Werke und Tage III: das Wahre, das Schöne und das Gute
Der Platonismus und Roberto Bolaños "Chilenisches Nachtstück" und noch einmal der Nihilismus
Der große Roberto Bolaño sagte in einem Interview einmal, dass es nicht wichtig sei, was andere Menschen über sein Werk sagten. Denn entweder existiere Gott, oder eben nicht. Wenn nicht, dann spiele nichts eine Rolle. Wenn doch, dann spiele nur eine Rolle, was Gott denkt. Aber Bolaño selbst bezeichnete sich als Atheisten.
I.
Dem Protagonisten seines dünnen Romans Chilenisches Nachtstück, dem Priester Sebastián Urrutia Lacroix legt er aber folgenden Gedanken in den Mund, wobei zu bedenken ist, dass dieser Protagonist ein Anti-Held ist, jemand, der seine Lebensbeichte ablegt, und dabei noch immer verkennt, dass er moralisch versagt hat, in seinem Schweigen zu den Gräueln der chilenischen Diktatur unter Pinochet:
»Verantwortungsbewusstsein. Mein Leben lang habe ich das gepredigt. Jeder Mensch hat die moralische Verpflichtung, sich für seine Handlungen verantwortlich zu erklären, und für seine Worte ebenso, ja, sogar für das Schweigen, allerdings, denn schließlich fährt auch das Schweigen zum Himmel empor, Gott hört es, Gott allein versteht es und richtet darüber, Vorsicht also beim Schweigen. Meines ist übrigens ohne jeden Makel. Damit das klar ist. Vor allem Gott sollte das wissen. Alles andere ist unwichtig. Gott nicht. Und ich weiß, wovon ich spreche.« (S. 9f.)
Womit Bolaño dem Leser natürlich sagen will, dass Urrutia Lacroix keine Ahnung hat, wovon er spricht, dass sein Schweigen nicht makellos ist, dass es nichts Unwichtigeres gibt als Gott, weil er nicht existiert; aber heißt dies dann auch, dass nichts eine Rolle spielt, der Mensch keine Verantwortung für seine Taten, sein Sprechen, sein Schweigen, zu übernehmen habe? Oder will Bolaño uns wissen lassen, dass in jedem Irrtum das Wahre und das Falsche miteinander vermischt sind? Eine Seite später lässt er Urrutia Lacroix philosophieren, »dass nämlich das Leben eine Folge von Irrtümern ist, die uns zur letzten, einzigen Wahrheit hinführen.« (S. 11)
Und diese letzte, einzige Wahrheit, unter der Urrutia Lacroix wohl den christlichen Gott versteht, ist vielleicht aber, in einer ihrer unzähligen Fassetten, der unfassbare Bedeutungsüberschuss all dessen, was wir tun und wo hinein wir geworfen sind, die unfassbare, manchmal auch unerträgliche Wichtigkeit all dessen, was wir tun und nicht tun, was wir sprechen und verschweigen. Und wie oft sprechen wir, wenn wir schweigen sollten, und schweigen, wenn wir sprechen sollten?
Poetisch sehr ansprechend ausgedrückt scheint mir dies in der zen-buddhistischen Evening Gatha, von der ich nicht mehr sagen könnte, ob ich sie 2011 in Plum Village, oder 2012 in Liverpool kennenlernte:
Let me respectfully remind you
Life and Death are of supreme importance
Time swiftly passes by and opportunity is lost.
Each of us should strive to awaken.
Awaken… Take heed!
Do not squander your life!
II.
Ich meine mich zu erinnern, dass laut Jordan B. Peterson Nietzsche ausgeführt habe, dass das religiöse Leben gangbar gewesen sei, die modernen Alternativen seien das Leben des Wissenschaftlers und das Leben des Künstlers. Alles andere sei nicht nachhaltig und führe ins Verderben.
Auch wenn ich die Stelle bei Nietzsche nicht kenne, und auch die bei Peterson nicht mehr finde, vielleicht habe ich es also nur zusammengeträumt - die Aufforderung scheint mir zu sein, sich einer der höchsten Platonischen Ideen zu widmen:
Sei Wissenschaftler und strebe nach dem Wahren!
Sei Künstler und strebe nach dem Schönen!
Sei Religiös und strebe nach dem Guten!
Wobei dies drei Pfade zum Höchsten wären, die, mit einem Bild gesprochen, den gleichen Berg hinaufführen, zum selben Gipfel. Zumindest bei Platon.
III.
Wobei sich fragen ließe, ob der Wissenschaftler überhaupt nach dem Wahren strebe, der Künstler nach dem Schönen, der Religiöse nach dem Guten? Streben sie nicht nach Geld, oder Macht, Anerkennung und Einfluss, und nach Sicherheit?
Oder, positiv gewendet, ob nicht alle drei Arten von Menschen doch nach allen drei Tugenden streben? Das Wahre und Schöne und Gute als Venn-Diagramm? (Wobei Philip Larkin einmal bemerkt hat, dass es Aufgabe des Künstlers sei, das Wahre als schön und das Schöne als wahr darzustellen, wobei dies aber meistens eine Lüge sei.)
IV.
Auch diese Fragen schwingen in Chilenisches Nachtstück mit. Der Protagonist ist Priester, er schreibt aber auch Gedichte und arbeitet hauptsächlich als Literaturkritiker. Man könnte also sagen, er widmet sich der Religion, der Kunst und der Wissenschaft, wenn man Literaturkritik als Wissenschaft durchgehen lässt.
(Und warum sollte man nicht? Ich habe zwar nie verstanden, was Literaturwissenschaft überhaupt soll, obwohl ich sie erfolgreich studiert habe, außer vielleicht in Form einer Leseempfehlung für den gebildeten Menschen mit üppiger Freizeit, die Wolfgang Reinhard als »Kümmerform aristokratischer Muße« bezeichnet - andererseits hat die Literaturwissenschaft, oder -theorie, maßgeblich Einfluss auf die heutige Kultur gehabt, was vielleicht nicht unbedingt nur gut war, womit ich mich auf Foucault und Derrida und die Postmoderne beziehe, und verstand sich insofern sogar als eine Meta-Wissenschaft zu allen anderen.)
Aber in Chilenisches Nachtstück scheinen sich die drei Bereiche nicht zu ergänzen, sondern eher eine Fluchtmöglichkeit darzustellen. Aus der Langeweile des Priesterdaseins flüchtet Urrutia Lacroix in die aufregendere Welt der Literaturkritik, aus dieser wiederum in die Dichtung, und dann wieder zurück ins Priesterleben: »Auch Beten wird halt irgendwann langweilig. Also schrieb ich Kritiken. Ich schrieb Gedichte.« Aber »es waren Gedichte, die vor Beleidigungen, Gotteslästerungen und noch schlimmeren Dingen strotzten«, die »Verwirrung und Aufgewühltheit« hervorriefen, einhergehend mit »Langeweile und Niedergeschlagenheit.« (S. 73ff.)
Urrutia Lacroix entwickelt eine Depression, was ja nicht ganz ungewöhnlich ist, gerade heutzutage. Mir scheint seine Depression daraus entsprungen, dass er aufgehört hat, nach dem Wahren, Schönen und Guten zu streben, vielleicht, weil sie ihm unerreichbar erschienen, vielleicht auch, weil er an sie gar nicht mehr glaubte.
V.
Und gibt es DAS Wahre, DAS Schöne und DAS Gute überhaupt? Und selbst wenn, fallen sie dann auch zusammen?
Der Glaube an DAS Schöne ist uns schon lange abhanden gekommen. »Schönheit liegt im Auge des Betrachters« meint heutzutage, dass Schönheit eine beliebige oder doch von rein subjektiven Faktoren geprägte Bewertung ist, allenfalls noch evolutionär bedingt.
Auch DAS Gute wird seit dem 19. Jahrhundert immer weniger anerkannt. Der biologisch-anthropologische Blick auf den Menschen sieht ihn als Tier mit Gewohnheiten, Sitten, die nicht ganz willkürlich sind, aber doch von Fall zu Fall unterschiedlich genug, um ein Konvergieren des Sittlichen zu einem Guten nicht länger plausibel scheinen zu lassen. Zumal dieses Gute nicht mehr an einer metaphysischen Konstruktion hängt, wie dem geordneten Kosmos, oder Gott, oder der platonischen Idee.
DAS Wahre ist erst im 20. Jahrhundert wirklich unter Beschuss geraten und hat sich am längsten gehalten, insofern als es immer noch eine maßgebliche Leitidee unserer Kultur gibt, nach der das Wahre, die Wahrheit singulär und objektiv ist und sich auch vom Menschen zumindest in Annäherung einfangen lässt. Aber auch an diesem Ast, auf dem wir doch sitzen, wird ordentlich gesägt, womit ich mich erneut auf die Postmoderne beziehe, und Foucault und Derrida, und vor allem ihre Apostel, von denen es sehr viele gibt.
VI.
Und das bisschen Wahrheit, das wir noch haben, gilt weder als gut, noch als schön. Im Gegenteil, die Wahrheit gilt als so hässlich, dass wir sie kaum ertragen können, weshalb wir sie am besten auch gar nicht geboten bekommen sollten: in der Politik, in der Geschichte, in der Psychologie scheint die Wahrheit zutiefst verstörend. So auch bei Bolaño:
»Wo ist der vergreiste Grünschnabel? Warum ist er weggegangen? Und nach und nach beginnt die Wahrheit aufzusteigen wie eine Leiche, wie eine Leiche, die vom Grund des Meeres aufsteigt oder aus einer Schlucht. Ich sehe ihren trägen Schatten hinter den Hügeln eines versteinerten Planeten aufsteigen. Und da, im Dämmerlicht meines Krankenlagers, sehe ich sein wüstes, sein freundliches Antlitz, und ich frage mich: Bin ich der vergreiste Grünschnabel? Ist er das, der wahrhaftige, der entsetzliche Schrecken, ich selbst könnte der vergreiste Grünschnabel sein, der schreit, ohne dass ihm jemand zuhört?« (S. 156)
VII.
Das Schöne in diesem Sinne eines höchsten Ideals ist nicht unbedingt nur angenehm. Das Schöne kann genauso erschütternd sein wie das Schreckliche. Wenn in der Bibel Engel erscheinen, sagen sie oft: Fürchte dich nicht. Ihr Anblick, ihre Gegenwart, hat scheinbar etwas Furchteinflößendes:
»Und der Engel sagte zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria, denn du hast Gnade gefunden bei Gott.« (Lukas 1:30)
Und auch bei Bolaño schwingt in der Schönheit seiner Prosa eigentlich immer ein gewisser Horror mit:
»Auch Schweine leiden, sagte ich mir. Aber kaum gedacht, bereute ich schon den Gedanken. Ja, sie leiden, die Schweine, und ihr Schmerz adelt und reinigt sie. Ein Feuer entzündete sich tief im Innern meines Kopfes, vielleicht auch im tiefsten Innern meiner Frömmigkeit: Auch die Schweine waren eine Hymne an die Herrlichkeit Gottes, und wenn schon keine Hymne, das war vielleicht übertrieben, so doch wenigstens ein Liedchen, ein Gesang, ein kleines Gedicht zur Feier aller Lebewesen unter der Sonne.« (S: 81)
VIII.
Und das Gute? Sagen wir einfach, eine Formulierung aus einer Rede Bolaños nachahmend, das Gute ist »krank, schwerkrank.« So bleiben die quälenden Fragen des Urrutia Lacroix auch explizit unbeantwortet, wobei die implizite ein schallendendes Nein ist:
»Habe ich alles richtig gemacht? … Habe ich getan, was ich tun musste? Habe ich getan, was ich tun sollte? … Wenn ich meinen Freunden, den Schriftstellern, erzähle, was ich getan habe, werde ich ihre Absolution erhalten? … Weiß der Mensch denn immer und zu jeder Zeit, was gut und was böse ist?« (S. 119)
Schon früher im Büchlein hat Bolaño Ernst Jünger und Don Salvador Reyes in der Mansarde eines guatemaltekischen Malers im besetzten Paris während des 2. Weltkriegs über »die Quelle und die Wirkung des Bösen« philosophieren lassen, die »so häufig von den Launen des Zufalls geleitet« sei (S. 47), wobei nicht klar wird, ob sich das Epithet auf die Quelle oder auf die Wirkung des Bösen bezieht, was sicherlich Bolaños volle Absicht war.
(Und Bolaños ganzes Werk dreht sich letztlich um das Problem des Bösen in seiner historischen Gestalt.)
IX.
Aber wenn die Wahrheit letztinstanzlich nicht schön ist, und nicht gut, dann haben wir ein Problem. Denn dann werden wir unsere Zeit damit verbringen, uns von der Wahrheit abzulenken. Denn dann ist die Wahrheit der Nihilismus.
Und was ist Nihilismus?
Stelle dir die Frage, ob es in 10.000 Jahren einen Unterschied machen wird, wie und ob du gelebt hast. Wenn du nicht mit einem auch so empfundenen Ja antworten kannst, dann ist das Nihilismus.
Anders ausgedrückt ist der Nihilismus die Haltung, das Gefühl, der Gedanke, was auch immer genau, dass das Leben es nicht wert ist, gelebt zu werden, weil nichts von Wert ist. In seiner bewusstesten Form ist es die Haltung, es sei besser, gar nicht erst geboren worden zu sein. In seiner unbewussten Form ist es die Haltung, dass man das Leben schon zu leben bereit ist, solange man es genießen kann, dass man es aber nicht weiterleben sollte, wenn der Schmerz die Freude überwiegt. Und dass es nicht so wichtig sei, wie man gelebt haben wird, weil es einem nur während des Lebens etwas bedeutet, hinterher aber vollkommen bedeutungslos wird. Was ein Zustand ist, nach dem sich Samuel Becketts Charaktere geradezu sehnen:
»All this, when will all this have been… just play?« (Play)
X.
Gewissenlose Menschen und Menschen, die im festen Griff einer Ideologie glaubten, das Richtige zu tun, ohne dass dies der Fall war, und Menschen, die gedankenlos nachplapperten, was sie verstanden zu haben glaubten, ohne es wirklich zu verstehen, ohne der Logik dessen, was sie plapperten, konsequent zu folgen, haben die letzten Jahrhunderte damit verbracht, uns glauben zu machen, das Wahre, das Schöne und das Gute könnten nicht zusammenfallen, könnten auch gar nicht existieren, das sei aber nicht weiter tragisch, denn wir könnten es uns doch ganz gut einrichten in unserer bequemen irdischen Existenz, als gute Gastgeber des Nihilismus.
Ich möchte dem entgegenhalten, dass wir eigentlich keinen guten Grund haben, daran zu zweifeln, dass das Wahre, das Schöne und das Gute existieren, und dass sie zusammenfallen, aber was ist dann mit dem Problem des Bösen? Wie lässt sich in Anbetracht all des Schrecklichen, vor dem wir die Augen nicht verschließen sollten, etwas anderes konstatieren, als dass die Welt schlecht sei, durch und durch schlecht? Eine Antwort, die Bolaño anzudeuten scheint, und die mir mit gewissen theologischen Überlegungen im Christentum übereinzustimmen scheint, ist folgende:
Die Welt könnte sehr viel besser sein. Wir haben uns als Menschheit kraft unserer freien Willen dazu entschieden, sie so schlecht zu machen. Wir machen, um vielleicht metaphorisch zu sprechen, oder vielleicht auch nicht, den Teufel zum Fürsten dieser Welt. Wir könnten jederzeit umkehren.