
Reden wir also nicht über agape, die göttliche Liebe, oder philia, die freundschaftliche, sondern ruhig einmal nur über eros, um den es praktischerweise auch im Symposion geht.4
Aus dritter Hand ereilt uns das Denken über die Liebe
Die Struktur dieses Dialogs ist verschlungen. Und zwar erzählt Apollodoros, ein enger Schüler des Sokrates, seinen Freunden von diesem Gastmahl bei Agathon, bei dem Sokrates anwesend gewesen und es um “Liebesreden” gegangen sei. Apollodoros war aber zum Zeitpunkt dieses Ereignisses selbst noch ein Kind und hat sein Wissen darüber von einem der Anwesenden, Aristodemos. Er habe hernach wohl auch den Sokrates dazu befragt und dieser “hat es mir geradeso bestätigt, wie jener es erzählte.”
Nach Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart, haben wir es bei den Platonischen Dialogen um die Figur des Sokrates mit Zeugnissen aus der Zeit des erwachenden mentalen Bewusstseins zu tun, also der Bewusstseinsstruktur des perspektivischen, abstrakten Denkens, mit der wir uns auch heute noch herumschlagen, obwohl sie seit Beginn der Neuzeit in ihre “defiziente” Phase gekommen sei, den Hyperrationalismus.
Bei den alten Griechen können wir uns insofern, wenn Gebser Recht hat, was ich glaube, daran erinnern, anamnesis, welchen fruchtbaren Nutzen dieses mentale Bewusstsein eigentlich für uns Menschen bereithielt, und daraus schließen, was wir in den letzten Jahrhunderten verloren haben, ohne uns daran zu bereichern, was als kommende Möglichkeit für uns bereitläge, was Gebser das aperspektivische Bewusstsein nennt und Rudolf Steiner die Bewusstseinsseele (nach der Verstandesseele).
Zugleich finden wir bei Platon noch wunderbare Spuren des mythischen Denkens, das in Bildern spricht, im Symposion vor allem das Bild vom Menschen als Halbwesen, das auf der Suche nach seiner zweiten Hälfte durchs Leben irrt, ein Bild, das noch 2500 Jahre später Samuel Beckett in The Lost Ones beackert, freilich ohne noch auf Regen zu hoffen.
Die Schilderung des Gastmahls lässt sich also dem Hörensagen zuordnen, aus dritter Hand sozusagen: Platon legt sie Apollodoros in den Mund, dieser aber hat sie nur von einem Dritten, und dieser war immerhin Zeuge, allerdings auch Beteiligter und als solcher — würden wir heute sagen — nicht unempfänglich für Verzerrungen.5 Dies noch übersteigernd legt schließlich Sokrates seinen eigenen Beitrag zum Thema Liebe der Seherin Diotima in den Mund, die er in jungen Jahren befragt habe und deren Antwort er, als Unwissender, lediglich wiedergebe.
Palaver statt Besäufnis
Zu diesen Liebesreden sei es wie folgt gekommen: Man habe sich zum Trinkgelage bei Agathon getroffen, der seinen Sieg bei einem dramatischen Wettbewerb am Vortag feierte. Man sei aber übereingekommen, da man gestern schon so viel getrunken habe, dass einem heute nicht danach sei. Man wolle also nur mäßig trinken, auch die Flötenspielerin wegschicken und sich stattdessen im Reden über ein gemeinsames Thema erfreuen.
Der anwesende Arzt Eryximachos, der sich bereits die Anmerkung gestattet hatte, der Rausch schade dem Menschen ohnedies, schlägt nun in Anlehnung an eine Beobachtung des Phaidros, dass es keine Lobreden auf den Eros gebe, vor, eben solche Lobreden zu wagen:
“teils auch dünkt mich, dass es gegenwärtig uns, die wir hier zugegen sind, gar wohl gezieme, diesen Gott zu verherrlichen.” (177c)
Ein großer Gott — oder zwei?
Sokrates, mit Autorität für alle sprechend, stimmt dem Vorschlag zu und bestimmt Phaidros als ersten Redner. Dieser beginnt damit, dass Eros “ein großer Gott” sei und, nach Hesiod, “zu den ältesten” gehöre. Auch mache er die Menschen tugendhaft, denn vor seinem Liebhaber oder Geliebten schäme man sich, nicht gut dazustehen, also versuche man sein Bestes, weshalb eine Armee besonders schlagkräftig sein möge, wenn sie aus Liebespaaren bestünde.
Aus Phaidros’ Rede werden bereits zwei Aspekte des Eros ersichtlich, die uns heutzutage seltsam anmuten. Und zwar scheint Liebe vor allem eine Sache zwischen Männern zu sein.6 Zweitens auch eine asymmetrische Beziehung: Es gibt den “Liebhaber” und den “Liebling”, wobei letzterer typischerweise jünger und schöner sei.7
Auf Phaidros’ Rede bauen nun die nächsten Redner auf, man müsse aber zwischen einem himmlischen und einem irdischen Eros unterscheiden, und nur Ersterer sei gut, insofern nur er sich nach Tugend und Weisheit richte. Und man fände das Wirken dieser zwei Formen des Eros in der ganzen Natur, bis hin zur “Anordnung der Jahreszeiten und der Witterung” (188a):8
“Wenn aber der frevelhafte Eros die Oberhand gewinnt in den abwechselnden Zeiten des Jahres, so verdirbt und beschädigt er das meiste. Die Seuchen nämlich pflegen aus dergleichen zu entstehen und vielerlei andere Krankheiten unter den Tieren und den Gewächsen. Denn auch Reif und Hagel und Mehltau entstehen aus Unmäßigkeit und Unordnung der Liebesregungen dieser Art, deren Erkenntnis im Lauf der Gestirne und im Wechsel der Jahreszeiten die Sternkunde heißt.” (188a-b)
Alles ist Liebe
Wir erkennen hier ganz deutlich den Hang zur Abstraktion, den Gebser mit dem perspektivischen Denken verbindet. Aus einer Angelegenheit zwischen Menschen wird ein duales Wirkprinzip, das im ganzen Kosmos wirkt und uns an die chinesische Unterscheidung von Yin und Yang erinnern mag, wie sie zusammen das Tao erzeugen.
Es wohnt aber vielleicht dem Begriff der Liebe inne, eine Wirkmacht zu entfalten, dass sie zum Prinzip der ganzen Welt erklärt werden kann, wie dies auch in bestimmten Formen des Christentums geschieht, oder in der Philosophie beispielsweise bei Charles Sanders Peirce in seinem Agapismus.
Und auch Sokrates gesteht schon zu Beginn des Gastmahls, “nichts als Liebessachen zu verstehen” (177d) — und wenn dies der laut Orakelspruch weiseste aller Menschen sagt, dann ist es für einen Menschen vielleicht auch vollkommen überflüssig, etwas anderes als Liebessachen zu verstehen, nur dass eben alles eine Liebessache sein kann und bei letzter Betrachtung auch ist.9
Wie wenig mit dieser nüchternen Feststellung aber für die Welt und den Menschen erreicht ist, das zeigt vielleicht am besten die Schwäche des perspektivischen Bewusstseins, zu dem, wie ich meine, ganz wesentlich die akrasia, die Willensschwäche, gehört, also dass man das als richtig Erkannte nicht automatisch auch lebt.10
Vom Logos zum Mythos
Der vierte Redner, Aristophanes, wendet die Richtung des Dialogs wieder hin zum Mythischen. Und zwar erläutert er, wie es dazu komme, dass Menschen sich nach einem anderen Menschen sehnten. Wir erwähnten dieses Bild eingangs bereits, dass der Mensch ein Halbwesen sei. Ursprünglich sei er kugelförmig, zweigesichtig und achtgliedrig gewesen, und zwar entweder nur männlich oder nur weiblich oder hermaphroditisch:
“Diese drei Geschlechter gab es aber deshalb, weil das männliche ursprünglich der Sonne Ausgeburt war und das weibliche der Erde, das an beidem teilhabende aber des Mondes, der ja auch selbst an beiden teilhat.” (190b)
Dies ist eine ganz gängige mythische Betrachtung. Die Sonne, in fast allen Sprachen außer dem Deutschen maskulin, und die typischerweise feminine Gaia und dazwischen der meistens ebenfalls feminine Mond, der ja fest ist wie die Erde — und der modernen Astrophysik zufolge wohl auch tatsächlich von der Erde stammt —, sein Licht aber von der Sonne, es widerspiegelnd, erhält.
Diese Menschen hätten nun “sich einen Zugang zum Himmel bahnen” wollen (190c).11 Und darum habe Zeus, um sie nicht gänzlich vernichten oder verbannen und damit die “Ehrenbezeugungen und die Opfer der Menschen” missen zu müssen, sie halbiert, mit der Drohung, sie noch ein zweites Mal zu halbieren, wenn sie jetzt noch immer nicht gehorchen wollten.
“Nachdem nun die Gestalt entzweigeschnitten war, sehnte sich jedes nach seiner andern Hälfte, und so kamen sie zusammen, umfassten sich mit den Armen und schlangen sich ineinander, und über dem Begehren, zusammenzuwachsen, starben sie aus Hunger und sonstiger Fahrlässigkeit, weil sie nichts getrennt voneinander tun wollten.” (191a-b)
Nun gab Zeus den Menschen die geschlechtliche Liebe, damit sie auch wieder voneinander ablassen könnten und damit der Mann in der Frau erzeugen könne, die Männer untereinander aber “doch eine Befriedigung hätten durch ihr Zusammensein und erquickt sich zu ihren Geschäften wenden” könnten. (191c)12
“Von so langem her also ist die Liebe zueinander den Menschen angeboren, um die ursprüngliche Natur wieder herzustellen, und versucht, aus zweien eins zu machen und die menschliche Natur zu heilen.” (191d)
Warum manche Männer Frauen lieben
Aus dieser Ausgangskonstellation ergibt sich Aristophanes zufolge nun, dass manche Menschen nach denen des gleichen Geschlechts strebten, andere nach dem des anderen, wobei die wahren Männer nach anderen Männern strebten, die wahren Frauen nach anderen Frauen und die — nach heutigem Vokabular — Heterosexuellen die sind, “was damals Mannweib hieß” — und “die meisten Ehebrecher kommen aus diesem Geschlecht”. (191d-e)
Das wahre Ziel aber des Menschen sei es, seine ursprüngliche Hälfte wiederzufinden. Hier zeigt sich die typische mythologische Unlogik, die der rational Mensch als ganz schmerzhaft empfindet, denn offensichtlich sind die heutigen (und auch damaligen) Menschen schon nicht mehr die ursprünglich Auseinandergeschnittenen, sondern deren Nachkommen, und haben also streng genommen keine ursprüngliche Hälfte, die sie finden könnten. (Weshalb sie bei Beckett folgerichtig auch niemals eine finden.) Das Mythologem muss aber einer solch kleinkarierten Logik nicht folgen, denn sie setzt ein lineares Zeitverständnis voraus und auch eine Kausalität, die ganz unmythologisch ist.
Dieses wahre Ziel sei es aber, zu dem Eros uns hinführen wolle, und dem sollten wir folgen, “Männer und Frauen” (immerhin), “dass so unser Geschlecht glückselig würde, wenn es uns in der Liebe gelänge und jeder seinen eigentümlichen Liebling gewönne, um so zur ursprünglichen Natur zurückzukehren.” (193c)
Nun wird doch endlich der Gott gelobt
Agathon nun, der Gastgeber, bei dem Sokrates liegt, bemerkt, dass die Vorredner immer nur “die Menschen seligzupreisen” schienen, “um das Gute, dessen Urheber ihnen” Eros sei, nicht aber “den Gott zu loben”, was doch eigentlich ihre Aufgabe gewesen. (194e) Dies sei nun nachzuholen.
Eros sei der “glückseligste” der Götter, “weil der schönste und beste”. Er sei auch — pace Phaidros — der “jüngste”, “indem er fliehend dem Alter entkommt”.13 Zudem sei er tugendhaft. Denn da er “weder beleidigt noch beleidigt wird”, sei er gerecht. Zudem herrsche Eros über die Lüste und Begierden, müsse also “vorzüglich besonnen sein.” Auch tapfer, denn er habe den Ares und nicht anders herum. Zuletzt auch weise, weil er seine Mündel zur Kunstfertigkeit bringe, selbst die anderen Götter, denn Weisheit sei eigentlich die “Liebe zum Schönen” und diese sei ja eine Gabe des Eros.
Eros ist weder gut noch schön …
Nun spricht Sokrates und wir dürfen erwarten, dass er nicht nur alles Vorhergehende übertreffen, sondern es auch gewissermaßen als Narrheit dastehen lassen wird, denn das ist ja seine Art, allen nachzuweisen, dass er zwar nichts wisse, sie aber erst recht nicht.
Er habe, so Sokrates, naiverweise gedacht, wenn man jemanden lobe, dann solle man ihn wahrhaftig loben, was man sage, solle also mithin zutreffen. Nun könne man den Eros natürlich schön und gut, sogar den Schönsten und Besten nennen, aber damit tue man der Wahrhaftigkeit Gewalt an.
Denn gerade daran, dass Eros nach dem Schönen und Guten strebe, zeige sich doch, dass er es nicht bereits besitzen könne. Das Streben nach etwas zeige den Mangel an, so wie auch die Philosophen nach Weisheit streben, weil sie sie eben noch nicht haben.
… und auch kein Gott
Die Seherin Diotima habe es ihm, Sokrates, wie folgt auseinandergesetzt:14 Eros sei weder schön noch hässlich (eine falsche Dichotomie!), weder gut noch schlecht, sondern vielmehr das Vermittelnde, das einen vom einen ins andere führen mag. Daraus gehe hervor, dass Eros auch kein Gott sein könne, erst recht kein Mensch, sondern ein Mittler, ein Daimon:
“Denn Gott verkehrt nicht mit Menschen; sondern aller Umgang und Gespräch der Götter mit den Menschen geschieht durch dieses [das Vermittelnde], sowohl im Wachen als im Schlaf. Wer sich nun hierauf versteht, der ist ein dämonischer Mann, wer aber nur auf andere Dinge oder irgend auf Künste und Handarbeiten, der ist ein gemeiner. Solcher Dämonen oder Geister gibt es viele und von vielerlei Art, einer aber von ihnen ist auch Eros.” (203a)
Wir können daraus ersehen, dass bei den alten Griechen das Wort Daimon eher den (christlichen) Engeln entspricht als den Dämonen15 und dieser Bedeutungswandel (im Mittelalter?) damit zu tun haben könnte, dass in alten Zeiten Wörter oft eine Sache und ihr Gegenstück bezeichneten (Gebser spricht von Urwörtern).16 Und in bildlichen Darstellungen wird Amor dann ja auch als Engelchen mit Pfeil und Bogen dargestellt.
Die Liebe als Kind der Armut mit dem Ausweg
Eros sei, mythologisch sprechend, das Kind des Poros (Ausweg) mit der Penia (Armut), zum Geburtsfest der Aphrodite gezeugt, darum sei er ihr Begleiter, nach dem Schönen strebend, selbst aber arm wie seine Mutter, nach seinem Vater aber “tapfer, keck und rüstig, ein gewaltiger Jäger, allezeit irgendwelche Ränke schmiedend, nach Einsicht strebend, sinnreich, sein ganzes Leben lang philosophierend, ein arger Zauberer, Giftmischer und Sophist” (203d) —
“Daher, meine ich, erschien dir Eros so wunderschön. Denn das Liebenswerte ist auch in der Tat das Schöne, Zarte, Vollendete, selig zu Preisende. Das Liebende aber hat ein anderes Wesen, so wie ich es beschrieben habe.” (204c)
Das Liebende, Eros, sei nämlich das “Verlangen, das Gute immer zu haben” — “Denn durch den Besitz des Guten … sind die Glückseligen glückselig.”
Wir sehen hier erneut den Hang, vom bildlichen Mythos überzugehen zu Abstraktionen, denn schon geht es nicht mehr um die geschlechtliche Liebe im engeren Sinne, sondern Eros wird eine alles durchdringende Kraft.
Dies wird von Diotima auch prompt thematisiert. Eigentlich seien alle Menschen demnach Liebende, aber “wir nehmen nur eine gewisse Art der Liebe heraus, die wir mit dem Namen des ganzen belegen und Liebe nennen, für die anderen brauchen wir andere Namen.” (205b)
Eros als Streben nach Fortpflanzung (physisch)
Was hat es nun aber mit der Liebe im engeren Sinne auf sich? Auch diese Frage beantwortet Diotima gerne:
“Alle Menschen nämlich, o Sokrates, sprach sie, sind fruchtbar, sowohl dem Leibe als der Seele nach, und wenn sie zu einem gewissen Alter gelangt sind, so strebt unsere Natur zu erzeugen. Erzeugen aber kann sie in dem Hässlichen nicht, sondern nur in dem Schönen. Des Mannes und Weibes Gemeinschaft nämlich ist Erzeugung. Es ist aber dies eine göttliche Sache und in dem sterblichen Lebenden etwas Unsterbliches, die Empfängnis und die Erzeugung.” (206c)
Hier unterscheidet Diotima im ersten Satz zwei Fruchtbarkeiten des Menschen, körperliche und seelische. Im Weiteren spricht sie zunächst nun aber über erstere. Erzeugung, nicht Schönheit, sei das Erstrebte der Liebe, allerdings “Erzeugung und Ausgeburt im Schönen” — denn die Erzeugung enthalte dem Sterblichen etwas Unsterbliches und nach diesem müsse der Mensch streben, da er das Gute nicht nur jetzt, sondern “immer zu haben” will. “Notwendig also geht nach dieser Rede die Liebe auch auf die Unsterblichkeit.”17
Eros als Streben nach Ruhm (seelisch)
Nebst der Fortpflanzung könne man ja auch sehen, wie sehr der Mensch nach Ehre strebe, um “berühmt zu werden und einen unsterblichen Namen auf ewige Zeiten sich zu erwerben.” (208c) — Das Aufopfern der Helden für andere, das Bestehen größter Gefahren, ja Vieles, was gerade die Guten so treiben, geschehe “nur für die Unsterblichkeit der Tugend und für einen solchen herrlichen Nachruhm, glaube ich, tun alle alles, und zwar je besser sie sind, desto mehr, denn sie lieben das Unsterbliche.”
Und dies unterscheide, nebenbei bemerkt, sozusagen den Pöbel der Heterosexuellen, die nach Unsterblichkeit in der Fortpflanzung strebten, von der homosexuellen Aristokratie,18 die sich den Künsten und der Staatsführung widmeten, mithin den Tugenden der Besonnenheit (sophrosyne) und Gerechtigkeit (dikaiosyne), der Tapferkeit (andreia) und natürlich der Weisheit (eigentlich sophia, soweit ich sehen kann hier aber die Übersetzung von phronesis, Klugheit).
Eros als Streben nach dem Schönen selbst (geistig)
Zuletzt lasse sich aber auch das “höchste und heiligste” Geheimnis der Liebe lüften, obschon nicht klar sei, ob er, Sokrates, dieses auch verstehen könne. Dem wahrhaft Weisen nämlich offenbare sich der Gedanke, wenn er nach dem Schönen strebt, dass dieses nicht bei einem allein zu finden sei und auch nicht am Körper, sondern an der Seele. (Bedenken wir, dass Sokrates äußerlich betrachtet eher hässlich gewesen sein soll und ihm dennoch viele schöne und junge Männer laut dem Symposion an die Wäsche wollten).
Hier widme sich der Aspirant den schönen “Bestrebungen” und “Sitten”, reife dann aber zu den “Erkenntnissen” heran, sodass er:
“auf die hohe See des Schönen sich begebend und dort umschauend viel schöne und herrliche Reden und Gedanken erzeuge in ungemessenem Streben nach Weisheit, bis er, hierdurch gestärkt und vervollkommnet, eine einzige solche Erkenntnis erblicke, welche auf ein Schönes folgender Art geht.” — nämlich “das Schöne selbst” (210d, 211d)
Und dieses Schöne selbst, die Idee des Schönen, ist wohl auch das Wahre selbst (und ergänzen könnten wir: das Gute selbst, wie wir es schon einmal thematisiert haben).
Dies habe er, Sokrates, ihr geglaubt, wolle es auch anderen glaubhaft machen, und der beste Helfer auf dem Weg zu diesem wahrhaft Erstrebenswerten sei Eros, der Daimon, der den Menschen zum Höchsten führen will und dessen irdischstes Wirken auf die geschlechtliche Vereinigung gehe, dessen höchstes Wirken auf die Vereinigung mit dem Höchsten.
“Darum auch, behaupte ich, sollte jedermann den Eros ehren, und ehre ich auch selbst alles, was zur Liebe gehört, und übe mich darin ganz vorzüglich und ermuntere auch andere dazu, und preise jetzt und immer die Macht und Tapferkeit des Eros, so sehr ich nur vermag.” (212b)
Epilog: Die Tugend des Sokrates
Soweit die ersten drei Viertel des Symposion. Im letzten Viertel wird statt einer weiteren Lobrede auf den Eros eine solche auf den Sokrates gehalten, wodurch wohl bekräftigt werden soll, dass dieser wahrhaft weiß, wovon er redet. Und in einem kurzen Epilog wird das Ende des Gastmahls vermerkt, dass nämlich “eine große Menge Herumziehender” “eingedrungen” und man “genötigt” worden sei, “gewaltig viel Wein zu trinken.”
Er, Aristodemos, sei eingeschlafen und als er wieder erwachte, sei Sokrates noch immer trinkend mit Agathon und Aristophanes ins Gespräch vertieft gewesen, darin Sokrates sie nötigen wollte zuzugeben, dass es sich “für einen und denselben” gehöre, “Komödien und Tragödien dichten zu können” — sie seien aber nicht “recht gefolgt”, sondern eingeschlafen.
“Sokrates nun, nachdem er diese in den Schlaf gebracht, wäre aufgestanden und weggegangen und er, wie gewöhnlich, ihm gefolgt. So sei er ins Lykeion gegangen und habe sich nach dem Bade wie sonst den ganzen Tag dort aufgehalten und erst abends nach Hause zur Ruhe begeben.” (223d)
Letzte Gedanken
In der Forschung gibt es wohl Uneinigkeit darüber, welche Sichtweisen Platon warum dargestellt hat und ob die Sichtweise Sokrates’ als “die Richtige” anzusehen sei, die auch Platon selbst vertrat, oder nicht.19
Ich denke, dass damit Platon unrecht getan wird. Platon war wohl klug genug zu wissen, dass es keine “richtige Perspektive” geben kann im perspektivischen Denken, und dass es darum wichtig ist, verschiedene Perspektiven darzustellen auf eine Sache, die alle eine Berechtigung und insofern eine gewisse Richtigkeit haben, dass die Wahrheit aber etwas ist, das uns Menschen gewissermaßen immer entfleucht und nach dem wir dennoch — wie Eros — unablässig streben.
(Und mir scheint, dass wir nun doch auch über philia und agape gesprochen haben. Kannmannixmachen.)
Ich danke insofern ausdrücklich und mit vollem Herzen für diese Gelegenheit, nun doch einmal gründlich einen platonischen Dialog zu lesen.
Das griechische Wort Symposion heißt Gastmahl, daraus die lateinisierte Form Symposium bezeichnet heute die weniger spaßige wissenschaftliche Konferenz zwecks Ideenaustausch.
Ich drücke damit ein durchaus postmodernes Gefühl aus und schließe mich ihm an, dass man im 21. Jahrhundert ein Stück weit das Gefühl hat, zu spät gekommen zu sein, um die Wörter noch einfach so benutzen zu können. Ein Autor, den ich vergessen habe, das Buch hieß aber Lost in the Fun House oder so ähnlich, drückt dies stilistisch gelungen, wie ich finde, dadurch aus, dass er seinen Protagonisten sagen lässt (ich zitiere aus dem Gedächtnis):
“‘“‘“‘“‘“‘“Love.’”’”’”’”’”’
Anders als die Postmodernen glaube ich aber, dass wir die Begriffe mit neuem Leben füllen können. Dies liegt aber als Menschheitsaufgabe sozusagen erst noch vor uns.
Lasst mich trotzdem drei Liebeslieder empfehlen: Götz Widmanns “Die zwei Trauben”, Bodo Wartkes “Claudia” und der Lovesong mit umgekehrtem Vorzeichen “Straße” von Rio Reiser.
Nicht verkneifen kann ich mir aber doch die Beobachtung, von der ich nicht weiß, ob sie stimmt (aber ich vermute es), dass eros einen überfällt wie ein Räuber, philia hingegen ist eine Entscheidung und agape Gnade. Das, woran wir bewusst arbeiten können im zwischenmenschlichen Miteinander, ist die philia und darum halte ich Freundschaft (in diesem Sinne, demnach Freundschaft auch elementarer Bestandteil einer gelingenden Liebesbeziehung ist) für ein sehr wichtiges, zukunftsgerichtetes Thema, auf das ich immer wieder gerne zurückkommen werde.
Obwohl Aristodemos im Dialog keine Rede hält und auch sonst nicht weiter erwähnt wird. Er ist auch nicht direkt eingeladen, sondern wird von Sokrates mitgebracht. Sokrates, der sich selbst nicht bezeugt, bringt also seinen eigenen Zeugen mit. Apollodoros gibt zu bedenken: “an alles aber, was jeder von ihnen geredet, erinnerte sich schon Aristodemos nicht mehr genau, noch auch ich an alles, was er mir sagte.” (178a)
Allerdings nicht ausschließlich. So sagt Phaidros: “füreinander sterben mögen Liebende allein, und nicht Männer nur, sondern sogar Frauen.” (179b)
So bemerkt Phaidros, es sei unsinnig zu glauben, dass Achilles der Liebhaber des Patrokolos gewesen sei, denn ersterer sei jünger und schöner gewesen, also wohl der Liebling des Patroklos. Und es sei den Göttern wichtiger, dass der Liebling dem Liebhaber anhänge, als anders herum. Insofern sei die Reaktion des Achilles auf Patroklos Tod besonders nobel.
Wir denken dabei an eine Art Mentoren-Beziehung, bei der ein Älterer einen Jüngeren in alle Künste, einschließlich der Liebe, einführt. Heutzutage wären die asymmetrischen Liebesbeziehungen vor allem im Bereich bestimmter Fetische zu finden, weil die eigentlich natürliche Asymmetrie zwischen Mann und Frau nicht als solche angesehen und erkannt wird, weil die Idee unterschiedlicher Rollen von der richtigen Idee der Gleichberechtigung überlagert wird, und von der schädlichen Idee der Gleichförmigkeit aller Menschen in Anlehnung an maschinelle Produktion und Massenware.
Wir können hier sehen, dass im Gastmahl eros nicht im Kontrast zu philia oder agape gebraucht wird, sondern zusehends allumfassend.
Mit dieser Aussage stelle ich mich in die eben aufgeführte Traditionen einer Art Agapismus und lasse sie neben meiner eingangs geäußerten Aussage stehen, dass das Wort “Liebe” aber eine gewisse Kraftlosigkeit ausstrahlt. Die Überwindung dieses Zwiespalts scheint mir eine, vielleicht die Aufgabe unserer Kultur zu sein.
Wobei diese Behauptung Aristoteles folgt. Platon war anscheinend der Meinung, dass es keine akrasia in diesem Sinne geben könne. Wenn die Erkenntnis nicht zur richtigen Handlung führe, dann sei es eben keine wirkliche Erkenntnis.
Dieser Mythos hat eine gewisse Parallele im alttestamentlichen Turmbau zu Babel. Dort verwirrt JHWH die Sprache der Menschen, dass sie sich nicht mehr verstehen, um ihre Bestrebungen zu unterbinden.
An dieser Stelle wie auch im Folgenden werden die Frauen vergessen oder absichtlich weggelassen, obwohl sie vorher miterwähnt sind. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die alten Griechen die Frauen nicht sonderlich wichtig nahmen: “zur Ehe aber und Kinderzeugung haben sie [die wahren Männer] von Natur keine Lust, sondern nur durch das Gesetz werden sie dazu genötigt, ihnen selbst wäre es genug, untereinander zu leben, unverehelicht.” (192b)
Wieder begegnet uns die besagte zeitliche Unlogik, die nur aus verengter Sicht eine Unlogik ist. Demnach könnte Eros zugleich der chronologisch älteste Gott sein, zugleich aber der jüngste, da er — anders als die anderen? — nicht altere. Diesen Ausweg wählt Agathon allerdings nicht, sondern vermutet, dass der bei Hesiod erwähnte Eros in Wirklichkeit die Notwendigkeit, Ananke, sei.
Es ist von Kommentatoren beachtet, aber zumeist für unerklärlich befunden worden, dass Sokrates seine Weisheit über die Liebe einer Frau verdanken soll — Diotima ist Thomas Szlezák zufolge tatsächlich auch die einzige Frau, die in allen Dialogen Platons zu Wort kommt (Platon: Meisterdenker der Antike). Diese Tatsache hat gelegentlich zur Meinung geführt, Sokrates stelle tatsächlich nicht seine Sicht, erst recht nicht die Platons vor, sondern lediglich eine weitere Irrmeinung, und der Verweis auf Diotima sei der Hinweis für die Eingeweihten, dass dem so sei … Wobei nicht immer klar ist, wo dies die eigene Misogynie des Interpreten ausdrückt und wo es lediglich die bei Platon (und Sokrates) vermutete ist.
Denn sie treten als Mittler (Boten) zwischen Gott und den Menschen auf und sind tendenziell eher gut als böse. Siehe auch den Wikipedia-Artikel zu “Daimon”. Zudem können je nach Quelle Dämonen ja auch als gefallene Engel angesehen werden. Etymologisch soll das Wort daimon allerdings vom Verb daio - “teilen, zerschneiden, abschneiden” kommen (und der daimon ursprünglich den abgeschiedenen Geist eines Verstorbenen bezeichnet haben).
Mein Lieblingsbeispiel ist pharmakon, das Heilmittel oder auch Gift bedeuten kann. Gebser erwähnt das Lateinische “altus”, das “hoch” oder “tief” bedeutet, und “sacer”, das “heilig” oder “verflucht” heißt. “Solche Urworte bildeten noch eine ununterschiedene, psychisch betonte Einheit, deren Doppelwertigkeits-Charakter dem frühen Ägypter und Griechen durchaus gegenwärtig war.” (Ursprung und Gegenwart, Teil 1, S. 69)
Was ein Topos ist, der uns bis in die Neuzeit begleitet hat, geschmälert freilich um das Philosophische, sodass noch Philip Larkin im 20. Jahrhundert ein Gedicht (An Arundel Tomb) ironisch mit der Zeile enden lassen kann:
What will survive of us is love.
Und die Leser ignorieren, verdrängen, bemerken jedenfalls nicht, dass die Zeile davor:
Our almost-instinct almost true:
diese Aussage negiert. Was fast wahr ist, ist eben nicht wahr. Auch ein paar Zeilen zuvor hat Larkin bereits angemerkt, dass “Time has transfigured them into / Untruth.” Und Larkin kommentierte die häufige Fehlinterpretation spöttisch mit den Worten, dass Liebe nicht unsterblich sei, nur weil zwei Statuen 300 Jahre Händchen halten.
Diotima nutzt natürlich nicht diese modernen (allerdings aus dem Griechischen gebildeten) Begriffe, sondern spricht von denen, die “dem Leibe nach zeugungslustig sind, [sie] wenden sich mehr zu den Weibern und sind auf diese Art verliebt”; und “Die aber der Seele nach…” “indem er den Schönen berührt, meine ich, und mit ihm sich unterhält, erzeugt und gebiert er, was er schon lange zeugungslustig in sich trug” — “Und jeder sollte lieber solche Kinder haben wollen als die menschlichen, wenn er auf Homeros sieht und Hesiodos und die anderen trefflichen Dichter, nicht ohne Neid”… (209)
Ich schreibe dies (trotz einer philosophischen Ausbildung) als absoluter Platon-Laie. Oder sollte ich, dem Thema und meinen Ambitionen entsprechend sagen: Platon-Amateur?
Wunderbar, Conrad! DANKE! Ich glaub das druck ich aus. Nicht nur wegen der Fußnoten 😉
Ernst jetzt: Inhalt ist super, und dein Stil gefällt mir! Bin dauernd am Schmunzeln!