»Raum zum Atmen.«
Von der Bildungsmisere zu anfänglichem Nachdenken über eine mögliche Pädagogik der Zukunft (Spoiler: Es wird auch keine Militär-Utopie!) - Teil 2/X
Im ersten Teil dieser Artikel-Reihe hatte ich begonnen, mich mit Alex Beards Wie Kinder gerne lernen: Internationale Konzepte für eine Schule der Zukunft (2019) auseinanderzusetzen. Dort ging es bezüglich des ersten Teils seines Buches unter dem Schlagwort “Neu denken” um die Auseinandersetzung mit falschen Vorstellungen bezüglich der Bildung im 21. Jahrhundert.
Diesmal widme ich mich seinem zweiten Teil: “Es besser machen”. Darin geht Beard vor allem der Frage nach, wie wir, Bildung als meisterliches Handwerk begreifend, die Kreativität unserer Schüler am Leben erhalten können, statt sie zu ersticken, und was den guten Lehrer und den guten Unterricht ausmacht.
(Spoiler: Es gibt keinen Königsweg.)
4. Einfach loslegen: Gute Bildung von Anfang an
Es gilt als allgemein anerkannt, dass unsere gesellschaftlichen Systeme einem so raschen Wandel unterlegen sind, dass wir bei Schulkindern nicht wissen, für welche Jobs wir sie eigentlich ausbilden, weil nicht klar ist, welche neuen Jobs es in zehn Jahren geben und welche alten es nicht mehr geben wird.
Was aber klar ist: Die Anforderungen steigen stetig an, weil immer mehr niedrig-qualifizierte Jobs automatisierbar werden. Beard formuliert hier die Idee, »das Ideal des Handwerks in den Mittelpunkt unseres Lernstrebens [zu] stellen« (S. 145) — ohne bereits explizit zu machen, was er genau damit meint.
Aber es muss etwas mit »lebenslangem Lernen« zu tun haben, also der Idee, dass das Lernen nicht irgendwann abgeschlossen ist und dann das Arbeiten kommt, sondern dass beides Hand in Hand gehen sollte.
Die Antwort ist 42
Die tragende Institution für die in diesem Kapitel entwickelten Gedanken ist die französische IT-Hochschule 42 — eine selbstorganisierte Akademie mit Cyberpunk-Flair, die (auch aufgrund finanzstarker Geldgeber) für die Studenten kostenlos ist. Verwaltet wird sie von einem Algorithmus namens Intra:
»Intra war sozusagen das Skynet von 42. Es initiierte Projekte für die Studenten, sorgte dafür, dass sie bei der Sache blieben, und hielt sie zur Zusammenarbeit an — genau wie im realen Arbeitsleben. Ich hoffte nur, dass es nicht irgendwann ausbrechen und die Weltherrschaft übernehmen würde.« (S. 147)
Intra ersetzt in Zusammenarbeit mit den Studenten die Lehrer und einen Großteil der Verwaltung. Weil es hier darum geht, Programmieren zu lernen, gibt es keine Vorlesungen, sondern ausschließlich Programmier-Projekte, die aufeinander aufbauen und zu denen man erst Zugang erhält, wenn man vorhergehende, leichtere Herausforderungen gemeistert hat. Es gibt 21 Levels.
Und: »Alle Absolventen von 42 befinden sich in gut bezahlten Jobs in der IT-Branche.« (S. 148)
Learning by Doing
Beard hält den Ansatz für auf andere Fächer verallgemeinerbar:
»Man könnte aufstrebende Fachleute unterschiedlichen Alters zusammenbringen, ihnen praxisbezogene Aufgaben mit wachsendem Schwierigkeitsgrad stellen, sie dazu anhalten, sich wechselseitig zu bewerten, et voilà, schon war alles am Laufen.« (S. 152)
Ich nehme an, in Teilen stimmt dies sicherlich. Aber nicht alle Berufe sind so leicht learning by doing-bar wie Programmieren. Zudem hat Informatik den Vorteil, dass die Studenten an ihrer Selbstverwaltungs-Software aktiv teilnehmen können, weil sie ihr métier ist, anders wäre dies bei Krankenpflegern oder Psychiatern, die zudem echte Menschen als Probanden bräuchten.
Zudem funktioniert 42 unter anderem deshalb, weil die Studenten Feuer und Flamme für das sind, was sie dort tun: programmieren. (Andernfalls werden sie keine Absolventen, sondern Abbrecher.)
Viele Kinder wissen aber überhaupt nicht, wofür sie Feuer und Flamme wären, denn sie kennen die Arbeitswelt ja nicht. Ihre Einblicke reichen meistens nicht über Schule und die Berufe der Eltern hinaus, wobei selbst letztere oft nur mit vagen Vorstellungen verbunden bleiben. Könnte und müsste man nicht mehr die Kinder in die Arbeitswelt schicken oder die Arbeitswelt in die Schulen?
Wozu das alles?
Was aber sicherlich ein kluger und verallgemeinerbarer Ansatz auch für Schulen ist, ist den Ehrgeiz der Schüler dadurch zu wecken, dass am Ende ihres harten Arbeitens etwas Präsentierbares steht, auf das sie stolz sein können und für das sie kreativ werden mussten. Denn heutzutage brauchen wir Kreative, die komplex und klar denken können, wie weiter oben schon ausgeführt.
»Das traditionelle Schulsystem«, sagt der Gründer von 42, »besteht zu wesentlichen Teilen darin, Menschen zu disziplinieren und ihrer Kreativität zu berauben.« (S. 171) Dies sei der früheren Arbeitswelt auch angemessen gewesen, denn dort benötigte man »in großem Umfang Arbeitskräfte«, »die sich dem Alltagstrott ergaben und nicht aus der Reihe tanzen.«
Heute wäre es aber Aufgabe eines modernen Bildungssystems, zu verhindern, dass sich Kinder einem Alltagstrott ergeben und nicht aus der Reihe tanzen, aber auch nichts mehr lernen. Heutzutage ginge es darum, »den Wunsch zum Lernen zu fördern und dann zu verhindern, dass dieser durch das System abgetötet wird. Darüber hinaus muss man einfach nur noch Möglichkeiten bieten.« (S. 171)
Was natürlich dann doch nicht ganz so einfach ist, wie es hinzuschreiben.
Zudem stellt sich die Frage, ob unser gesellschaftliches System diesbezüglich nicht doch in einer kognitiven Dissonanz gefangen ist: Zwar will man, dass die arbeitende Bevölkerung ihre Jobs auf kreative Weise erledigt und innovativ und flexibel ist, in allen anderen Bereichen sollen sie aber brave Konsumenten sein, die nicht aus der Reihe tanzen, sondern sich dem Entertainment-Alltagstrott hingeben. Andernfalls könnten sie ja auf politisch gefährliche Ideen kommen…
5. Schöpferisches Tun: Termin bei deinem Schöpfer
Beard besucht Schulen, die Kreativität besonders in den Vordergrund rücken:
die Wild Rose Montessori School, »wo die Lehrer sich bemühten, die Kinder so arbeiten zu lassen, als ob gar keine Lehrer anwesend wären« (S. 178); diese sei «wichtigstes Projekt« des MIT Media Lab, dem »modernen Mekka des kreativen Lernens«
die Hiidenkiven Peruskoulu in Finnland, »eine der innovativsten Schulen weltweit« (S. 188)
die »School 21« in London, »zukunftsgewandt, beruft sich im Kern jedoch auf das eher traditionelle Konzept der Handwerkskunst« (S. 200)
Was beobachtet und lernt er dort, was kriegt er erzählt?
Montessori für die Reichen
Die Montessoripädagogik, zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einer innovativen Italienerin begründet, basiert auf der Idee, das Kind zu befähigen, sich die Dinge selbst anzueignen und insofern »Baumeister seines Selbst«, anstatt von außen überformt zu werden: »Hilf mir, es selbst zu tun!« sei eigentlich die stumme Aufforderung des Kindes an den Pädagogen. Dieser müsse vor allem gut beobachten und begleiten, und vieles einfach laufen lassen.
Zur »kreativen Elite«, die Montessorischulen besucht haben, gehören laut Beard so illustre Namen wie »Beyoncé, Sergei Brin und Larry Page von Google, Wikipedia-Gründer Jimmy Wales und Amazon-Chef Jeff Bezos« — »In diesen Schulen lernten Kinder, schöpferisch tätig zu sein.« (S. 180)
Was man aus der Liste der Namen schlussfolgern könnte, aber natürlich nicht muss, ist, dass dieses schöpferische Tätigsein Gefahr läuft, die Sozialfähigkeit der Person zu unterminieren. Aristotelisch gedacht könnte man meinen, dass es ein rechtes Maß, oder die richtige Synthese, aus schöpferischer Tätigkeit, die zu Egozentrismus neigt, und sozialfähigem Zusammenwirken geben müsste. Es ist nur dann wünschenswert, dass die Menschen sich die Welt unterwerfen, wenn dies zugleich bedeutet, dass sie ihr Diener sein wollen.
Beard entgeht auch nicht die Ironie, dass Maria Montessori mit »den ärmsten Kindern Roms« gearbeitet habe, aber die Wildflower Schulen könnten sich nur gutbetuchte Eltern leisten, »die jährlich Zehntausende Dollar dafür aufzubringen« in der Lage waren (S. 182). Das sind auch die Eltern, die Himmel und Hölle in Bewegung setzen können, um Bildungslücken ihrer Kinder privat zu füllen und die sich experimentelle Pädagogik deshalb gleich doppelt leisten können.
Interventionsfreie deliberative Praxis
Aber Beard sucht — wie ich — natürlich nach der Pädagogik der Zukunft für alle.
Und dass dabei die natürliche Kreativität der Kinder erhalten bleiben sollte, statt erstickt zu werden, ist ein Gedanke, der bei Montessori im Vordergrund steht. Die Forschung nennt es »interventionsfreie Lehrmethoden«.
Die Forschung geht heute davon aus, so Beard weiter, dass wir etwas nur gut beherrschen lernen können, wenn wir es lange und ausdauernd — und auf die richtige Art, Stichwort: deliberate practice — üben. Aber um dies durchzuhalten, müssen wir Feuer und Flamme sein. Und wofür wir wirklich brennen können, das können wir am besten herausfinden, wenn wir frei experimentieren dürfen.
Exkurs: Eine kleine Magic: the Gathering-Analogie
Viele junge Spieler begeistern sich für die Farbe grün, weil sie große Kreaturen hat. Ich selbst begeisterte mich, wie kürzlich geschildert, für rot, weil ich in der Farbe die erste Kombo meiner Magic-Karriere kennengelernt hatte. Ich ging in den Laden und wollte ein rotes Deck. Es gab aber nur ein rot-schwarzes. Also nahm ich das. Es stammte aus der Edition Urza’s Legacy, obwohl zu dem Zeitpunkt bereits Merkadische Masken erschienen war, und enthielt einige phyrexianische Kreaturen.
Nebenbei bemerkt, für die Uneingeweihten, die ursprüngliche Hintergrund-Story von Magic, die sich um die Brüder Urza und Mishra dreht und auf dem Planeten Dominaria spielt, ist genial — leider endete mit der Ära des alten Designs — irgendwie passend — auch dieser Story-Arc und mittlerweile spielt das Spiel in einem Multiversum, indem auch Herr der Ringe und andere Rollenspiel-Welten Platz haben. (Ich will mich darüber nicht beschweren, wenn’s am schönsten ist, soll man aufhören, oder so ähnlich…)
Aber wo war ich stehen geblieben? Ach ja, kurz darauf begann ich mich für Reanimator-Decks zu interessieren, weil diese schon nach wenigen Spielzügen riesige Kreaturen aus dem Friedhof (dem Ablagestapel) ins Spiel zurückbringen können. Nach und nach wurde mir jedoch klar, dass ich eigentlich viel lieber die Farben weiß und blau spielte, bzw. noch später, dass ich am liebsten fünf-farbige Decks spielte und einfarbige Decks mich langweilten.
Womit ich nur illustrieren will, wie gut es ist, wenn man ganz nach Gutdünken experimentieren kann und nicht auf die ursprüngliche Wahl (ich spiele rot-schwarz) festgelegt ist.
Rhythmus vs. Robotik
Zurück zum Thema Brennen. Ein Feuer erlischt, wenn es kein neues Material kriegt. Das heißt, die Begeisterung bleibt nicht wach, wenn wir bspw. immer nur hart und diszipliniert üben. Wir müssen zwischendurch auch auftreten dürfen, jammen, Frauen beeindrucken, oder Kollegen, etc.
Beard erinnert an Einsteins Diktum, »dass die berühmtesten Wissenschaftler immer auch Künstler sind.« (S. 186) Nobelpreisträger seien »nicht selten« Universalgelehrte oder zumindest schauspielerisch, schriftstellerisch, musikalisch oder sonstwie kreativ tätig. Aus übermäßig gedrillten Kindern würden hingegen »bestenfalls … ambitionierte Roboter.»
»Wir bereiten Kinder unaufhörlich auf wichtige Prüfungen vor und rauben ihnen die Zeit zum Spielen. Daran muss sich etwas ändern.« (S. 187)
Freilandhaltung in Finnland
Ein Land, dass dies besser machte als die meisten anderen, sei Finnland. Statt »Kinder wie Hühner in Legebatterien ein[zu]pferchen, setzten die Finnen schon immer auf Freilandhaltung.« (S. 187)
Beim ersten PISA-Test vor mittlerweile einem Vierteljahrhundert hatten die Finnen (überraschend) den ersten Platz belegt. (Inzwischen sind die Leistungen schlechter geworden, was allerdings von Bildungsforschern auf die unzureichende Integration in der Bildung von Migranten zurückgeführt wird.
Es ist ja auch vollkommen naheliegend und wenig überraschend, dass mehr Schüler, die Nicht-Muttersprachler sind, schlechtere Leseleistungen bedeutet, die sich dann selbstverständlich auch auf alles andere auswirken. (Ich habe mal an einer Hauptschule Mathe unterrichtet. Die Schüler konnten eigentlich ganz gut Mathe. Sie hatten aber größte Mühe, die gestellten Textaufgaben korrekt zu verstehen.)
Jedenfalls habe Finnland als Land des »Individualismus« die Auffassung, weniger sei mehr: Eingeschult werden die Kinder mit 7, bis 16 lernen alle an der Einheitsschule, der Unterricht geht von 9 bis 14 Uhr. Ein Lehrer begleitet eine Klasse typischerweise über sechs Jahre!
(Wobei sich mir nicht erschließt, inwiefern diese Einheitlichkeit den Individualismus unterstreichen sollte, außer Beard meint so etwas wie Gary Snyder, wenn dieser sagt, dass im Zen-Kloster zwar alle gleich angezogen sind und den gleichen Tagesablauf haben, in der Meditation selbst sei aber jeder ein freies Individuum, während die Westler typischerweise genau andersherum innerlich unheimlich gleich seien, auch wenn sie sich nach außen unterschiedlich gerieren. Vielleicht meint Beard das.)
Kreativität = Wille zum Handeln
Beard interviewt einen Typen namens Saku Tuominen, der »die personifizierte finnische Kreativität« darstelle, TV-Manager, Autor von 10 Büchern (3 über die italienische Küche, 7 über Kreativität), und jetzt Chef von HundrED, einem Projekt, das »die hundert führenden Innovationen im finnischen Bildungswesen aufspüren« will, um »sie dem Land und der Welt zu schenken.« (S. 190) Nun ja, ein unverwüstliches Selbstbewusstsein kann man ihm sicherlich attestieren.
Tuominen zufolge müssten wir uns die Pädagogik der Zukunft als Dreieck denken, dessen Ecken aus »Allgemeinbildung«, »Denkfähigkeit« und »Handlungskompetenz« bestünden. Traditionell würde die Handlungskompetenz vernachlässigt, aber genau bei dieser fange Kreativität erst an, denn diese sei schlicht »der Wille, etwas zu verbessern« (S. 191).
Es falle den modernen System auch schwer, diese Dimension ernst zu nehmen, weil sie nicht leicht, mithin vielleicht auch gar nicht, messbar sei. (Und dass der Bildungs- wie auch allgemein der Wissenschaftler im 21. Jahrhundert noch lieber alles messen will als schon im 19. Jahrhundert, ist bekannt und haben wir schon einmal näher beleuchtet.
Kreativität = Bereitschaft zu Scheitern
Handlungskompetenz hieße vor allem, scheitern zu lernen. Wir versuchen etwas, es misslingt. Wir versuchen es wieder, es misslingt. Wie lange braucht ein kleines Kind, bis es beim Stehen und Gehen nicht mehr umfällt? Lässt es sich entmutigen?
(Nein, aber es ist natürlich auch noch von höheren Weisheiten geführt. Diese ziehen sich spätestens im zweiten Lebensjahrsiebt zunehmend zurück, insofern bliebe es dem Pädagogen und den Eltern überlassen, weisheitsvoll zu führen, aber wer kann das schon?)
»›Handeln ist eine wunderbare Art des Denkens‹, erklärte Tuominen. Dies gilt jedoch nur, wenn wir bereit sind, das Scheitern in Kauf zu nehmen und zu überwinden.
›Probleme sind nie etwas Schlechtes. Sie sind großartig. Auch Hindernisse sind nicht schlimm, sondern toll. Denn jedes einzelne von ihnen macht uns zu dem, was wir sind.‹ … In Zukunft brauchen Kinder deutlich mehr Freiheit und mehr Chancen zu scheitern, insbesondere dann, wenn sie schöpferisch tätig werden sollen.« (S. 193)
Auch wenn die Tuominen-Zitate etwas abgedroschen klingen — liegt vielleicht auch an der Übersetzung — er hat natürlich Recht. Wenn wir uns über das Auftreten von Problemen und Hindernissen beim Erreichen unserer Ziele freuen können, sind wir offensichtlich im Flow, also genau da, wo wir mental hingehören. (So wie man sich auch beim Verlieren gegen einen raffinierten Gegner bspw. bei Magic: the Gathering, oder bei Schach, eher freut als sich zu ärgern.)
Das Geheimnis der Pädagogik der Zukunft
Beim Beobachten der finnischen Schüler muss sich Beard eingestehen, dass die Sache ihm nicht ganz geheuer ist:
»Ich konnte kein richtiges Lernziel erkennen, und mir fehlte die Stringenz. Die finnische Erziehungsmethode kam mir ein wenig, nun ja, chaotisch vor. Doch ich ahnte langsam, dass genau dies der Knackpunkt war.« (S. 194)
Wobei ich gewohnheitsmäßig an das von Robert Musil Cromwell zugeschriebene Zitat denken muss, demnach ein Mann nie weiter kommt, als wenn er nicht weiß, wohin er will. Vielleicht ist das das Geheimnis der Pädagogik der Zukunft. Gar nicht zu wissen, wohin man will, mit dem Lernen. Weil es ja sowieso ein unendlicher Prozess ist. Und mit Gary Snyder könnte man, etwas pathetisch vielleicht, anfügen:
»I think — this has gone on for many lives!«1
»Das Spielerische ist ein zentrales Element« der finnischen Methodik. »Es sorgt für Raum zum Atmen.« Ich bin nicht sicher, ob sich Beard bewusst ist, wie wichtig dieser Satz ist, den er so dahin schreibt. Das Spielerische sorgt für Raum zum Atmen. Damit die Kinder nicht ersticken. Seelisch. Wow!
Und Pablo Neruda, in Gewisser Überdruss:
Lasst die da geboren werden in Ruh!
Gebt Raum, dass sie leben!
Habt ihnen nicht alles vorgedacht,
Lasst sie nicht dasselbe Buch lesen,
Lasst sie das Frührot entdecken
Und ihren Küssen Namen geben.
(Gut, Neruda wird immer an unpassendsten Stellen kitschig, aber was soll man machen? Die ersten fünf zitierten Zeilen sind exzellent. Wer Küssen Namen geben will hingegen, spricht wahrscheinlich auch gerne vom Schlürfen des Speichels anderer Menschen.)2
Linke Pädagogik trifft Handwerk
Aber schweifen wir nicht weiter ab und kommen stattdessen, Finnland verlassend, zur School 21 — die Benennung dieser Schule zeichnet sie allerdings nicht gerade als … kreativ aus.3 Zwei ehemalige linke Politiker, die sich enttäuscht vom Filz dieser Tätigkeit abgewandt hatten, Oli de Botton und Peter Hyman, waren der Ansicht, das Britische Schulsystem sei »absolut am Ende« und müsse daher neu gedacht werden.
Die beiden wollen — typisch links und anders als die Wildflower School— mit ihrer School 21 die »Leistungskluft zwischen armen und reichen Kindern« schließen, dabei zukunftsgewandt sein, »sich im Kern jedoch auf das eher traditionelle Konzept der Handwerkskunst« berufen. (S. 200)
Diesen Gedanken, mit der Handwerkskunst, äußerte Beard bereits in der Einleitung seines Buches. Ich war gespannt, was das konkret heißen soll. De Botton bezieht sich auf den »Soziologen, Denker, Raucher und Autor« Richard Sennett, dessen Buch Handwerk er gelesen hatte.4 Sennett definiert Handwerk geradezu als das «Bestreben, eine Tätigkeit um ihrer selbst willen gut zu machen.« Dieses Bestreben sei eigentlich in allen Berufen verwurzelt, werde aber durch den modernen Zeitgeist zunehmend unterminiert. Sennett untersucht bspw. die Auswirkung von Big Data und Profitgier im Bereich der Medizin.
Verblüffend einfach
Also: Weg vom Lernen für die Prüfungen. Hin zu: Das eigene Tun als sinnhafte Tätigkeit erleben und diese Einstellung kultivieren. (Das machen übrigens ebenfalls, jedenfalls der Idee nach, schon seit über 100 Jahren die Waldorfschulen so.) Konkret bedeutet das bei School 21 einen Fokus auf Theater oder Kunst, sowie Praktika in der Arbeitswelt, wie auch das Erstellen eigener Bücher oder Skulpturen. Auch »der Stuhlkreis« spiele eine große Rolle.
(Auch all diese Dinge lassen einen vermuten, dass sie, anstatt Räder neu zu erfinden, wie Gary Snyder es formulierte, siehe Fußnote 1, auch einfach die Gedanken zur Pädagogik Rudolf Steiners hätten zur Kenntnis nehmen können. Aber gut, man kommt nie weiter, als wenn man nicht weiß, wohin man will, nehme ich an…)
»Ich war verblüfft, wie gelassen die Schüler der School 21 an viele Tätigkeiten herangingen, ganz ohne die übliche Verlegenheit und Schamhaftigkeit von Teenagern. Sie spielten Theater, hielten Vorträge, diskutierten und debattierten. Ja, sie tanzten sogar vor den anderen — undenkbar in meiner eigenen, steifen und förmlichen Schulzeit. Alles in allem schienen sie mir bestens auf die wirkliche Welt vorbereitet zu sein.« (S. 208)
Eloquenz, Durchhaltevermögen, Handwerk, Können, Engagement und Professionalität sind die sechs offiziellen Säulen der School 21.
Spielen muss der Mensch
Gen Ende seines Kapitels widmet sich Beard dem Gedanken, dass wir diese Form der Kreativitätsförderung natürlich auch für Erwachsene dringend benötigen. Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr hat sich zum Glück als Mythos herausgestellt und Erwachsene können die abgetötete Kreativität wiederbeleben. Durch Spiel zum Beispiel, wenn man sie lässt und sie selbst sich lassen:
»Dass Kinder auf dem Spielplatz spielen, ist allgemein akzeptiert … aber wenn Erwachsene es tun, gilt das als unseriös.« (S. 222)
Das wäre zu ändern. Insbesondere müssten natürlich auch Lehrer etwas Verspieltes haben. Wie sonst sollen sie auf kreative Ideen kommen?
6. Spitzenklasse: Meister des Lerniversums
Beard begibt sich nun auf die Suche nach »Meistern des ultimativen Handwerks« Pädagogik (S. 233). Ihn leitet die Erinnerung an seine eigenen beeindruckenden Lehrer. Was sie gemeinsam hatten war ihr Charisma, ihre Individualität, jeder war anders, aber sie zogen die Schüler in ihren Bann, auf eine wissenschaftlich nicht erklärbare Weise. Oder vielleicht doch?
Beard vergleicht die Situation der heutigen Pädagogik mit der Medizin vor der Entdeckung von Erregern Mitte des 19. Jahrhunderts durch Semmelweis. Dieser hatte — knapp formuliert — festgestellt, dass die Kindsbettsterblichkeit — damals enorm hoch — sich drastisch senken ließ, wenn die Ärzte ihre Hände wuschen und somit desinfizierten, nachdem sie Leichen seziert hatten. Tragischerweise hatte sich seine Erkenntnis nur langsam durchgesetzt, weil die alten Ärzte auf ihren Dogmen beharrten. Ähnlich sei es in der Pädagogik.
(Wobei ich vermuten würde, dass in der Pädagogik das Problem nicht so sehr alte Dogmen sind, sondern dass alle paar Jahre eine neue Sau durchs Dorf getrieben wird, die die Bildung revolutionieren soll. Das zugrundeliegende Dogma mag lauten, dass wir nur die richtige Technik oder Methode finden müssten, um alle Probleme zu lösen.)
Wie erlangen wir Aufmerksamkeit?
Beard untersucht im Wesentlichen zwei Ansätze des exzellenten Lehrertums. Einmal den Drill, den wir in der KSA schon kennenlernten,5 und dem wir nun ein weiteres Mal in New Jersey begegnen dürfen, an der North Star Academy;6 und dann geht es erneut nach Finnland, zu dessen »berühmtesten Lehrer«.
Der »Gral des Unterrichtens« sei es, die Aufmerksamkeit der Schüler zu lenken (S. 234). Die North Star Academy, die wie die KSA Schüler aus armen Verhältnissen zu guten Leistungen und Noten führt, setzt auf »aggressively monitoring« und weitere sogenannte »Mikro-Strategien« (insgesamt 7^2=49) nach dem Buch Teach like a Champion von Doug Lemov. Dies wird Relay-Ansatz genannt. Es geht um »klare und eindeutige Anweisungen«. Alles ist durchgetaktet, bis hin zum zentral geplanten Unterricht, der in allen Schulen exakt gleich ablaufen soll.
(Wobei ich mich als Praktiker frage, wie dies überhaupt möglich sein soll. Ich habe schon Klassen parallel mit den gleichen Inhalten unterrichtet, die Stunden liefen trotzdem überhaupt nicht gleich ab, aber vielleicht fehlte ja nur der Drill?!)
Aaaaaachtung!
Die Anweisungen (im Plenum) beginnen oft mit »Alle Augen auf [Name].« Es wird hundertprozentige Kooperation der Schüler erwartet und eingefordert. »Achtung, Stifte hoch!« — »Tut mir leid, nochmal.« (Weil nicht alle Arme schnell genug oben waren.) »Stifte hoch! … Ganz senkrecht! … Noch mehr!« (S. 231)
Diese Methode funktioniert, das zeigt der Erfolg der Schule. Beard bleibt aber Gott sei Dank skeptisch:
»Trotzdem störte mich etwas. Vielleicht war ich ja allzu besessen von der Vorstellung vom Unterrichten als Kunst, aber die Relay-Didaktik kam mir doch etwas zu restriktiv vor, ein wenig zu schablonenhaft. Die latenten Anklänge an die Konzepte unnachgiebiger Tigereltern, die unschlagbare Champions bei allerlei Wettbewerben hervorbrachten, waren allzu deutlich. Hatte das alles nicht etwas, tja, Mechanistisches an sich? War dies wirklich ein geeigneter Weg, um sich ein Handwerk anzueignen?« (S. 236)
Später im Kapitel stellt Beard noch dar, dass die Lehrerausbildung genauso restriktiv abläuft wie der Unterricht in den Schulen: Das ist wohl das Primat der Praxis. Immerhin konsequent.
Das 2 Sigma Problem
Das dem Ansatz zugrundeliegende Problem ist aber real. Aus der Talentforschung wissen wir, dass ideal für den Lernerfolg eines jungen Menschen eine Aufeinanderfolge von Mentoren ist, die immer ausgefeiltere Expertise mitbringen. Wir können an einen begabten Musiker denken, der erst beim örtlichen Lehrer lernt, dann einen Experten, schließlich einen Meister für die weitere Ausbildung aufsucht.
Studien zeigen, dass 1:1 Betreuung tatsächlich für alle Schüler einen deutlich höheren Lerneffekt bringt als 1:30, dem normalen Verhältnis in Schulen. Was wäre aber, wenn sich der 1:1-Effekt auch auf 1:30-Situationen übertragen ließe?
Dies wurde von Benjamin Bloom das »2 Sigma Problem« getauft, weil die 1:1 Schüler »zwei Standardabweichungen« mehr lernten als die normalen Schüler, was »allgemein verständlich ausgedrückt« (haha) heißt, »dass der durchschnittliche … Schüler mit Tutorenbetreuung 98 Prozent bessere Leistungen erbringt als die Schüler im normalen Unterricht.« (S. 237) Also ein erheblicher Unterschied.
Differenzierung und Motivation
In Finnland trifft Beard den Lehrer Pekka Peura, der eine mögliche Lösung für dieses Problem bietet, die uns nicht weiter überraschen muss: nämlich Differenzierung im Unterricht, die dafür sorgt, dass alle Schüler möglichst viel lernen können entsprechend ihrem aktuellen Stand. Das zugrundeliegende Problem ist bekannt und im Spruch eingefangen, dass im normalen Unterricht ein Drittel der Schüler überfordert sei, ein Drittel unterfordert, und das letzte Drittel, für das das Niveau richtig wäre, könne nichts lernen, weil die ersten zwei Drittel dabei störten.
Peuras Ansatz ist, nicht nach der effektivsten Methode zu suchen, sondern nach den Bedingungen, unter denen Schüler am besten lernen können. Das sei ein feiner, aber wichtiger Unterschied. Er kam zu Schluss, es sei am besten,
“den Lernstoff den Schülern zu überlassen und sich stattdessen darauf zu konzentrieren, ihnen das Handwerkszeug zu vermitteln und zur Verfügung zu stellen, damit sie gemeinsam ihre eigenen Lernerlebnisse gestalten konnten, sowie eine motivierende Lernkultur und -umgebung zu schaffen, die ihre angeborenen Lerninstinkte anregten.« (S. 244)
In Finnland sind leistungsgemischte Klassen vorgeschrieben, und das könne man nutzen, dass alle Schüler voneinander lernten, bis hin dazu, dass sie sich selbst benoten könnten, Lernende und Lehrende würden als im selben Boot sitzend begriffen, was einem dynamischen Selbstbild entspräche (“das kann ich nicht, aber das kann ich und das kann ich lernen” statt: “Ich bin so und so, und darum kann ich das und das (nicht)”). Aufgabe des Lehrers sei es nicht so sehr, den Stoff zu vermitteln, sondern die Lernkompetenz.
Ungewissheiten aushalten
Wie sieht das konkret aus? Beard schildert eine kurze Unterrichtssequenz.
Peura projiziert eine multiple choice Aufgabe für alle: Nach wie viel Sekunden überholt das Auto den Traktor? [Antworten a-e] — Schüler senden über Computer ihre Antworten ein.
Peura lässt die Schüler in Kleingruppen ihre Antworten vergleichen und diskutieren. (Sie wissen noch nicht, welche richtig ist!)
Jetzt antworten die Schüler ein zweites Mal.
Die Antworten werden im Plenum gezeigt und analysiert, zuerst die der 1. Runde, dann der 2. Die Schüler sollen erst falsche Antworten finden, über Nachdenken und Austausch den Fehler finden, und erkennen, dass es etwas gibt, »was ich nicht weiß« (S. 240) — und sich dafür interessieren, was dieses Etwas ist.
Erst nach der Pause wird die korrekte Antwort gegeben und (von Schülern) erklärt. Die Schüler werden dann in Einzelarbeit entlassen, wobei sie selbstständig Aufgaben und Lernmaterial über ihre Computer abrufen können, verbunden mit einem Selbstevaluierungssystem.7
Und das war’s.
Aktuell arbeite Peura daran, lernstarke Teams in seiner Klasse zu etablieren. Forscher bei Google hätten herausgefunden, dass der wichtigste Faktor hierfür sei, dass die Team-Mitglieder sich in der Gruppe sicher fühlen. Darum lasse Peura die Schüler selbst die Gruppen bilden und eigene Regeln für das Arbeiten finden. Er gebe nur die Regel vor: »Wir versuchen zu lernen.«
Lernfaktor Lehrer
Vielleicht — Beard führt dies nicht weiter aus, es bleibt eher implizit — ist nicht so wichtig, was Peura macht, sondern wie er an die Sache herangeht: Nämlich als Forschergeist, der Dinge ausprobiert und beibehält, was funktioniert und verwirft, was nicht. Und sicherlich hilft es, dass er nebenbei ein recht bekannter Rockmusiker ist, der wahrscheinlich gehöriges Charisma mitbringt. So ein Mathelehrer ist sexy!
Alles hängt am Lehrer. Das ist auch die Einsicht des Bildungsforschers John Hattie, sozusagen der Guru der Bildungsforschung, der mit einer riesigen Meta-Metastudie von 2009 auf sich aufmerksam machte und bislang nicht vom Thron gestoßen wurde.8
»Lernen steht und fällt mit den Fähigkeiten und der Begeisterung der Lehrer, alles andere spielt eine untergeordnete Rolle.« (S. 263)
Das Entscheidende seien dabei die Faktoren, »die für Lehrer und — noch viel entscheidender — für die Schüler, das Lernen sichtbar machten.« Da dies gar nicht so leicht ist, sollten Lehrer viel besser ausgebildet werden, wobei der Realität an Schulen ihre wichtige Rolle zugestanden werden muss. (Gymnasial-)Lehrer sind (in Deutschland) vor allem Theoretiker, die ein bisschen Praxiserfahrung mit auf den Weg kriegen.
Sie erhalten weder eine relevante psychologische noch schaustellende Ausbildung, obwohl das ein riesiger Teil ihres Jobs ist. Lehrer müssten vor allem nach ihrem Berufseinstieg — ähnlich wie Fachärzte — intensiv ausgebildet werden (S. 258), damit sie nicht nur das Lernen, sondern auch das »nach Sinn suchen, schöpferisch [sein] und kooperieren« vermitteln könnten (S. 223).
Es könne »keinen Königsweg« geben, »um ein großartiger Lehrer zu werden«, jedoch gebe es »eine Reihe von praktikablen Bausteinen.« (S. 265) Ich nehme an, einer der wichtigsten davon ist, überhaupt ein großartiger Lehrer werden zu wollen. Man muss den Ehrgeiz haben, der bestmögliche Lehrer zu sein, der man sein kann, wie Michelangelo, Raffael und Leonardo ihn als Künstler hatten. Und ich würde die Vermutung anfügen, dass dies eigentlich nur möglich ist, wenn man ebenfalls den Ehrgeiz entwickelt, gleich der bestmögliche Mensch zu werden, der man sein kann.
Das ist eine durchaus beachtliche Aufgabe, an der man sein Leben lang zu kämpfen haben wird. Aber was ist die Alternative? Die Alternative ist es, sein Leben lang mit der eigenen Mittelmäßigkeit und dem ungenutzten Potential zu kämpfen zu haben. So oder so, kämpfen müssen wir, auch wenn wir gar keine Lehrer sind, und da ist nichts schlimm dran.
Was können wir als Erkenntnisse mitnehmen? Die Sache scheint schwierig, und doch auch ganz leicht zu sein.
Wir beobachten scheinbar eine Art Konkurrenzkampf zwischen zwei “Stilen” der Pädagogik: Immer ausgefeilterer Drill (KSA, NSA), gerne kombiniert mit lückenloser Überwachung und Evaluation des Lernens auf der einen Seite. Und die freilassende, vertrauensvolle Begleitung des Kindes und Jugendlichen, die seine Kreativität nicht abtötet, und es ermutigt, das Scheitern als Teil des Lernens zu sehen.
Ich weiß, für welche Methode mein Herz schlägt.
Aber die KSA und die NSA sind erfolgreich.
Aber Pekka Peura auch.
Im dritten Teil wendet sich Beard folgerichtig der Frage zu, wie wir mithilfe der Pädagogik eine “kollegialere und gerechtere Welt” erschaffen können, statt eines Wettkampfs (sprich: “Kampf aller gegen alle”!) um die besten Noten und Jobs. Wir werden sehen.
Gary Synder, Back on the Fire. Essays. Dort: »Lifetimes with Fire« (S. 92)— In einem ebenfalls dort abgedruckten Interview gibt Snyder auf die Frage, was er jungen Schreibern rät die Antwort, die uns in diesem Kontext ebenfalls interessieren kann: »Think like a craftsperson, learn your materials, your tools, and then read a lot of poetry so you don’t keep inventing wheels.« (S. 100, m.H.) Read a lot of poetry übersetzt sich in unserem Fall in Read Rudolf Steiner on the art of teaching. Und natürlich auch andere Reformpädagogen.
Fragt nicht. Ich musste an StudiVZ denken, da gab es ja so Gruppen, und es war lustig und interessant zugleich sich die Gruppen anzuschauen, in denen jemand war, wenn man ihn neu kennenlernte, viel besser als Facebook, und da gab es die Gruppe: Wer Mathe liebt, fickt auch Schafe. Als Mathe-Studenten mussten wir dieser Gruppe natürlich alle beitreten. Das waren noch Zeiten!
(Und wer nun aber doch wissen will, was es mit dem Schlürfen des Speichels auf sich hat, der wird fündig bei Mario Vargas Llosa, Die Enthüllung. Ich kann es aber beim besten Willen nicht empfehlen. Lest (oder hört) lieber Tante Julia und der Kunstschreiber. Oder lasst den Autor gleich links liegen und lest einfach Roberto Bolaño. Das war ein Mann, der wusste, wie und worüber man zu schreiben hat und vor allem auch, worüber nicht, über das Schlürfen vom Speichel der Geliebten zum Beispiel.)
Als ich im Zivildienst war (“Ich hab mich dem Bund verweigert…”, Die Ärzte), eröffnete in der Theaterstraße in Aachen ein Laden, der Mensch 21 hieß oder so ähnlich. Ich war sehr neugierig, was das für ein Laden sein mochte und eines Tages überwand ich meine Schüchternheit, betrat den Laden und fragte nach. Es stellte sich — etwas enttäuschend — heraus, dass es ein Fitness Center war (so mit Vibrationen), oder ein Gym, wie man heutzutage sagt, was ich dämlich finde, allerdings erinnert es mich an die erste Folge von Mr. Eyeballz, in der selbiger ein solches Gym besucht. (Ich gebe zu, dass sie nicht gerade “der Burn” ist, aber es gab eine Folge, die möglicherweise dafür verantwortlich ist, dass ich Philosophie studiert habe: “Kein Anschluss unter dieser Nummer.” Ich finde sie nicht mehr.
You had me at “Raucher”. Ich gebe zu, dass ich Sennetts Buch bereits bestellt habe. Ich werde es voraussichtlich lesen, um mehr zu erfahren, denn der Handwerks-Gedanke scheint mir tiefsinniger und allgemeiner, als Beard ihn im Rahmen seiner Ausführungen darstellen konnte (oder wollte). Das Buch ist, nebenbei bemerkt, wie ich schnell herausfand, als ich seine Einleitung las, der erste Teil einer Homo Faber betitelten Trilogie, deren zweiten und dritten Teil ich ebenfalls gleich mitbestellt habe, weil sie fast noch interessanter klangen. Gott schenke mir die Zeit und das Durchhaltevermögen sowie die handwerklichen Fähigkeiten, mich dieser Lektüren auch würdig zu erweisen. (Und einen Hinweis auf das Handwerk des Lesers gab ich bereits in meinem Artikel zum Schöpferischen Lesen.)
Im Übrigen erinnert mich diese Abkürzung heute an die KBA, die Knackwurst-Bring-Anlage aus einer Sams-Geschichte (ich vermute Am Samstag kam das Sams zurück).
Die, warum wohl, nie mit NSA abgekürzt wird :)
Bei dem drolligerweise für den schlechtesten Level ein Gesicht mit Lachtränen steht, das bedeuten soll: “Ich kann mich nur kaputtlachen, wenn Sie denken, ich hätte irgendeine Ahnung davon.” (S. 242)
John Hattie, Visible Learning: A Synthesis of over 800 Meta-Analyses Relating to Achievement. London, 2009. Beard vergleicht Hattie mit Martin Luther, der ebenfalls seine 95 Thesen angeschlagen habe. Wie Luthers Thesen werden auch Hatties nicht allgemein anerkannt, sehr zum Verdruss beider Denker, und selbst da, wo sie anerkannt werden, was noch viel schlimmer ist, trotzdem nicht konsequent befolgt. Andernfalls befänden wir uns nicht in der Bildungsmisere, in der wir uns aber befinden. (Ich bekenne, dass ich diesen Text nur geschrieben habe, weil ich der Ansicht bin, eine Fußnote sollte mehr als eine Quellenangabe enthalten.)
Wir unterteilen in Europa gerne in Kategorien und Methoden, doch zum Leben gehört sowohl das Streben nach Freiheit als auch die Arbeit auf dem Weg dahin, welche nur durch inneren Willen, also Selbstdisziplin umgesetzt werden kann. Das Bewusstsein hierfür entwickelt sich erst später, sodass Disziplin zum lernen dazu gehört. Wann ist eine Denkaufgabe schon leicht? Und doch ist jede Überwindung eine Vokabel zu lernen, eine, die das lernen beim nächsten mal erleichtert. Lernen macht lernen leichter. Das ist neurologisch klar. Die Schwelle zur Überwindung muss also niedrig gestaltet sein, wie beschrieben und trotzdem muss äußerliche Bedeutung bestehen die später zu Selbstdisziplin wird, die der verantwortungsvolle Mensch hat. Der Mensch, der aus einem Streben nach Freiheit versucht auf allen Gebieten sich selbst zum besten Menschen machen möchte der er sein kann. Nur der spezialisierte, analytische mensch versteift sich auf eine Kategorie. Allgemeinbildung, wie sie früher an Gymnasien von den „Oberstudienräten“ vermittelt wurde, wo jedes Goethe Zitat eine Denkweise schulte, die im Zusammenhang zum Leben stand ist anders als das heutige Lesen, der Lektüren-Zusammenfassung, um dann ein paar Stichworte zu vergessen.
Wieder ein toller Text, Danke! Ich freue mich auf Teil 3.
Hier übrigens noch ein Video von einem Lehrer, der mit seinen Schülern an einer freien Schule Magic spielt: https://youtu.be/OMQcTdoIswk?si=x-BD0rjhUNg6lXVQ&t=182 :-)