Schuldig geht die Welt zugrunde
Nietzsche, Dostojewski, Friedell: Was ich über Schuld alles nicht zu Papier gebracht habe und was dann aber doch. Ein Beitrag zur 7. Blog-Challenge des Wortweibs.
Dies ist ein spontaner Beitrag zur Blog-Challenge des wortgewaltigen Wortweibs zum Thema Schuld.
, ich stehe tief in Deiner Schuld :)Ich hatte große, grandiose, vielleicht sogar größenwahnsinnige Ideen für einen Artikel zu dieser Blog-Challenge. Ich hatte ca. 10 Bücher zusammengesammelt, um daraus einen Teppich aus Schuld und Philosophie und Literatur zu weben.
Ich hätte ein paar gelehrsame und artige Worte über die Ideengeschichte verloren, über den gemeinsamen Nexus vom Kausal- und Schuldbegriff, der eine durchaus nicht uninteressante Bewegung vollführte, die uns irgendwann im Laufe der letzten Jahrhunderte vollständig verwirrt hat, sowohl was Schuld, als auch was Kausalität angeht. Linguistisch hätte ich den Schuldbegriff im rechtlichen Sinne von mindestens drei anderen (psychologisch, philosophisch, theologisch) abgegrenzt.1
Sodann hätte ich drei Schwerpunkte gesetzt, die lose zusammenhängen:
Die Idee des schuldlos Schuldigen in der Tragödie
Die Schuld in Dostojewskis Romanen Böse Geister (a.k.a. Die Dämonen), Verbrechen und Strafe (a.k.a. Schuld und Sühne) und vor allem Die Brüder Karamasow (das nicht umbenannt wurde)
Sowie die Idee einer “Kollektivschuld”, insbesondere der “Kriegsschuld” anhand ausgewählter Beispiele wie dem 1. Weltkrieg oder (sehr gefährlich) den aktuell laufenden Konflikten in der Ukraine, Palästina oder dem Sudan
Zusammengeflossen wäre das Ganze dann wiederum in einer von Nietzsche inspirierten These, dass Schuld nicht so sehr etwas ist, das man hat, sondern vielmehr etwas, das einem im Allgemeinen zu- oder abgesprochen wird, zu dem man sich in Wahrheit aber selbst entschließt, ganz im Sinne des Nietzsche’schen “So habe ich es gewollt”. Was immer geschehen ist, was immer ich getan habe, so habe ich es gewollt.
(Das Gegenteil also vom zaghaften “That is not what I meant at all” des frühen T. S. Eliot.)
(Ich war überzeugt, dass ich diesen Satz Nietzsches schon ungefähr ein halbes Dutzend mal in meinen bisherigen Artikeln benutzt haben müsste. Anscheinend habe ich diesen Satz allerdings bisher nur ein einziges Mal in einer (grandiosen oder größenwahnsinnigen) Fußnote erwähnt (was dann ja immerhin zu Friedrich “Warum ich so gute Bücher schreibe” Nietzsche passt).
Nicht die anderen sind schuldig. Nicht Gott, nicht meine Eltern, nicht die süßen Verführungen und Verlockungen des jeweils anderen (oder gleichen) Geschlechts, nicht die Sinnesfreuden und die materiellen Begehren. Sondern ich. Es gibt ganze Formen von Psychotherapie, die den Patienten allein dadurch heilen wollen, dass er die Verantwortung (laut Agamben ein ursprünglich rein juristischer Begriff) für seine Situation übernimmt. (Und ich nehme an, wenn dies gelingt, ist er tatsächlich geheilt.)
Leider — oder Gott sei Dank — habe ich diesen Text dann nicht geschrieben. Die Gründe sind vielfältig, aber genügt es nicht, zu sagen: So habe ich es gewollt?2
Ich hatte die Möglichkeit dieses Artikels also bereits ad acta gelegt und beschlossen, mich nicht weiter damit zu befassen. Der Turm der Bücher, die lustigerweise größtenteils alle Einbände in Rottönen hatten, die ich für diesen Artikel hätte nutzen wollen, wurde von meiner wunderbaren Frau in einem Akt der gelebten Nächstenliebe von meinem (unserem, aber ich neige zum Besitzergreifen) Schreibtisch in die Büchervitrine zurückgeräumt.
(Und ist nicht jeder Bücherturm ein erneuter Turmbau zu Babel?
machte mich auf den von hier eingeführten japanischen Begriff aufmerksam:Und
machte mich auf Bobby McFerrin aufmerksam, wodurch ich mich fragen musste: Was mache ich hier eigentlich? Das ist Kunst, das ist Leben.Ich verbrachte den gestrigen Tag in der Hauptsache damit, auf Substack rumzudaddeln und viel Bobby McFerrin zu hören. Besonders gut gefiel mir dieses:
Aber das nur am Rande. (Aber die Randnotizen (wie die Fußnoten) sind oft die Interessantesten. Alles Andere ist Mutmaßungsbalast. Und was sollte man einem anderen Menschen denn anderes vermitteln wollen als schlicht Liebe zum Leben, zur Schöpfung und zum Transzendenten? Und diese Liebe finden wir bei Bobby McFerrin fast schon physisch ausgedrückt.) An dieser Stelle könnte man eigentlich auch guten Gewissens aufhören weiterzulesen und einfach gleich kommentieren, wie grandios McFerrin ist!)
Nun las ich aber heute morgen — Und war es ein guter Morgen? Nun ja, der Kaffee war fast alle, aber ich habe alle Reste zu einer Tasse zusammengekratzt bekommen, insofern ein Erfolg, würde ich mal sagen — zwecks persönlicher Erbauung und Ablenkung von der Tatsache, dass ich mich äußerst unerquickt fühlte (ein Problem, mit dem ich seit ca. 22 Jahren kämpfe und das ja auch in der allgemeinen Bevölkerung weit verbreitet ist) — aus einer anderen Perspektive heraus war der Morgen genial, der beste Morgen meines Lebens bisher sozusagen, wie jeder Morgen — aber sagen wir mal, ich wäre zufriedener mit ihm gewesen, wenn ich um 5 Uhr aufgestanden wäre, nicht erst um 7:30 Uhr, aber was soll man machen — jedenfalls las ich ein paar Seiten in Egon Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit, wie man das manchmal so macht.
Gerade erst war es um den Impressionismus und dann um Émile Zola gegangen, ich erwartete also nichts Besonderes. Aber Friedell beliebt zu überraschen — und so ist es auch wirklich überraschend, wie ein insgesamt so kluger Geist ein solch geistreiches Buch mit kurzen durchaus antisemitisch anmutenden Bemerkungen verunstalten konnte, zumal selbst jüdischer Abstammung, aber wahrscheinlich hat er, wie Ludwig Wittgenstein, den Fehler gemacht, sich Otto Weiningers Geschlecht und Charakter zu sehr zu Herzen zu nehmen,3 so wie die Christen sich Paulus’ Ablehnung der Sexualität zu sehr zu Herzen nahmen, aber nobody is perfect, wie es am Ende von Some like it hot heißt, und Friedell war meines Wissens zum Protestantismus konvertiert, über den er (zusammen mit Luther) in seinem Buch allerdings ebenfalls eher herzieht als ihn zu preisen, und witterte ebenfalls wie Luther überall den Antichrist.
So ist nicht nur der Impressionismus “der Farbe gewordene Antichrist”, auch Zolas Maximen sind “Triumphe des Antichrist” (Friedell schreibt dies in den 1920er Jahren):
“‘Historisch’ war überhaupt der ganze Impressionismus in seiner tiefsten Bedeutung und in einem höchsten Sinne: als gespanntester Ausdruck eines großen sterbenden Weltgefühls, als letzte gigantische Etappe in der Krisengeschichte der europäischen Seele. In ihm erreicht der narzistische Großstadtatheismus und amoralische Naturpantheismus der Neuzeit seinen Gipfel. Er ist der Farbe gewordene Antichrist.” (S. 1338)
“Den vier christlichen Evangelien stellte er [Zola] die seinigen gegenüber: … Die modernen Lügengötzen: Fécondité (Darwinismus), Travail (Materialismus), Vérité (Rationalismus), Justice (Sozialethik) sind sämtlich Erfindungen des Satans. … Alles Triumphe des Antichrist! Hier dämmert bereits der intellektuelle Bolschewismus herauf, die letzte Schöpfung des gottverlassenen Westens, mit der er sich selber eine mongolische Geißel, ein neues Hunnengespenst erzeugt hat.”
Woraus man nicht den Schluss ziehen sollte, Friedell habe den Impressionismus oder Zola abgelehnt.4 Friedell war ja kein Schusterphilosoph. Es ist Friedell durchaus zuzutrauen, die Berechtigung in all dem im Weltgeschehen anzuerkennen. Das Antichristliche muss ja seinen notwendigen Platz in diesem Weltschehen haben, andernfalls könnte derselbe ja nicht der Fürst dieser Welt sein, was er aber sein muss. Also wenn man es überhaupt aus dieser Perspektive betrachten will.
Was aber wiederum nur eine Randnotiz ist, denn dann folgt der plötzliche und für mich unerwartete Schwenk zur “Kunst Russlands”, die “vorerst eine andere Richtung” eingeschlagen habe, mit Tolstoi und Dostojewski nämlich, dem Dante und Shakespeare Russlands, wie Friedell sagt.
Und weil Friedell im Folgenden genau die Stelle aus den Brüdern Karamasow zitiert, auf die ich letztlich ursprünglich (xD) auch hinausgewollt hätte, sah ich mich gezwungen, alles stehen und liegen zu lassen, wie es ist, trotz drohender Unordnungs-Katastrophe, und mich diesem einen Gedanken nun doch zu widmen.
“Kinder, ich überlasse euch hiermit euch selbst. Ich hoffe, ihr überlebt und esst nicht zu viele Süßigkeiten, aber auch wenn ihr zu viele Süßigkeiten esst, sei euch verziehen, denn ich muss jetzt diesen Text schreiben.” (Sie haben überlebt.)
Auch gelegentlich der Betrachtung Dostojewskis darf die Rede vom Antichristen nicht fehlen, eingebettet aber diesmal in äußerst scharfsichtige und korrekte Beobachtungen dazu, wie es einem mit Dostojewski geht:
“seine Figuren stehen geheimnisvoll im Leeren, und statt sich der Betrachtung anzubieten, verfolgen sie vielmehr ihrerseits mit quälendem Forscherblick den Betrachter. Und wie jene absinkende Welt [Ostrom] ist auch Dostojewski von den Vorschauern eines großen Untergangs geschüttelt: er ist die ungeheure Posaune eines Endes und eines finsteren unfassbaren Neuen. Dieses Neue aber, das sein Prophetenauge erblickt, ist der Antichrist, und der Antichrist ist die [Russische] Revolution. Seine Bücher sind Apokalypsen und fünfte Evangelien.” (S. 1343)
Es ist schon oft bemerkt worden, in letzter Zeit mit Verve von Jordan B. Peterson, dass Dostojewski, ähnlich wie Nietzsche, die Konsequenzen aus dem Niedergang des Christentums klar vorweg gesehen habe, insbesondere für Russland.5
(Aber wer ist Schuld? Die Deutschen haben mit ihrem Sohn Karl Marx nicht nur die ideologischen Grundlagen gelegt, sie haben auch Lenin nach Russland zurückgebracht, aber das hätten sie ohne den 1. Weltkrieg wohl eher nicht getan, und ist der Marxismus nicht eine notwendige Folge aus dem Manchester-Kapitalismus gewesen? Und so geht es weiter bis zu Adam und Eva.
Aber hat Gott sie nicht so geschaffen, wie sie waren? Und hat Gott nicht auch den Teufel erschaffen, so wie er ist? Ist also nicht vielmehr Er allein an allem Schuld? (Und in gewisser Weise muss man sagen: Gewiss. So hat er es gewollt. Aber vielleicht missverstehen wir schlicht den Begriff Schuld so gründlich, dass wir nur verwirrt sein können, wenn wir darüber reden wollen. Und ist nicht auch Gott an unserer Verwirrung Schuld? (Aber wenn Käp’n Peng Recht hat, sind wir selbst Gott und also auch selbst Schuld. Und verwirrt. Aber das nur am Rande.) “Und nun zur Sache”, um Dostojewski zu zitieren:
Der zentrale Satz Dostojewskis ist für Friedell einer aus den Brüdern Karamasow, den dort der Starez Sossima (eine Art Heiliger Mönch) sagt:
“In Wahrheit ist jeder an allem schuldig, nur wissen es die Menschen nicht. Wüssten sie es aber, so hätten wir gleich das Paradies auf Erden.” (S. 1323)
Einen solchen Satz habe ich trotz gewissenhafter Volltext-Suche im Roman nicht finden können. Der Sache nach ist die Aussage aber schon in den Reden des Starez enthalten:
“Denn wisset, meine Lieben, dass jeder einzelne von uns gewiss Schuld trägt für alle und für alles auf Erden, nicht nur die uns allen gemeinsame Weltschuld, sondern ein jeder persönlich für alle Menschen und jeden einzelnen auf Erden. … Dann erst wäre unser Herz in die Unendliche Liebe eingegangen, die die ganze Welt umfasst und keine Sättigung kennt. Dann würde jeder von uns die Kraft besitzen, die ganze Welt durch die Liebe zu gewinnen und mit seinen Tränen die Sünden abzuwaschen … Jeder wache über sein Herz, jeder beichte vor sich selbst unaufhörlich.” (S. 264f., in der Übersetzung von Swetlana Geier)
Und so geht das weiter und wird auch noch mehrfach wiederholt. Dostojewski hat (wie so viele Schreiber, von denen ich mich selbst ganz gewiss nicht ausnehmen will) einen Hang zur Langatmigkeit — bei aller Liebe und durchaus auch Verehrung, würde ich ihm als Lektor ca. ein Drittel seines Textes rauskürzen, wenn auch vielleicht nicht gerade diese hier zitierte Passage — und insofern sollten wir es Friedell nicht Übel nehmen, wenn er Dostojewski auf einen kurzen, markigen Satz destilliert, auch wenn die Genauigkeit darunter leidet. Er ist eben ein selbsternannter Dilettant, Plagiator und Paradoxeur.
Der Vollständigkeit halber wollen wir noch zwei Aussagen des Starez anführen, die ca. 250 Seiten später von seinem Schüler Aljoscha (dem Protagonisten des Romans) zusammengefasst werden, die eigentlich nicht Teil des Romans im engeren Sinne sind, sondern so etwas wie ein religiöser Traktat, durch den man den Roman aber besser — vielleicht auch überhaupt erst — verstehen kann.6
“Denke stets daran, dass du keines Menschen Richter sein kannst. Denn es kann auf Erden kein Richter über einen Verbrecher richten, bevor dieser Richter nicht erkannt hat, dass er selbst ebensogut ein Verbrecher ist wie der, der vor ihm steht, und dass er an dem Verbrechen des Menschen, der vor ihm steht, vielleicht als erster schuld ist.” (S. 517, m.H.)7
Diese Aussage auf die Konfliktlinien des 21. Jahrhunderts zu übertragen, wird dem Leser nicht schwerfallen. Aber können wir damit leben, dass nicht ganz glasklar wir die Gerechten sind und die anderen die Schuldigen?
Beim Lesen dieser Worte überkommt mich jedesmal ein kalter Schauder, der nicht unangenehm ist, vielmehr als Konfrontation mit etwas wahrhaft Erhabenem gelten darf:
“Wäre ich selbst gerecht, wäre der vor mir Stehende vielleicht kein Verbrecher geworden. Wenn du es vermagst, das Verbrechen des vor dem Gericht deines Herzens stehenden Verbrechers auf dich zu nehmen, so nimm es unverzüglich auf dich und leide statt seiner, ihn aber lass ohne Verurteilung gehen. Selbst wenn das Gesetz dich zu seinem Richter bestellt, selbst dann sollst du, soweit es billig ist, in diesem Geiste handeln, denn dann wird er gehen und selbst ein härteres Urteil über sich sprechen, als es dein richterlicher Spruch ist. Wenn aber dein Bruderkuss ihn ungerührt lässt, wenn er über dich spottend davongeht, so lass dich auch dadurch nicht beirren: Es bedeutet, dass seine Stunde noch nicht gekommen ist, aber sie wird noch kommen; und wenn seine Stunde auch nicht kommen wird, so wird wenn nicht er selbst, doch ein anderer an seiner Stelle das Leid auf sich nehmen, das Urteil über sich fällen, die Schuld anerkennen, und der Gerechtigkeit ist Genüge getan. Glaube an ihn, glaube an ihn unverbrüchlich, denn das ist die ganze Zuversicht und der ganze Glaube der Heiligen.” (S. 518)
Mir scheint dies — als Dilettant freilich — die Essenz des Christentums sehr gut auszudrücken. Wie es sein sollte, freilich, nicht, wie es sich historisch entwickelt hat. Worauf Dostojewski ebenfalls in Die Brüder Karamasow mit seiner Iwan zugeschriebenen großartigen Parabel vom Großinquisitor eingeht. (Was für ein herrliches Buch, ich würde es am liebsten gleich noch einmal lesen, aber die Zeit, die bleibt, ist begrenzt.)
Aber einen Absatz lang, lasst mich daran erinnern, dass der große, der gigantische, muss man eigentlich sagen, Ivan Illich, die Worte des Großinquisitors zu hören bekam: “Geht und kommt niemals wieder!”, als er mit der Kirche “brach”. “Niemals, niemals!”
Dieser Artikel riskiert, zu lang zu werden. Habe ich mich verzettelt? Warum sollte man überhaupt diesen Artikel weiter lesen, wenn man doch jetzt wahlweise zu Dostojewski oder zu Illich greifen könnte? Warum sollte man essen oder schlafen, wenn man zu Dostojewski oder Illich greifen könnte? Oder zu Roberto Bolaño.
(Und ich erinnere mich an einen Ausspruch, dessen Autor ich vergessen habe (gelesen habe ich ihn bei Heinz Grill, aber ich glaube, er zitierte da jemanden), dass es durchaus vertretbar sei, einen Tag ohne Essen und ohne Schlafen zu verbringen, ein Tag ohne Meditation sei aber wahrhaft vergeudet. (Aber wie viele Tage ohne Meditation habe ich hochmütig vergeudet? (Und ist nicht auch die Vergeudung Teil der Glorie? (Verschwendung ist Diebstahl, der Neoliberalismus (Aus seiner Fülle haben wir ja empfangen Gnade um Gnade (der Johannesprolog).).)))) (Habe ich nun alle Klammern korrekt wieder geschlossen?)
Syntaktisch vielleicht (wer weiß, wer weiß?), aber es bleibt noch die Klammer mit Friedell zu schließen, was er nämlich dann eigentlich über Dostojewski sagt.
Der Christus nämlich, habe sich ja nicht ohne Grund zu den Ausgestoßenen hingezogen gefühlt, “die Ehebrecherin, die müßige Maria, die sündige Magdalena, die unreine Samariterin zu seinen Lieblingen erhoben.” So auch Dostojewski zum Verbrecher im Allgemeinen. Denn dieser, der Verbrecher, stehe Gott näher, “weil er einen größeren Teil der menschlichen Gesamtschuld auf sich genommen hat:
“In der einzigartigen Rechtfertigungslehre Dostojewskis ist also das Verbrechen eine Art Opfer und das Böse sozusagen nur eine Dimension des Guten. Die gemeinsame Wurzel beider aber ist die christliche Freiheit, die Wahlfreiheit zwischen Gut und Böse, die christliche Erkenntnis. Diese ist das höchste Geschenk der göttlichen Gnade und das sicherste Unterpfand der Erlösung. Denn das Gute kann nur erkennen, wer auch das Böse erkannt hat; in der Existenz des Bösen liegt die Gewissheit des Guten. In der christlichen Freiheit ruht die wahre Theodizee.” (S. 1343)
Wenn wir dies verstehen, dann können wir auch beginnen zu begreifen, wie töricht der allgemeine Schuldbegriff ist, wie töricht die überkommenen Ideen von Strafe, Vergeltung, Rache und dergleichen.
Zur Rettung der Seele sind wir berufen. So sehr ich meine Feinde auch hassen und verachten mag. Eigentlich hasse ich in ihnen mich selbst. Ich verachte in ihnen mich selbst. Eines schönen Tages werden wir auch ihn retten. Oder anders herum.
(Aber im Spiel der Dualitäten bleibt er mein Feind und ich kämpfe selbstverständlich ohne Bandagen gegen ihn. Im Idealfall ohne Hass und Verachtung.)
CODA
Jeder gute Text braucht eine Coda, und auch wenn ich mir nicht anmaße, zu behaupten, dieser Text sei gut, so will er dieses Prädikat ja doch erringen.
Ich hatte kürzlich Gelegenheit, üppig mit dem unvergleichlichen
über die Hölle zu diskutieren. (Es spielt für das Nachvollziehen all dieser Gedanken im Übrigen überhaupt keine Rolle, ob man die christliche Metaphysik teilt oder nicht. Das alles lässt sich problemlos in jeden beliebigen anderen Kontext, auch einen atheistischen, übersetzen.)Dostojewski lässt seinen Starez auch über die Hölle sinnieren, diese sei nämlich “das Leiden daran, dass man nicht mehr lieben kann”, also im Grunde etwas dem Menschen nicht Äußerliches, sondern seine innere Verfasstheit. In diesem Kontext kommt der Starez auch auf die Selbstmörder zu sprechen, für die man ja nicht beten dürfe, so schrecklich sei ihre Sünde, er gestehe hiermit aber, dass er auch immer für die Selbstmörder gebetet habe. “Der Liebe wird Christus nicht zürnen.”
Ich denke nun, wenn man diese hier zusammengefassten Aussagen Dostojewskis zusammendenkt, dann wird man nach und nach dazu kommen, zu sehen, dass all diese Ideen eigentlich nicht zusammenpassen, weil ein bestimmtes Puzzle-Teil fehlt. Und das, was fehlt, ist eine Lehre von Karma und Reinkarnation.
Die Hölle als Ort ewiger Verdammnis wäre sinnlos. Die Aussagen des Evangeliums sind voll davon, dass der gute Vater sich gerade über den Sünder, der umkehrt, besonders freut. Warum also, sollte er dem Menschen ein kurzes Leben geben und davon dann den Rest der Ewigkeit abhängig machen? Zumal die Karten, die wir ausgeteilt kriegen, doch durchaus nicht vergleichbar geeignet dazu sind, die Herrlichkeit zu erlangen. Man könnte zum Beispiel in “die falsche Religion” hineingeboren sein.
Wir müssen uns die Hölle mehr als eine Art Fegefeuer vorstellen, einen Läuterungsprozess, der uns weiterhin dorthin führen will, wo wir eigentlich auch selbst hinwollen: zu Gott. Und Gott, oder den Himmel, könnten wir uns dann als einen “Ort” vorstellen, oder einen Zustand — dieses Bild übernehme ich von Peterson —, in dem schon alles sehr, sehr gut ist, und alle aber weiter daran arbeiten, es noch besser zu machen. Und das Leben auf Erden ist dann als integraler Bestandteil des Lebens im Geistigen zu sehen.
Ich denke, die hermeneutisch aufgeschlossene Lektüre des Neuen Testaments (zu der beispielsweise Rudolf Steiner oder auch Yogananda anleiten) lässt diese Denkweise durchaus zu und nur die überkommene Tradition, die einen anderen Weg ging, der aber nachweislich ziemlich unchristliche Auswüchse beförderte, setzt uns gewissermaßen Scheuklappen auf, sodass wir nicht sehen, was direkt vor unseren Augen liegt.
Natürlich weiß ich nicht, ob auch nur einer der hier geäußerten Gedanken stimmt. Ich könnte mich auch teuflisch irren :) Lasst es mich gerne wissen.
Ein Fragment davon ist erhalten geblieben. Ich teile es hier gerne in seiner ganzen Bedürftigkeit:
Der Begriff in seinen verschiedenen Dimensionen. (Die Seelenübung.)
Der rechtliche Schuldbegriff interessiert sich nicht dafür, ob der Betroffene sich schuldig fühlt. Der psychologische nicht dafür, ob er es ist. Der philosophische interessiert sich vor allem dafür, was Schuld ist, während der christlich-theologische weiß, dass jeder Mensch schuldig ist, und sich dann aber an der Frage ausdifferenziert, was die Erbsünde, die wir kollektiv verantworten, von der individuellen Sünde unterscheidet.
Ursprünglich waren diese verschiedenen Begrifflichkeiten wohl nicht so ausdifferenziert. Der theologische Schuldbegriff hatte die Schirmherrschaft inne, sekundiert von seinem Gehilfen, der Philosophie. Recht und Psychologie leiteten sich daraus ab. Das Auseinanderfallen dieses einen komplexen Begriffes in viele, und das Wegstreichen des obersten, des theologischen, Aspektes, beraubt in der Neuzeit den Schuldbegriff seiner Legitimität. Wie alle Veränderungen hat dies sowohl positive als auch negative Auswirkungen, und es lässt sich nicht mit Gewissheit sagen, was überwiegt.
Nach dem modernen naturalistischen Menschenbild ist der Mensch sowieso nie Schuld an irgendetwas, weil er keine Freiheit hat, und mithin nicht anders konnte, als er tat. Seine Schuldgefühle basierten auf einem Irrtum, sein Rechtsempfinden auf einer Einbildung. Wer sich nicht an Recht und Ordnung hält, müsse zwar “verwahrt” werden, damit die Gesellschaft stabil funktioniert, dies sei aber nicht als Strafe zu konzeptualisieren, sondern im Gegenteil müsse die Gesellschaft bemüht sein, es dem “Gefangenen”/”Verwahrten” angenehm zu machen.
Psychologisch gewendet hat dies die Konsequenz, dass du einerseits selbst an nichts Schuld bist, die anderen aber auch nicht. Du bist dann weder Opfer, noch Täter, sondern die Naturkausalität fließt schließt durch euch beide durch und es geschieht, was nun einmal geschehen musste, was schon immer feststand.
An dieser Stelle können wir nun aber philosophisch ins Stolpern geraten. Denn der Begriff der Kausalität, den wir gerade mit dem Naturalisten ganz naiv für selbsterklärend hielten und verwendeten, verweist seinerseits in seiner Genese wieder auf die Schuld zurück. Denn der ursprüngliche Begriff der Ursache, griechisch aitia, bedeutet Schuld. Was im Laufe der letzten 3000 Jahre geschehen ist, ist im Groben Folgendes:
Der Mensch betrachtet die Natur analog zu sich selbst: Sie handelt und sie trägt die Schuld für das, was passiert. Wenn es stürmt, wenn der Regen ausbleibt, wenn der Vulkan ausbricht, wenn die wilden Tiere kommen, wenn Krankheiten ausbrechen, etc. — all das ist verursacht, oft indirekt vom Menschen selbst durch sein (Fehl-)Verhalten, und direkt dann aber von der Natur (die in Form von Naturgeistern, Göttern, Dämonen, Engeln, etc. vorgestellt wird).
Die beiden Begrifflichkeiten trennen sich voneinander. Der Mensch differenziert sich selbst aus im Reich der normativen Gesetzmäßigkeiten, die Natur im Reich der Naturgesetzmäßigkeiten. Aus Aristoteles’ vier Arten von Kausalität, die noch sehr den menschlichen (oder einen übermenschlichen) Geist ins Zentrum stellen, sieht der Mensch bei sich selbst immer mehr die Form- und die Final-Ursache; bei der Natur die Materie- und die Wirk-Ursache. Mit anderen Worten, der Mensch formt die vorgefundene Natur nach seinen Vorstellungen (Form-Ursache) und verfolt dabei Zwecke (Final-Ursache). Die Natur hingegen bietet lediglich das Material (Materie), und in ihr wirken die Dinge ohne Zweck einfach nach den Naturgesetzmäßigkeiten.
Dem Menschen fällt dieser Dualismus zwischen sich und dem Rest der Welt auf und in der frühen Neuzeit wird dies zum definierenden philosophischen Problem. Die im 19. Jahrhundert dominant werdende Lösung lautet, dass der Mensch in das Reich der Natur hineingenommen gehört, und dass er also auch eigentlich lediglich Materie ist, die nach Naturgesetzmäßigkeiten funktioniert, die etwas kompliziert sind, weshalb das Sprechen von Form- und Final-Ursachen, also Vorstellungen und Zwecken, als abkürzende, heuristische Sprechweise weiterhin akzeptabel bleibt, aber im Hinterkopf müsse der gebildete Mensch behalten, dass er streng genommen sein gesamtes Handeln allein aus Naturkausalität erklären könne.
Die Bewegung ist, zusammengefasst also die, dass wir erst die Natur anhand von uns selbst konzeptualisieren, dieses Konzept vereinfachen, und dann versuchen, uns selbst anhand dieses abgeleiteten Konzeptes zu begreifen.
In einem früheren Artikel habe ich schon einmal versucht, in aller Kürze auszuführen, warum dieses Projekt meiner Meinung nach notwendigerweise scheitern muss, und dass es selbst, wenn es nicht scheiterte, in einen Nihilismus mündet, weil nur eine Weltsicht, die Normativität, also Werte, ontologisch verankert (also als real betrachtet), überhaupt von Wahrheit, Gutheit und Schönheit sprechen darf. Und jede Weltsicht, die davon nicht mehr sprechen will, sich nicht nur in Widersprüchen verstrickt, sondern darüber hinaus keinen Grund angeben kann, warum man überhaupt irgendwie handeln sollte und nicht anders. Dann wäre alles egal. Vollkommen egal.
Wir spüren, dass dem nicht so ist. Und darum werden wir die Schuld auch nicht los. Wir sind schuldig, weil wir in der Welt verursachen. Das heißt nicht, dass unser westliches Verständnis von Schuld korrekt wäre. Die östlichen Weisheitslehren haben mit dem Karma-Begriff eine Vorstellung von Ursache und Wirkung, von Schuld und Sühne, entwickelt, bei dem es streng genommen nicht um Strafe geht, sondern um die Möglichkeit des Ausgleichs. Die westliche Vorstellung von Schuld, die mit der Erbsünde zusammenhängt und mit der Idee der ewigen Verdammnis in der Hölle eine unheilige Ehe einging, missversteht sowohl den Begriff der Schuld auch den der Barmherzigkeit. Auch wenn viele Menschen die Vorstellungen einer Hölle und einer Erbsünde hinter sich gelassen haben, bleibt ihr Verständnis von Schuld davon kontaminiert. (Wir leben in unseren Begriffen immer noch mehr als Christen dieser speziellen westlichen Tradition als uns bewusst ist.)
Oder wie der Vulgär-Poet Horn von ballz.de (später tooncraft.de) es ausdrückte, “Mein Geist war willig, aber mein Gewissen hat lieber etwas arschgefickt.” Und in einem unheimlichen Fall von Synchronizität textete Sido zur gleichen Zeit: “Mein Gewissen hab’ ich längst ausgeschissen.”
Warum diese Vulgaritäten zitieren, Herr Knittel? Nun, zunächst einmal baut es innerpsychische Spannungen in mir ab. Meine Faszination für solche Syntagmen hängt aber vielleicht auch mit meinem Glauben zusammen, dass der Christus in allem verborgen ist und wirkt, also auch dort, wo es hässlich wird. Auch das Hässliche kann man zum Inhalt seiner Betrachtung, zum Objekt seiner Meditation machen, und vielleicht ist dies sogar die gelungenere Übung, als wenn man etwas Schönes wählt. (Es gibt die Legende über Jesus, die von Rudolf Steiner gelegentlich angeführt wurde, nach der selbiger mit seinen Jüngern auf einen toten, verfaulenden Hundekadaver traf und sie ihren Ekel äußerten, und er, der Christus, aber auf die Schönheit der Zähne des toten Hundes hinwies.)
Noch in seinen späteren Jahren verschenkte Wittgenstein Ausgaben von Geschlecht und Charakter an Freunde mit dem Hinweis, die Thesen des Autors seien zwar falsch, aber auf eine so interessante Art und Weise falsch, dass es die Lektüre dennoch lohne. Ich wäre gespannt, wie sich dieses Buch heute liest. Ich nehme an, es wäre eine etwas quälende Lektüre.
Kurz zuvor hat er den Impressionisten bescheinigt, die ersten gewesen zu sein (in der Landschaftsmalerei), die “immer entschlossen [waren], lieber die Schönheit zu opfern als die Wahrheit. Und eben dadurch entdeckten sie eine neue Schönheit.” (S. 1335)
Dies habe ich schon einmal in einer Antwort auf einen Kommentar skizziert:
Meiner bescheidenen Ansicht nach stellt Dostojewski, wahrscheinlich unbewusst, in den drei Brüdern Dimitri, Iwan und Aljoscha die drei Glieder des Seelenlebens dar. In Dimitiri den unbeherrschten Willen, in Iwan den kalten Intellekt und in Aljoscha das alles auslotende und in Einklang bringende, demütige Empfindungsleben, die Herzmitte. Insofern ist es kein Zufall, dass die beiden älteren Brüder in der Spannung leben müssen, dass sie ganz unbedingt Aljoscha brauchen und ihn gleichzeitig auf eine gewisse Art belächeln. Inwiefern Aljoscha selbst unvollkommen ist und seine Brüder, den Willen und das Denken, benötigt, wäre eine interessante Frage für einen kleinen Essay…
Was uns an Franz von Assisis Haltung erinnern darf, die ich einmal erwähnte, dass gerade der Heilige sich als besonders verwerflich empfindet. Was ihn freilich nicht dazu berechtigt, sich in Selbstmitleid zu ergehen. Andersherum macht es uns auch nicht heilig, uns zu geißeln, sondern höchstens hochmütig.
Als Slavistin berührt mich, wie stark Dostojewskis Denken in den großen russischen Traditionsstrom hineinragt. Die Idee der allumfassenden Schuld die nicht als moralisches Urteil, sondern als existentielle Verstrickung verstanden werden muss zieht sich durch die Literatur. Denn Russland hat sich selbst immer wieder im Spiegel seiner Schuld erfunden, also zwischen Heiligen und Nihilisten und damit zwischen Iwan Karamasow und dem Starez Sossima. Interessant wäre es diese Gedanken stärker mit Karma und Reinkarnation zu verweben. Was Dostojewski als Schwere beschreibt, könnte im anthroposophischen Sinn als Entwicklungsaufgabe gelesen werden. Ein über viele Leben hinweg ausgetragenes Ringen. Dann wird Schuld nicht zum Stillstand, sondern zu einem bewegenden Impuls, der im anthroposophische Sinne Biografien und ganze Epochen vorantreibt. Darin könnte eine mögliche Brücke liegen. Dostojewskis Russland, das untergeht und im Untergang das Absolute sucht vs Steiners Impuls, Schuld nicht als Verhängnis, sondern als Aufgabe zu begreifen, die immer wieder neu aufgenommen werden kann.
Lieber Conrad ich liebe es, wie du einen geistigen Brocken eigensinnig prozessual und irgendwie “respektlos” in einem positiven Sinne, meint frei von Berührungsvorbehalten, ein- und aus- und umspinnst, bis ein lebendiges Gebilde aus tonnenschwerem Material entstanden ist. Love it!
Das Thema “Schuld” ist mir persönlich kein einziges Wort mehr wert, da es die Hölle, die Schuld und der Egoismus nicht mehr in mein Lebenskonzept hinein geshafft haben. Diese Konstrukte tun nichts für mich - nichts Gutes, nichts Wahres und schon gar nicht etwas Schönes. Ich schreibe allerdings an einem Essay über die Unschuld, was dann leider teilweise etwas inkonsequent zu meiner jetzigen geistigen Landschaft steht :-) .
Doch dir dabei zuzuschauen, wie du dieses Material verarbeitest und es fast spielerisch, ganz wunderbar subjektiv aufarbeitetst und Nähe herstellst - das begeistert mich. Vielen Dank dafür! Ich nehme immer wieder bei dir Inspiration mit.
Als Musiktipp kann ich dir folgende senden:
https://www.youtube.com/watch?v=70xjN5gVt-g&list=RD70xjN5gVt-g&start_radio=1&t=71s
https://www.youtube.com/watch?v=yjwcAwZjoR0