Zwischen Tier und Gott: Was den Menschen wirklich ausmacht
Wie positioniert sich der Mensch in Zeiten der Künstlichen Intelligenz? Ein Beitrag zur Blog-Challenge von Margot Dimi, dem Wortweib.
Dieser Artikel ist entstanden als Beitrag zu einer Blog-Challenge von
mit der Frage: Was macht den Menschen zum Menschen?Und nebenbei: Tausend Dank, liebe Margot, für diese wunderbare Anregung. Selten ist etwas so aus mir herausgeflossen wie dieser Text!
Sie führt dort an, Philosophen hätten in der Vergangenheit versucht, den Menschen über seinen Werkzeuggebrauch oder seine Intelligenz zu definieren. Inzwischen wüssten wir aber, dass auch Tiere Werkzeuge gebrauchten, und Maschinen sind dabei intelligent zu werden. Was bleibt dem Menschen also als Alleinstellungsmerkmal? Bleibt ihm etwas?
I. Einleitung
Ich will mich der Frage aus einer philosophischen Perspektive nähern. Man könnte — mit Peter Janich — infrage stellen, ob Tiere wirklich auf die gleiche Art und Weise Werkzeuge verwenden wie wir; oder auch, ob KIs wirklich intelligent sind oder ob sie denken. Ich will diese beiden Punkte aber auf sich beruhen lassen, weil ich einen anderen Ansatz für zielführender halte.
Wieso sehen wir in den Entwicklungen der KI eine Herausforderung des Menschenbildes? Ich denke, weil man den Menschen zu sehr und zu einseitig auf seine denkerischen Fähigkeiten reduziert hat. Der Mensch denkt aber nicht nur, er fühlt auch, er empfindet, und er will etwas, er hat einen Willen. Was also ist der Mensch, wenn man ihn im Ganzen betrachtet?
II. Drei Antworten
Ich will drei Antworten motivieren, die aus meiner Sicht alle auf das Selbe hinauslaufen, auch wenn dies im ersten Moment nicht so zu sein scheint. Der Schein trügt bekanntlich manchmal.
A) Der Mensch ist das Tier, dass der Entwicklung bedarf
Laut Nietzsche ist der Mensch das Tier,1 “von dem zu viel verlangt wird.” Das heißt, der Mensch muss sich weiterentwickeln. Die Tiere müssen das nicht. Gott muss das nicht. Der Mensch muss es: Er ist der anthropos, zwischen dem Irdischen und dem Himmlischen ausgespannt und weder dort noch hier hat er seine Heimat.
Peter Sloterdijk, der in Du musst dein Leben ändern Nietzsche zitiert, führt diesen Gedanken in blumigen Worten wie folgt aus: Schon beim ersten Jäger, der im Zuge der Menschwerdung in der Savanne zum ersten Mal zum Himmel aufgeblickt habe, hätte sich unweigerlich der Eindruck eingestellt, der Horizont sei keine schützende Umhüllung, sondern ein Tor, "durch das die Götter und die Gefahren eintreten".2
Der Mensch kann sich nicht geborgen, umhüllt fühlen, er muss weiter, er muss sich ändern, er muss die Gefahren bestehen, er kann erst ruhen — vielleicht — wenn er tot ist, vielleicht aber nicht einmal dann. Der Mensch ist das Tier, das der Entwicklung bedarf.
B) Der Mensch ist das Tier, das nach Wahrheit strebt
Nach Aristoteles ist der Mensch (bekanntlich, hätte man früher gesagt, heute ist das nicht mehr so bekannt) das Tier, das den logos hat. Dieses griechische Wort spannt einen gewaltigen Kosmos an Bedeutungen auf, schon in der Antike, aber noch einmal gesteigert durch die Verschmelzung von Hellenismus und Judentum zum Christentum und der Gleichsetzung des griechischen logos mit dem jüdischen Messias (=christos) im Johannes-Prolog, der beginnt mit den Worten: Im Anfang war der logos…
Dieser Verknüpfung nachspürend könnten wir, uns auf das Bibelwort beziehend, “Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben” den mittleren Term dieser Aufzählung einmal versuchsweise einsetzen: “Der Mensch ist das Tier, das die Wahrheit hat” — allerdings kann niemand die Wahrheit haben, und auch Christus hat man — aus christlicher Perspektive, die wir uns hier nicht zu eigen machen, sondern nur anthropologisch zur Kenntnis nehmen — natürlich nicht. Man kann nur nach der Wahrheit, nach Christus, streben. Man kann dahin streben, weil man prinzipiellen Zugang, prinzipielle Möglichkeit dazu hat: Der Mensch ist das Tier, das nach Wahrheit strebt.
Der Begriff der Wahrheit hat heutzutage keinen leichten Stand. Was ist Wahrheit?, soll schon Pilatus skeptisch gefragt haben. Und die pragmatische Antwort, die von Philosophen der jüngeren Vergangenheit entwickelt wurde und vielleicht am besten zum Zeitgeist passt, ist: Whatever works. Wahrheit sei, was immer uns nützlich sei, für wahr zu halten. Also eigentlich ein leerer Begriff, den der konsequenteste Vertreter dieser Richtung, Richard Rorty, deshalb auch am liebsten ganz aus unserem Vokabular streichen wollte. Reden wir nicht von Wahrheit, hat er vorgeschlagen, reden wir lieber davon, was funktioniert.
Andererseits könnte man einwenden: Funktioniert diese Abkehr von Wahrheit denn besonders gut für den Menschen, in den letzten Jahrzehnten, nähern wir uns irgendeinem utopischen Zustand an oder spalten wir uns nicht doch immer mehr auf, intraindividuell, aber auch gesellschaftlich und global? Diese Fragen seien aber nur eine Nebenbemerkung, denn sie führen vom eigentlichen Thema weg.
Selbst wenn sein Streben nach Wahrheit illusorisch, weil unerreichbar ist, so lässt sich anthropologisch doch feststellen, dass es dieses Streben gibt — nur beim Menschen. Der Mensch ist das Tier, das nach Wahrheit strebt — man könnte ergänzen, weil er sich zur Wahrheit hin entwickeln will.
C) Der Mensch ist das Tier, dass Freundschaften haben kann
Ebenfalls auf Aristoteles geht die Aussage zurück, dass der Mensch ein Herdentier ist, ein zoon politikon. Der Mensch ist nicht — pace Rousseau — ein atomisiertes Individuum, das mit sich selbst ganz zufrieden wäre, wenn man es nur allein lassen würde, sondern er ist schon immer auf andere Menschen angewiesen. Das Individuum entwickelt sich auch psychologisch betrachtet überhaupt erst aus dem Geist der Gemeinschaft.
Nun leben die meisten Tiere in Gemeinschaften der einen oder anderen Form und ähnlich könnte man auch für die KI argumentieren — die übrigens kein bisschen nach Wahrheit strebt und sich zwar entwickelt, aber dies eigentlich nicht muss — dass sie eine Art Gemeinschaft, eine Art Überorganismus bildet, so wie das Internet als Ganzes ja auch so betrachtet werden kann.
Was den Menschen aber meines Erachtens über diese Gemeinschaften heraushebt, ist seine Fähigkeit zur Freundschaft. Der Mensch kann die freie und freilassende Beziehung zu anderen Menschen eingehen, in der seine Entwicklung und sein Streben nach Wahrheit überhaupt erst möglich wird.3
Nun liegt der skeptische Einwand nahe, dass Tiere — z.B. Hunde — doch auch miteinander befreundet sein können, oder anders herum, dass echte Freundschaft auch dem Menschen unmöglich sei. Ich denke, das ist viel Projektion. Tiere können anderen Tieren oder Menschen gegenüber Sympathie oder Antipathie aufbringen, aber das ist nicht das Gleiche wie Freundschaft. Eine Freundschaft beruht ganz stark auf der Ich-Du Beziehung, und dazu muss es ein Ich-Bewusstsein geben, das sich dem anderen Ich-Bewusstsein gegenüberstellen, ihm begegnen, mit ihm ein Stück weit verschmelzen kann.
Dies ist nicht der Ort zur ausführlichen Diskussion dieser These, ich denke aber, sie plausibel gemacht zu haben. Ich möchte darüber hinaus die These aufstellen, dass der Mensch sich nur entwickeln kann, weil er Freundschaften haben kann, und nur deshalb kann er auch nach Wahrheit streben. Die drei Charakterisierungen verweisen also aufeinander und geben ein Bild vom Menschen, der eine spezifische Aufgabe in der Welt zu haben scheint, und diese Aufgabe ist von der der Tiere verschieden. Und diese Aufgabe kann der Mensch auch nicht an die Maschinen, die er erschafft, auslagern.
III. Das Gegenbild: Der Mensch als Tier unter Tieren
All dies, würde mir ein typischer Intellektueller des 21. Jahrhunderts entgegenhalten, basiert auf dem abergläubischen Bild, dass der Mensch in irgendeinem Sinne mehr ist als ein bio-physikalischer Organismus. Dass dem nicht so ist, sei aber bewiesen.
Nun, ersteres ist richtig, zweiteres falsch. Aber schauen wir uns dennoch kurz dieses Gegenbild des Menschen als Tier unter Tieren an.
A) Das naturalistische Weltbild
Seinen Ausgang nimmt dieses Bild typischerweise von der darwinistischen Evolutionstheorie, ggf. in einer modernen Weiterentwicklung, aber die Kerngedanken haben sich nicht verändert.
Diese Theorie ist eingebettet in das ebenfalls heute gängige physikalische Weltbild, nach dem das Universum mit einem big bang begann, sich dann nach den Naturgesetzen aber ohne Ziel entwickelt hat, bis Planetensysteme entstanden, darunter die Erde, auf der zufällig Leben, also einfach Dinge, die sich reproduzieren können, entstanden.
Durch Mutation und natürliche Auslese seien aus dem ursprünglichen Leben dann im Laufe der Zeit eine immer größere Vielfalt an Lebensformen entstanden, ohne dass dieser Prozess einen bestimmten Endpunkt anstrebte. Arten entstünden und stürben größtenteils wieder aus, und manche überlebten und entwickelten sich weiter.
So sei dann auch ganz natürlich im Rahmen dieser blinden Selektion der Mensch entstanden, ein Tier unter anderen Tieren, dessen gesamtes Erleben sich aus seinem bio-physikalischen Organismus heraus erklären lasse, wie dies auch bei allem anderen der Fall sei.
Dies ist das heutzutage gängige Bild und jeder kennt es. Ich habe es auch nur — in der gebotenen Kürze — ausgeführt, um folgenden Punkt zu beleuchten: Aus den von mir fett markierten Begriffen können wir schon sehen: Wir haben es mit einem ateleologischen Weltbild zu tun, d.h. ein Weltbild, bei der die Welt vollkommen ziellos und also sinnlos ist. Dafür — wie zum Ausgleich — ist diese gesamte Welt prinzipiell der Naturwissenschaft vollkommen zugänglich. Es gibt nichts, was sie nicht erforschen, keine Antwort, die sie nicht geben könnte, wenn auch nicht jetzt, so doch ggf. in der Zukunft.
B) Welche Beweiskraft?
Dieses naturalistische Weltbild ist nicht bewiesen und die Alternativen nicht widerlegt. Es wäre nicht einmal klar, wie ein solcher Beweis oder eine Widerlegung aussehen könnten. Wenn wir uns den Ursprung dieses Weltbildes anschauen, dann können wir auch schnell zur Erkenntnis kommen: Ursprünglich und eigentlich ist dies gar kein Weltbild, sondern eine methodische Regel. Die naturwissenschaftliche Erforschung kann aus methodischen Gründen nichts erforschen, das nicht im Rahmen ihres Betrachtungsgebietes liegt.
Natürlich ist es insofern nicht Aufgabe der Naturwissenschaft, über das zu sprechen, was außerhalb ihres Fachgebietes liegt. Daraus zu schlussfolgern, dass dort gar nichts liegt, ist unzulässig. Und diese Schlussfolgerung haben die meisten der brillanten Naturwissenschaftler selbst auch gar nicht gezogen. Dies waren eher Philosophen und Freidenker, die vor allem gegen die Bevormundung und den Dogmatismus der damals noch mächtigen Kirche kämpften und vom Erfolg der Naturwissenschaften, vor allem in der Astronomie, begeistert und wie von Sinnen waren.4
C) Können wir es uns also aussuchen, was wir glauben wollen?
Wenn keine der Weltsichten bewiesen oder widerlegt werden kann, ist es dann einfach beliebig, woran wir glauben, und diese pragmatischen amerikanischen Philosophen, und Richard Rorty, hatten doch Recht, dass Wahrheit eine Illusion ist, nach der wir aufhören sollten zu streben?
Meine aktuelle Antwort lautet: Jein. Ja, insofern als wir kein gesichertes Wissen darüber werden erlangen können, was nun wirklich die Wahrheit ist. Aber Nein, insofern als ich glaube, dass es viele mögliche Pfade gibt, die eher zu einer spirituellen Weltsicht führen, womit nur gemeint ist, dass der Mensch und auch die Welt mehr ist als das Bio-physikalische, und dieses Etwas kann man Geist nennen, lateinisch: Spiritus, hence: spirituell.5
Tatsächlich hat mein eigenes diesbezügliches Denken seinen Ausgangspunkt bei Richard Rortys Verneinung der Möglichkeit von Wahrheit genommen. Wenn dem so ist, hatte ich mir damals gedacht, dann bleibt zu prüfen, welches Welt- und Menschenbild dem Menschen wirklich “nützt”, also guttut. Ein Weltbild, nach dem alles, was ich für wichtig und glorreich halte, in Wahrheit (ping!) aber unwichtig und bedeutungslos ist, weil es, spätestens wenn ich tot bin, keine Rolle mehr spielen wird, schien mir kein aussichtsreicher Kandidat.
Mir scheint aber, dass gerade dieses naturalistische Weltbild unausweichlich auf Rortys These hinausläuft: Wahrheit ist illusorisch, wenn ich nichts anderes bin als ein Zellhaufen unter anderen Zellhaufen, und jede Utopie ist illusorisch, wenn nichts von uns bleibt. Dann widerlegt sich dieses Weltbild aber selbst, denn seinen Anspruch, wahr zu sein, kann es nicht einlösen, da es uns die Möglichkeit von wahrer Erkenntnis ja gerade abspricht.
“Oh Gott”, höre ich die innere Stimme meines Kritikers, “das ist mir aber viel zu kompliziert gedacht, und überhaupt, ist mir das alles zu happy-go-lucky spirituell.” — Kein Problem, möchte ich antworten, ich nehme alles zurück, was ich gesagt habe, vergesst es und lasst es uns stattdessen mit folgenden Gedankengängen versuchen:
IV. Plausibilisierung eines spirituellen Weltbildes
Dem wachsamen Leser wird aufgefallen sein, dass dieser Artikel — wenn man von Einleitung und Konklusion absieht — in drei mal drei Abschnitte geteilt ist. Der Dreischritt ist ästhetisch und erscheint uns immer irgendwie so passend. Am Rande: Woran mag das liegen? Was hat es mit dieser Zahl auf sich?6 Wie dem auch sei, es folgen also auch nun drei Gedankengänge.
A) Woher kommt die Ethik und woher der Sinn?
Das naturalistische Weltbild hat keinen Platz für eine Ethik, die diesen Namen verdiente. Da unsere Haltungen und Gedanken nichts anderes sind als Epiphänomene unserer Gehirnzustände, sind unsere Gedanken und Haltungen zur Ethik, also zur Frage, wie man sich verhalten soll, was gut und was falsch ist, nicht wahrheitsfähig. Sie gehen über ein “So machen wir es eben” nicht hinaus. Wenn niemand bspw. auf die Idee gekommen wäre, dass Kinder zu töten falsch sei, dann sei es auch nicht falsch. Es wird nur dadurch falsch, dass Menschen es für falsch halten.
Das Problem mit dieser Sicht ist, dass der ethische Diskurs damit beliebig wird. Was Platon versuchte zu etablieren, damals im antiken Griechenland, war die These, dass es falsch war, dass die Athener seinen Lehrer Sokrates hingerichtet hatten, auch wenn es den Sitten und Gesetzen entsprach. Und dass es richtig von Sokrates war, sich hinrichten zu lassen, obwohl er hätte fliehen können, auch wenn eine Flucht der phronesis, der Klugheit entsprochen hätte.
Sämtliche Rettungsversuche einer Ethik ohne transzendentalen Bezug sind gescheitert, immer wieder. Darum ist die antike und mittelalterlich-christliche Tugendethik wieder in Mode gekommen. Aber auch Versuche, diese von ihrem christlichen oder kosmischen Gewand zu entkleiden, sind gescheitert. Wir müssen zur Kenntnis nehmen: Dies ist kein Beweis gegen den Naturalismus, aber es ist eine Abwägung: Als Naturalist muss ich, wenn ich logisch konsequent sein will, leugnen, dass es eine objektive Moral gibt, und stattdessen zugeben: anything goes. Dies ist aber ein Weg in den Nihilismus.7
Den gleichen Gedanken kann man auch für die Frage nach Sinnhaftigkeit durchdeklinieren. Unser Empfinden von Sinnhaftigkeit ist im Naturalismus eine Illusion. Ja, wir selbst sind eine Illusion, die sich selbst illusioniert. Für besonders pessimistisch gestimmte Menschen kann dies auch eine Beruhigung bedeuten. All die schlimmen Dinge, das ganze Grauen in der Welt, sind nicht wirklich schlimm, weil es im Nachhinein keine Rolle gespielt haben wird, was gerade geschieht. Andererseits erlaubt es dann auch, sich bestialisch (!) zu verhalten, denn auch das wird im Nachhinein bedeutungslos gewesen sein.
Wir sehen: In ein vollkommen ateleologisches Weltbild können wir ein telos, einen Sinn, nicht nachträglich hineinschmuggeln. Wir müssen ihn von Anfang an mitdenken oder wir müssen ihn aufgeben.
“Nun, das verstehe ich nicht ganz, aber überzeugen tut es mich so oder so nicht. Ich glaube an die Naturwissenschaften. Ich möchte das ganze Problem von ihrer Seite aus betrachtet wissen.” — Kein Thema, bitteschön:
B) Iain McGilchrists Hemisphärentheorie und was er aus ihr folgert
Es gibt unglaublich viele Naturwissenschaftler, die sich eine nicht-naturalistische Perspektive zu eigen gemacht haben. Viele Quantenphysiker sind darunter, aber auch Giganten der frühen Neuzeit, wie Kepler und Newton. Fritjof Capra propagiert eine ganzheitliche Sicht auf das Leben. Martin Gardner glaubte an Gott und ein Leben nach dem Tod, aber nicht an eine institutionalisierte Religion, usw.
Am faszinierendsten ist aber der Gedankengang
s für mich, den er in seinem dicken Wälzer The Matter with Things ausführlich dargelegt hat. Ich werde versuchen, ihn ganz kurz und knackig zusammenzufassen.Warum haben wir zwei Hirnhälften?
McGilchrist ging in seiner Forschung von der Frage aus: Wie kommt es, dass das Gehirn zwei Hälften hat, die nicht symmetrisch sind, und zwar nicht nur beim Menschen, sondern im Grunde bei allen Wesen, die überhaupt ein Gehirn haben?
Aus jahrelanger Forschung und den Ergebnissen anderer Forscher entstand seine Antwort.8 Die beiden Hirnhälften teilen sich tatsächlich die Arbeit, die Welt und unsere Interaktion mit ihr für uns zu erfassen, aber nicht in dem Sinne, dass bspw. die rechte für das Denken und die linke für das Fühlen zuständig wäre, sondern: Sie nehmen zwei verschiedene Perspektiven auf die Welt ein, die beide für unser Überleben essentiell sind.
Die linke Hirnhälfte fokussiert sich auf Details. Sie geht dabei analytisch vor, ignoriert den Hintergrund, folgt einer entweder/oder-Logik und versteht die Dinge auf einer nüchternen, wortwörtlichen Ebene.
Die rechte Hirnhälfte hingegen bietet eine weitläufige, eher periphäre Aufmerksamkeit und Offenheit für Neues, sie stellt Verbindungen her, ist also synthetisch, folgt einer beides/und-Logik und versteht Sprachbilder, Metaphern, Nuancen, den ganzen Reichtum der Kommunikation.9
"[Y]ou could say, to sum up a vastly complex matter in a phrase, that the brain's left hemisphere is designed to help us ap-prehend – and thus manipulate – the world; the right hemisphere to com-prehend it – see it all for what it is."
Die Interaktion der beiden Hirnhälften
Die linke Hirnhälfte ist gut darin, Dinge zu manipulieren, sich zu Nutze zu machen, aber sie hat keinen realistischen Überblick. Das ist ihr aber nicht bewusst. Sie denkt, dass sie alles weiß, und hat kein Gefühl dafür, was ihr fehlt. Die rechte Hirnhälfte hingegen wird sich dessen bewusst, was sie nicht weiß.10
Insofern gebraucht McGilchrist das Bild eines “Meisters und seines Gesandten.”11 Der Meister — die rechte Hirnhälfte — entsendet seinen Gesandten — die linke — für eine spezifische Aufgabe, die dieser auch gut ausführen kann, aber die Kontrolle sollte beim Meister bleiben, weil nur er den Überblick besitzt. Gerade aber weil der Gesandte ihn nicht hat, kann er sich einbilden, er wisse alles, was der Meister auch wisse, und er brauche ihn nicht.
Eine ganz wesentliche Beobachtung ist nun, dass die linke Hirnhälfte dazu tendiert, die Dinge mechanisch und unbelebt aufzufassen, während die rechte Hirnhälfte erst die volle Komplexität der Welt und der Menschen darin erfassen kann. McGilchrists These ist nun, dass in der Moderne die linke Hirnhälfte aus Gründen, die hier auszuführen zu weitläufig wäre, dominant geworden ist, und uns damit in eine illusorische Weltsicht hineingebracht hat: das mechanistische (naturalistische) Weltbild, das die Welt und die Menschen als Maschinen konzeptualisiert, weil es keinen passenden Begriff vom Lebendigen (und Beseelten) hat.
Metaphysische Schlussfolgerungen
Besonders spannend ist nun, dass McGilchrist versucht herauszufinden, welches Weltbild sich herauskristallisieren würde, wenn man die Dominanz der rechten Hirnhälfte wieder herstellt. Dieser Frage ist der dritte Teil seines Buches gewidmet. Die Kapitel behandeln unter anderem Raum und Zeit, Bewegung, Fluss und Materie, Bewusstsein, Werte, Sinn, Leben und das Heilige.
Ich möchte hier nur einen einzigen Begriff herausgreifen aus dieser Fülle: das Bewusstsein. McGilchrist führt aus, dass es eine typisch-verengte Sicht aus der linken Hemisphäre ist, zu glauben, Materie könne Bewusstsein hervorbringen. Alles spreche für den gegenteiligen Prozess: Bewusstsein bringe Materie hervor. Wenn dem so ist, dann fällt damit aber das ganze mechanisch-materialistische Weltbild — das sowieso nicht besonders stabil steht — in sich zusammen, weil es ja gerade davon ausgeht, dass unser Bewusstsein nur ein Epiphänomen der physikalisch-materiellen Welt ist.
Wir konnten demnach dieser Idee nur verfallen, weil die linke Hirnhälfte nicht begreifen kann, was sie übersieht, und einfach etwas erfindet, um sich die Dinge zusammenzureimen. Die rechte Hirnhälfte würde ohne Zögern und weisheitsvoll neben die klassischen Zugänge zur Wahrheit Wissenschaft und Vernunft noch zwei weitere Zugänge betonen, die uns verloren gegangen sind: Intuition und Imagination. Und dieser vierfache Weg zur Wahrheit würde in Kombination einen Sinn für das Heilige wiederherstellen.12
“Okaaaay — das war mir jetzt ein bisschen zu wissenschaftlich. Gibt es denn keine ganz pragmatische Perspektive, die ohne Fremdwörter und komplexe Gedankengänge auskommt?” — Ich will’s versuchen:
C) Die pragmatische Perspektive der Macht und Freundschaft
Wenn das naturalistische Weltbild korrekt wäre, dann wäre auch die Analyse des menschlichen Verhaltens korrekt, nach der es ihm im Grunde nur darum geht, zu überleben und sich fortzupflanzen. Das abstrakt beste Mittel zu diesem Zweck ist Macht. Darum, so bestimmte postmoderne Diskurse, müssen wir alles menschliche Verhalten als Streben nach Macht interpretieren.
Jede zwischenmenschliche Beziehung ist ein Ringen um und Ausüben von Macht. Alles andere ist nur illusorisches Blabla, das wir uns dazu erfunden haben. Das gilt natürlich auch für deine Liebesbeziehung, das gilt für deine Freundschaften. Dies sollte man einsehen, dann kann man sich darin einrichten, sich damit arrangieren, und wird nicht mehr enttäuscht.13
Was das aber eigentlich bedeuten würde, ist, dass es weder Liebe noch Freundschaft wirklich gibt. (Vergessen wir nicht, es gibt ja auch “uns”, “dich” nicht wirklich. Du bist nur eine Halluzination, die sich selbst halluziniert, wenn der Naturalismus richtig ist.) Diese Sichtweise ist pragmatisch gar nicht lebbar und wer etwas anderes behauptet, lügt und ist zudem tiefgehend gefährdet, ein Soziopath und Nihilist zu sein.
Wenn es aber Liebe und Freundschaft nicht gäbe, in Abwandlung eines alten Sprichworts, so müsste man sie erfinden. Und dann daran glauben. Und sich zu diesem Zweck ein passendes Weltbild hinzu erfinden: ein spirituelles!14
V. Konlusion
Ich stelle fest, wir haben nur drei Möglichkeiten:
Wir können ein spirituelles Weltbild akzeptieren, unseren Platz als “begeiste(r)te” Wesen darin akzeptieren und die Konsequenzen dieser Lagefeststellung erforschen; oder
Wir können den Nihilismus akzeptieren, nachdem alles nur sinnloser Schein ist, dann aber auch unsere Einsicht in die Richtigkeit dieses Nihilismus. Stattdessen könnten wir ja auch an etwas Positives glauben, zum Beispiel das spirituelle Weltbild; oder
Wir können es aufgeben, logisch-konsequent sein zu wollen: Dann können wir natürlich einerseits den Sinn leugnen und gleichzeitig darin fortfahren, so zu handeln, als gäbe es ihn. Aber wenn wir das tun wollen, warum entscheiden wir uns dann nicht gleich für die angenehmste Alternative, anzunehmen, dass alles vor Sinnhaftigkeit nur so strotzt?
Ich stelle fest, es gibt eigentlich nur eine Möglichkeit: das spirituelle Weltbild.15
Vielleicht meinte der Philosoph C. S. Peirce das, als er schrieb, natürlich könnten Menschen behaupten, dass sie nicht an Gott glaubten. Das zeige aber nicht, dass sie auch tatsächlich in der Lage seien, nicht an Gott zu glauben. Es sei, so Peirce, gar nicht möglich, nicht an Gott zu glauben. Was aber natürlich möglich sei, sei, sich ein Bild von Gott zu machen und an dieses dann nicht zu glauben. Was nicht das gleiche sei.16
Vielleicht könnte man also auch formulieren: Was den Menschen zum Menschen macht, ist, dass er auf Gott bezogen bleibt, auch wenn er sich mit Händen und Füßen dagegen wehrt. Und vielleicht ist es genau dieser Bezug, der ihn schlussendlich retten wird. Anders formuliert:
Der Mensch ist das Tier, das sich in freundschaftlicher Verbindung zu seinen Mitmenschen nach Wahrheit strebend immer weiterentwickeln wird.
Und ist das nicht eine schöne, eine bewundernswerte Perspektive, die man sogar dann einnehmen wollen sollte, wenn man sie (noch) nicht glauben kann? Was denkt ihr? Schreibt es gerne in die Kommentare und teilt diesen Artikel mit euren fellow (Un-) Gläubigen:
Eine kurze Bemerkung zur Terminologie. Wenn ich nicht der Ansicht bin, dass der Mensch “ein Tier unter Tieren” ist, warum spreche ich trotzdem, warum sprachen die alten Philosophen trotzdem, in den Definitionen vom Tier? Hier müssen wir auf den lateinischen Ursprung (und den griechischen) schauen: Animal kommt von anima = Seele, also beseelte Wesen sind animals=Tiere. Die "abwertende” Bezeichnung für Tiere war bestia, im Deuschen Bestie. (Im Griechischen ist es etwas komplizierter, darum sei eine Herleitung hier übergangen, aber der Begriff ist zoon im Gegensatz zu bios.)
Ich zitiere mich in diesem Absatz selbst aus meinem Aufsatz über Bret Weinsteins und Heather Heyings Buch A Hunter-Gatherer’s Guide to the 21st Century.
Je nach Ausführung gibt es daneben weitere Begriffe, die angenommen werden können: In der Yoga-Tradition bspw. das prana, eine Art Lebensenergie, die nicht physisch ist, aber auch nicht geistig, sondern irgendwo dazwischen. Auch der Begriff der Seele, der in den meisten Kulturen irgeneine Form von Äquivalent besitzt, ist nicht unbedingt mit dem Geistigen gleichzusetzen, sondern etwas nicht-Physisches und nicht-Geistiges, das diese beiden Bereiche miteinander versöhnt und verbindet. Aber dies nur nebenbei.
Küchenpsychologisch könnte man vielleicht sagen: Die Einzahl lässt keine Entwicklung zu, die Zweizahl führt in die polare Spaltung, erst die Drei führt diese Polarität dann in eine angenehme und entwicklungsfreudige Synthese. Das ist natürlich keine Küchenpsychologie, das war nur Tarnung. In Wahrheit ist es ein spiritueller Gedanke :)
Unter Nihilismus verstehe ich eine Haltung, nach der es keine Rolle spielt, wie man sein Leben gelebt haben wird. Dazu kann man äquivalente Formulierungen finden. Auch dazu habe ich mich bereits einmal verbreitet.
Auf die faszinierenden Details dieser Forschung kann ich hier natürlich nicht eingehen. Ich empfehle ausdrücklichst die Lektüre von The Matter With Things. Es liegt allerdings keine deutsche Übersetzung vor. In der Zukunft werde ich vielleicht dazu kommen, eine längere Artikelreihe über McGilchrist zu schreiben. Auf Youtube findet man auch Interviews und Vorträge von ihm.
Mit einem evolutionären Bild kann man sich die beiden Hirnhälften in ihrer Funktion und Interaktion vielleicht am konkretesten vorstellen: Der Mensch oder das Tier in freier Wildbahn muss sich einerseits mit einer konkreten Sache beschäftigen können, um sich am Leben zu halten: Nahrung suchen, Kleidung/Behausung herstellen, etc. Andererseits braucht es eine gewisse Wachsamkeit gegenüber der potentiell gefährlichen Umwelt. Die beiden Hemisphären sind sozusagen auf jeweils eine dieser Funktionen spezialisiert und arbeiten nicht gegeneinander, sondern miteinander.
Man kann, dieses Detail sei hier doch angeführt, heutzutage bei eigentlich gesunden Patienten jeweils eine Hirnhälfte betäuben und das Verhalten der Personen studieren. Ist die rechte Hirnhälfte betäubt, wird der Patient nicht mehr zugeben, wenn er etwas nicht weiß. Er wird einfach irgendetwas — teils Absurdes — erfinden, um das Nichtwissen zu überspielen, und zwar, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass es erfunden ist!
So heißt auch McGilchrists erstes Buch zum Thema: The Master and his Emissary.
Ich habe versucht, 1500 Seiten in unter 1000 Wörtern zusammenzufassen. Natürlich bleibt dabei Vieles auf der Strecke. Wichtig ist mir zu betonen, dass McGilchrist diese Begriffe: das Heilige, Imagination, Intuition mit Inhalt füllt, der aus einer rechten-Hirnhälfte-Perspektive informiert ist, nicht aus der abwertenden links-hemisphärischen Sicht, die mit diesen drei Begriffen wenig anfangen kann. Aber für die Details muss ich leider an dieser Stelle zumindest auf das Buch und das Internet verweisen. Es lohnt sich, sich tiefer mit McGilchrist zu befassen — ganz unabhängig davon, ob er richtig liegt. (Was ich aber glaube.) — In einem kürzlich auf Substack veröffentlichten Artikel schreibt McGilchrist über Imagination: “Imagination is essential to the proper use, and the successful use, of science and reason: without it they are dwarves of themselves. Imagination is the opposite of fantasy: it does not take us away from reality, but is our only chance of entering into reality.” Dies scheint mir eine gelungene Charakterisierung.
Auch zu diesem Themenkomplex habe ich schon einmal einen Artikel gewagt, in dem ich versuche, dieser Perspektive etwas entgegenzuhalten.
Dieses Argument wirkt vllt etwas dünner, als es in Wahrheit ist. Denn die naheliegende Begründung, dies nicht zu tun, wäre ja die Berufung auf Wahrheit oder intellektuelle Redlichkeit oder so: aber diese ist, wie wir sahen, dem pragmatischen Naturalisten ja verboten :)
Es gibt natürlich keinen logischen Zwang, dies zu akzeptieren. Ich spiele nur.
Und Leonard Cohen schrieb in einem Gedicht, es bereite solchen Spaß an Gott zu glauben, man solle es mal ausprobieren, vielleicht jetzt, um zu sehen, ob Gott will, dass Du an ihn glaubst. Ich möchte noch einmal betonen: Gott meint nicht bspw. den traditionell-christlichen Gott, oder einen anderen. Das sind Bilder von Gott. Der Begriff muss per definitionem unterbeleuchtet bleiben, so á la “Gott ist der ganz Andere” :)
Mir gefällt, was ich da ausgelöst habe. 👏🏻 Danke für diese so umfangreiche Abhandlung. Da sind einige Anknüpfungspunkte drin, z.B. der mit den beiden Gehirnhälften, bei denen „der Schwanz mit dem Hund wedelt“.
Guck mal Konrad, dieses spannende Interview habe ich gestern nur deshalb gefunden, weil ich deinen Beitrag hier gelesen habe. Danke! Übrigens kann ich wärmstens empfehlen, Martin Shaw mal genauer anzuschauen... ;-) Liebe Grüße! https://www.youtube.com/watch?v=U1ieHAqz2WI&t=1601s