Die dünne Decke der Zivilisation: Die Corona-Krise und der Verlust des Politischen
Mattias Desmet, Die Psychologie des Totalitarismus - Teil 9
Dies ist der neunte Teil einer Artikelserie zu Mattias Desmets Die Psychologie des Totalitarismus. Hier geht es zum ersten Teil.
I. Die politische Entscheidung ist keine wissenschaftliche
Wie im letzten Artikel der Reihe bereits erwähnt, ist die Corona-Krise für Desmet das beeindruckendste Phänomen, wenn man das blinde Vertrauen auf Zahlen bis hin zur Naivität studieren will. Gleichzeitig ist sie ein politisch hochumkämpftes Thema, bei dem es den Akteuren stärker um Meinungshoheit zu gehen scheint, als um Wahrheit.
Wenn wir uns diesem Thema jetzt zuwenden, dann müssen wir uns zusammenreißen, uns also nicht emotional dazu verleiten lassen, unserem Wunschdenken zu folgen, sondern die Phänomene so nehmen, wie sie sind. Und dabei gilt es zu bedenken, dass es nicht um die Frage geht, was jetzt die “richtige” Interpretation der Zahlen ist. Das ist ja genau die Frage, die auf die zugrundeliegende Narrative naiv hereinfällt.1
Zu erkennen gilt es, dass die Zahlen verschiedenste Interpretationen zulassen, und dass wir am Ende doch unsere Entscheidungen selbst fällen müssen, politisch und nicht wissenschaftlich. Dass dies übersehen — teilweise wohl auch aktiv ignoriert2 — wurde, scheint, mir persönlich zumindest, der tragischste Fehler dieser Zeit.
Denn dadurch wurden Menschen, die eine andere politische Entscheidung forderten, zu wissenschaftsfeindlichen Fanatikern gestempelt, obwohl sie selbst oft — sogar renommierte — Wissenschaftler waren, und mahnende Stimmen wurden niedergeschrieen in einer Art, die man nur als Hysterie bezeichnen kann.3 Viele haben sich in der Folge nicht mehr getraut, etwas öffentlich zu sagen. Andere haben sich radikalisiert. Manche sind abgedriftet, andere sind durchgedreht. Sehr viele Menschen haben psychisch gelitten.
Das war alles überflüssig. Es wäre vermeidbar gewesen, wenn man nicht so getan hätte, als wäre die politische Entscheidungsdimension plötzlich ausgehebelt; wenn man nicht so getan hätte, als gäbe es einen Kurs, den “die Wissenschaft”, die es so gar nicht gibt, vorgibt. “Die Wissenschaft”, selbst wenn es sie gäbe, könnte uns keinen politischen Kurs vorgeben, weil sie uns keine Werte vorgibt.4
Sie kann höchstens in beschränktem Maße beraten, wenn es darum geht, welcher Weg vielleicht (!) am besten zum gewünschten Ziel passt. Dieses “vielleicht” ist sehr wichtig, denn es kommt äußerst häufig vor, dass “die Wissenschaft” sich irrt.5 Tatsächlich basiert ja sogar die gesamte wissenschaftliche Methodik auf der Annahme, dass alle Theorien nur annähernd richtig sind (richtig genug für einen Zweck, sozusagen, passabel), und deshalb von kommenden Generation verworfen und durch bessere ersetzt werden werden.
II. Corona — Wie kamen Zahlen zustande?
Desmet diskutiert einige Zahlen der Corona-Zeit und ihr Zustandekommen. Wer nicht mit Scheuklappen durch diese Jahre gegangen ist,6 der wird mitbekommen haben, dass die Zahlen umstritten waren, hochumstritten. Das sind sie im Grunde auch weiterhin, aber sie haben natürlich an Aktualität verloren. Wichtig scheint mir aber auch gar nicht, welche Seite in welchem Detail jeweils Recht hatte. Sondern mit welcher Arroganz und — ja, mit Scheuklappen — viele Proponenten ihre Sicht auf die Dinge als die einzig mögliche Wahrheit dargestellt haben, mal eher direkt, mal eher indirekt. (Das gilt natürlich auch für die unkritischen Kritiker der Maßnahmen.)
Ich will daher auch gar nicht auf alles eingehen, was Desmet an dieser Stelle diskutiert, sondern nur die Dinge herausgreifen, die mich selbst damals schon stutzig gemacht haben. Als nicht sonderlich bewanderter Mensch in den Gebieten Medizin und Statistik, der aber durchaus mathematisch und denkerisch nicht ganz unbegabt ist, und zudem durch ein Studium der Philosophie gelernt hat, Sachverhalte von vielen Seiten zu betrachten, wage ich doch das Urteil zu fällen, dass manche Dinge etwas seltsam gelaufen sind.
a) Inzidenzraten
Wenn man mehr testet, dann wird man auch in absoluten Zahlen mehr “Infizierte” (genauer: PCR-Test-Positive) finden, selbst wenn die Rate gleich bleibt. Logisch, oder? Leider ist in der Realität aber nichts so einfach, weil man zudem berücksichtigen muss, wie getestet wird, also bspw. anlassbezogen, weil jemand Symptome aufweist, oder anlassfrei. Und das ist nur eine mögliche Schwierigkeit.
Das hinderte die Experten aber nicht daran, von den absoluten Zahlen ausgehend über Anstieg oder Abstieg der Infektionsrate zu reden. Desmet berichtet aus Belgien, erst nach “langem Tauziehen” habe der Lütticher Virologe Bernard Rentier “Einsicht in die Rohdaten über die sogenannte Sommerwelle der Coronainfektionen” erhalten. Er kam zum Schluss, dass die Infektionsrate unter Anpassung an die durchgeführten Tests, 20 bis 70-Mal “niedriger war als die Schätzungen, die in den Medien vermeldet wurden.”7
Es geht mir nicht um den Punkt, dass die Zahlen laut Rentier viel zu hoch angesetzt waren. Theoretisch hätte auch herauskommen können, dass sie zu niedrig angesetzt waren. Der relevante Punkt ist, dass es vollkommen unverständlich ist, warum die Inzidenzrate von den absoluten Zahlen und nicht den (gewichtet) relativen abgeleitet wurde.
Und warum nicht mehr über die technischen Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten geredet wurde. Hier haben meines Erachtens vor allem die Medien versagt, weil sie sich von dem Auftrag verabschiedet haben, das Agieren der Regierenden kritisch zu hinterfragen, und stattdessen Staatspropaganda betrieben, im utilitaristischen Glauben, das wäre in dieser Krisensituation das Beste für alle Beteiligten. Aber Utilitarismus ist immer gefährlich.8
b) Hospitalisierung
Die meisten werden sich noch daran erinnern, dass natürlich jeder ins Krankenhaus eingelieferte Patient auf Corona getestet wurde, auch wenn er mit einem gebrochenen Bein eingeliefert wurde. So weit so nachvollziehbar. Macht das diesen Patienten, wenn er einen positiven PCR-Test hat, zu einem Covid-Patienten? Scheinbar schon. Jedenfalls wurde so vorgegangen.
Interessanterweise, so Desmet, habe aber bspw. die schottische Regierung ab einem bestimmten Zeitpunkt beschlossen, nur noch “diejenigen als Coronapatienten zu registrieren, die positiv gestestet wurden und sich mit den typischen COVID-19-Symptomen vorstellten” — dadurch sei die Zahl auf 13% gesunken.
Krankenhäuser, zumindest in Belgien — mir sind aber auch ähnliche Berichte aus Deutschland zu Ohren gekommen —, hätten einen enormen finanziellen Anreiz gehabt, Patienten zu Corona-Patienten zu deklarieren:
“Jeroen Bossaert von der belgischen Tageszeitung Het Laatste Nieuws präsentierte im Frühjahr 2021 eines der wenigen Beispiele für gründlichen Investigativjournalismus in der Coronakrise. Er deckte auf, dass Krankenhäuser und andere Pflegeeinrichtungen aus einem Streben nach finanzieller Optimierung die Zahl der Todesfälle und COVID-19-Hospitalisierungen künstlich erhöht hatten.” (S. 73)
Dies sei nicht weiter überraschend, denn solche finanziellen Optimierungspraktiken seien auch vorher schon Gang und Gäbe gewesen. Das Überraschende sei gewesen, dass in der Corona-Krise der “komplette Gesundheitssektor” — zuvor in der Kritik stehend als Moloch, wie ja auch die Pharmabranche — “plötzlich heiliggesprochen” worden sei.9
c) Todesfälle
Die Corona-Toten waren das ultimative Argument für alle Maßnahmen. Wenn die Menschen an Corona nicht gestorben wären, hätte man keinen Grund gehabt, Schulen und Spielplätze zu schließen, oder? Wenn, andererseits, die Menschen wie an der Pest gestorben wären — im Mittelalter teilweise 70% der Bevölkerung —, hätte es wahrscheinlich keine (oder nur sehr wenige) Gegner der Maßnahmen gegeben.
Die meisten werden sich vielleicht noch daran erinnern, dass die Zahl der “an Corona Verstorbenen” irgendwann ersetzt wurde durch “an oder mit Corona Verstorbenen”. Vielleicht aber auch nicht. Dann sei hier daran erinnert, denn es zeigt Folgendes: natürlich waren die Verstorbenen auch vor der Änderung schon “an oder mit Corona Verstorbene”. Warum ist das ein wichtiger Unterschied?
Kritiker der Maßnahmen — wie ich — finden diesen Unterschied relevant, weil es heißt, dass man sich genauer anschauen müsste, ob die Verstorbenen überhaupt zu einem relevanten Teil an Corona verstorben sind, oder größtenteils eher mit.10 Das ist aber bei genauerer Betrachtung keine leicht zu beantwortende Frage, sondern wird schnell philosophisch.11
Zunächst einmal motiviere ich, dass diese Frage tatsächlich relevant ist. Denn in Belgien bspw. litten 95% der Verstorbenen unter mindestens einer anderen Vorerkrankung, aus anderen Ländern sind die Zahlen ähnlich. Zudem lag das Durchschnittsalter der Verstorbenen (in Belgien, bei der ersten Welle) bei 83 Jahren, also sehr nahe an der mittleren Lebenserwartung.
Es geht nicht darum, daraus den unsinnigen (und inhumanen) Schluss zu ziehen, dass ja nur alte Menschen gestorben seien und um die sei es nicht schade, weil sie eh bald krepiert wären. Darum geht es nicht. Aber es geht um folgende zwei Dinge:
Für die Frage, welche (grundrechtseinschränkenden) Maßnahmen ergriffen werden sollten, kann nicht relevant sein, wie viele Menschen mit Corona sterben, streng genommen nicht einmal wie viele durch Corona sterben, sondern nur, wie viele Menschen mehr durch und an Corona sterben, als auch “natürlicherweise”.
Diese Frage deutet nebenbei bemerkt auch darauf hin, dass hier wieder keine rein wissenschaftliche Entscheidung möglich ist. Wir hatten immer wieder härtere Grippe-Winter, in der überdurchschnittlich viele (vor allem alte) Menschen daran starben — und natürlich lassen wir Autoverkehr zu und andere Dinge, die Todesfälle produzieren (einschließlich Krankenhäuser). D.h. wir lassen es als Gesellschaft natürlich zu, dass Menschen sterben, damit wir unser Leben führen können. Die Frage, wie viele Menschen und auf welche Weise sterben dürfen, ist nicht quantifizierbar.
Wenn und falls in der Hauptsache ältere Menschen mit Vorerkrankungen an Corona gestorben sind, wäre es wichtig gewesen diese Bevölkerungsgruppe besonders zu schützen, aber ich bezweifle, dass der beste Weg dazu Lockdowns und softer Impfzwang gewesen sind.12
Es sind auch (selten) gesunde 40-Jährige oder (noch seltener) Kinder gestorben, und das hat dann verständlicherweise deren Familie und Bekannten schockiert — allerdings muss wieder die Frage gestellt werden: War das Risiko für diese Bevölkerungsgruppe groß genug (größer als andere Risiken wie bspw. Motorrad fahren), um die Einschränkungen zu rechtfertigen?
Zugegeben, in den ersten Monaten der Pandemie herrschte ein enormes Chaos — was aber eben auch daran lag, dass man sehenden Auges den ganzen Januar und Februar 2020 Corona immer näher kommen ließ, ohne sich vorzubereiten.
d) Die weiteren Zahlen
Man könnte in viele Richtungen hin immer weiter ins Detail gehen, aber ich denke, meine Stoßrichtung müsste klargeworden sein. Wichtig scheint mir noch, zu betonen, wie sehr alle weiteren angenommenen Statistiken von den Problemen der Basis-Zahlen betroffen waren.
Die epidemiologischen mathematischen Modelle der Anfangszeit erbten die Neigung “die Gefährlichkeit des Virus (stark) zu überschätzen”, maßgeblich das Modell des Imperial College London, das, so Desmet, weltweit 40 Mio. Tote voraussagte, “wenn keine weitreichenden Maßnahmen ergriffen würden”, für Schweden z.B. 80.000 Tote bis Ende Mai — bekanntlich ergriff Schweden keine harten Maßnahmen und es kam zu 6.000 Toten, wobei es auch für diese Zahl der “enthusiastischen” Zählweise bedurfte.
“Rein logisch”, kommentiert Desmet, “würde man erwarten, dass die öffentliche Erzählung und die Maßnahmen korrigiert … werden würden”. Was geschah stattdessen?
“Es änderte sich nichts. Aus irgendeinem Grund reagierte die Gesellschaft weiterhin genauso krampfhaft, als ob sie ein dringendes psychologisches Bedürfnis danach hätte.” (S. 75)
III. Die Gefahr der Barbarei
Es gibt ein Sprichwort, dem die meisten Menschen ohne zu Zögern zustimmen würden, unter anderem auch, weil wir beeindruckende Experimente und historische Geschehnisse zuhauf anführen können, die es belegen:13
Die Decke der Zivilisation ist dünn.
Wir sollten daher immer sehr vorsichtig mit Prozessen sein, bei denen Menschen abgewertet werden. Viel zu schnell kann es passieren, dass auf Worte Taten folgen. Eine herausragende Rolle spielten hierbei erneut die Medien.14 Mit ihrer abwertenden Betitelung derer, die nicht der Regierungslinie folgen wollten, haben sie maßgeblich zu einer vergifteten Atmosphäre beigetragen, in der nicht mehr ein Meinungspluralismus leben konnte, sondern genau zwei Lager: Die (guten) Maßnahmen-Befürworter und die (schlechten, gar bösen) Maßnahmen-Gegner.
a) T-A-T und zehn Stufen des Völkermords
Auf das Teilen und das Abwerten ist in der Geschichte zu oft das Töten gefolgt, wie Daniele Ganser wiederholt ausgeführt hat. Die Logik dieses Prozesses hat der Völkermordforscher Gregory H. Stanton als die “zehn Stufen des Völkermords” ausführlicher beschrieben. Und Gunnar Kaiser hat in Der Kult: Über die Viralität des Bösen ausgeführt, inwiefern sich die ersten sechs dieser Stufen auf unheimliche Weise im Umgang mit Kritikern und Gegnern der Corona-Maßnahmen anwenden ließen:
“Klassifizierung einer Gruppe von Menschen”
“Symbolisierung”
“Diskriminierung”
“Dehumanisierung”
“Organisation”
“Polarisierung”
“Vorbereitung”
“Verfolgung”
“Ausrottung”
“Verleugnung”
Man mag diesen Vergleich für eine maßlose Übertreibung halten.15 Und Gunnar Kaiser selbst hat seine Überlegungen mit dem Satz eingeleitet, dass es zu hoffen sei, “dass es eine maßlose Übertreibung sein wird, in diesem Zusammenhang [Corona] auf die zehn Stufen des Völkermords hinzuweisen”.
Ich denke nur, dass man nicht oft genug darauf hinweisen kann, nicht oft genug, wie schnell der Mensch dem Menschen zum Wolf werden kann, wenn sich eine Mob-Mentalität erst einmal durchsetzt, auch ganz ohne dass dies irgendwer intendiert hätte. Entmenschlichung, Entwürdigung, Herabsetzung der Andersdenkenden ist immer gefährlich. Auch dies gilt selbstverständlich genauso für diejenigen Maßnahmenkritiker, die zu oft ihrerseits die Andersdenkenden beleidigten oder bedrohten.16
Ich denke außerdem, dass der Vergleich — nicht die Gleichsetzung — der Corona-Zeit mit diesen zehn Stufen durchaus unseren Sinn dafür schärfen kann, inwiefern zumindest die Stufen 1-4 durchaus auf gewisse Weise durchlaufen wurden. Man könnte produktiv darüber nachdenken, inwiefern die Diskriminierung und teilweise Entmenschlichung der Andersdenkenden hätte vermieden werden können im Sinne der Verbundenheit, der echten Solidarität gerade mit dem Andersdenkenden.
b) Nächsten- und Feindesliebe
Im christlichen Sinne könnte man daran erinnern, dass Christus als besonders herausstellt, seine “Feinde” zu “lieben”, denn seine Nächsten liebt jeder, das sei nichts Besonderes.17 Insofern täte uns allen mehr christliche Demut gut, unabhängig davon, wie wir es mit dem Glauben halten. Diese Position würde aber eine gewisse Machtlosigkeit anstreben, die aktuell leider nicht en vogue ist — vielleicht niemals war.
Ivan Illich führt im Rahmen seiner profunden Überlegungen zum Christentum einen Fall aus dem 4. Jahrhundert an:
“Zum Beispiel erzählt ein Bericht aus dieser Zeit die Geschichte einer Familie irischer Brüder, deren Vater umgebracht worden war. In der Gesellschaft, aus der sie kamen, hatte ein Sohn die unbedingte Pflicht, einen Vatermord zu rächen, doch diese jungen Männer vergaßen ihre Rache und zogen aus, um als Mönche auf einer öden Insel zu leben, wo sie Buße für ihre Sünden taten. Mit einem Mal vermochten sie aus der Kultur auszutreten, die sie geprägt hatte, und lebten in friedvollem Gegensatz zu ihr.” (In den Flüssen nördlich der Zukunft, S. 77)
Mich interessieren an diesem Zitat zwei Aspekte:
Zum einen, die Möglichkeit, “aus der Kultur auszutreten”, dabei aber “in friedvollem Gegensatz zu ihr” zu leben. Dies scheint mir eine wichtige Option für die Zukunft zu sein, dass man einerseits austritt, nicht mehr mitmacht, sich andererseits aber nicht in polarisierende Opposition begibt oder ausklinkt, sondern den Gegensatz friedvoll aushält. Was oft keine leichte Aufgabe ist.
Zum Zweiten die “Buße für ihre Sünden” — Illich führt im Weiteren aus, dass unser Sündbegriff im Laufe des Mittelalters korrumpiert (kriminalisiert) wurde, sodass wir nicht mehr ohne Weiteres an dem anknüpfen können, was damit im frühen Christentum gemeint war. Illich zufolge handelt es sich bei der Buße nicht um die “Tilgung einer Schuld”, sondern um den “tiefen Kummer über die Fähigkeit, die Beziehung zu verraten, die ich, als Samariter, eingegangen war”.18
Auf einer oberflächlichen Eben könnte man nun meinen, ich würde eine Haltung empfehlen, die sich unter dem Schlagwort “vergeben und vergessen” ansiedelt, wie Jens Spahn als Gesundheitsminister ja auch ankündigte, wir würden uns nach der Pandemie viel gegenseitig zu vergeben haben.
Wir sollten im Gegenteil sehr bewusst und mit der erforderlichen Klarheit und Vehemenz eine möglichst vollständige Aufarbeitung (der Fehler) dieser Zeit einfordern und zur Durchführung beitragen, insofern gerade nichts vergessen. Aber die innere Haltung, aus der heraus wir agieren, sollte nicht emotional sein, und nicht vorwurfsvoll Hass schüren, sprich: ihrerseits nicht die genannten Stufen des Völkermords durchlaufen, sondern im wahrsten Sinne “friedvoll” sein.
Niemand sollte sich dem anderen absolut überlegen fühlen, vor allem nicht moralisch, denn wahrscheinlich war es nur ein glücklicher Zufall (eine Gnade), der uns — wenn wir es denn waren — auf der “richtigen Seite der Geschichte” ansiedelte. Wie Alexander Solschenizyn es in überragend wahrhaftiger Rhetorik ausdrückte:19
“Wenn es nur so einfach wäre! - dass irgendwo schwarze Menschen mit böser Absicht schwarze Werke vollbringen und es nur darauf ankäme, sie unter den übrigen zu erkennen und zu vernichten. Aber der Strich, der das Gute vom Bösen trennt, durchkreuzt das Herz eines jeden Menschen. Und wer mag von seinem Herzen ein Stück vernichten?”
(Der Archipel GULAG, S. 87)
Wenn wir uns als Menschen und als Menschheit weiterentwickeln wollen, werden wir früher oder später aber doch an den Punkt kommen, an dem wir von unseren Herzen ein Stück vernichten müssen. Aber dies werden wir freiwillig tun. Und wir müssen es mit unserem eigenen Herzen tun, nicht dem der anderen. Diesen Schritt kann und darf niemand dem anderen abnehmen.
Oder seht ihr das anders? Schreibt es mir gerne in die Kommentare!
Nachgeordnet kann man sich dann aber natürlich trotzdem mit dieser Fragestellung auseinandersetzen. Man wird dabei aber schnell erkennen, dass es keine logisch zwingende Argumentation gibt und geben kann, weil wir schnell an die erkenntnistheoretischen Grenzen empirisch-numerischen Wissens stoßen — wie in einem früheren Teil dieser Artikelreihe ausführlicher besprochen.
Jeder Intellektuelle, der sich aktiv für den Corona-Kurs der Bundesregierung eingesetzt hat — also die meisten —, ohne sich intensiv mit den Kollateralschäden auseinanderzusetzen, hat unredlich gehandelt und die Aufgabe des Intellektuellen, die Dinge von möglichst vielen Seiten zu betrachten, verraten. Dies geschah entweder wissentlich, dann handelt es sich um Scharlatanerie, oder unwissentlich, dann handelt es sich um Pseudo-Intellektuellentum, denn ein solch naiver Fehler darf einem Intellektuellen nicht unterlaufen. Er darf auch nicht in Panik geraten.(1) Ich fühle mich an das Lied von Leonard Cohen erinnert, On that Day, wo es aber um 9/11 geht: “Did you go crazy / or did you report / on that day / they wounded New York?”
Eine andere philosophisch interessante Frage ist, wie das Phänomen zu beurteilen ist, wenn Menschen den Maßnahmen “mit Bauchschmerzen” folgten. Zwei Beispiele: (A) Es gab Menschen, die sich nicht gerne impfen lassen wollten und dies auch nicht getan hätten, aber unter dem enormen gesellschaftlichen Druck (2G!) dann doch taten. (B) Es gab Eltern — wahrscheinlich nicht wenige —, die ihre Kinder eigentlich nicht mit Masken in die Schule schicken wollten, es aber unter dem enormen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Druck dann doch taten.
Haben diese Menschen mehr Rückgrat bewiesen (immerhin hatten sie Bauchschmerzen), oder weniger (sie sind eingeknickt) als solche, die das alles gut so fanden?
(Wir werden noch ausführlicher sehen, haben dies aber schon vermerkt, dass Desmet zufolge bei einer Massenbildung ein Großteil der Bevölkerung die Mitläufer ausmacht, die sich einfach dem Druck der Macht folgen. Ohne diese Mitläufer könnte die Massenbildung keine Macht entfalten. Das gilt für alle gesellschaftlichen Phänomene: Wie viele Lehrer, Ärzte, generell Menschen in Gesundheitsberufen, Arbeiter, usw. halten ein System, das sie eigentlich ablehnen, durch ihre Mitarbeit am Laufen, und verausgaben sich dabei auch noch, und verhindern dadurch den notwendigen Wandel?
(1) So wie ein Arzt keine Angst vor seinen Patienten, ein Lehrer keine Angst vor seinen Schülern, ein Geistlicher keine Angst vor “seinen Schäfchen” haben darf, darf ein Intellektueller keine Angst vor der öffentlichen Meinung haben. Das gebietet die Berufswürde. (Dies gilt allgemein, es mag individuelle Ausnahmen geben.)
Selbst ChatGPT gibt, dazu befragt, an, dass es in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern (USA, UK) riskant war, harte Kritik an den Corona-Maßnahmen zu äußern. Ein paar Zitate: “tatsächlich gibt es viele Hinweise darauf, dass es in Deutschland schwieriger war, harte Kritik an den Corona-Maßnahmen öffentlich zu äußern, ohne als Person ausgegrenzt, diffamiert oder ins "Abseits" gestellt zu werden.” — “Die öffentliche Debatte in Deutschland war oft stark polarisiert. Medien und Politik betonten lange die „Alternativlosigkeit“ der Maßnahmen. Wer hart (und nicht nur im Detail) kritisierte, wurde schnell in die Nähe von Verschwörungstheoretikern oder „Querdenkern“ gerückt – unabhängig von seiner wissenschaftlichen Position.” — “Wissenschaftliche Debatten wurden zum Teil hinter verschlossenen Türen geführt. Öffentliche Abweichung von der Regierungslinie war in vielen wissenschaftlichen Gremien nicht erwünscht oder wurde sanktioniert (Stichwort: „Wissenschaftliche Einheitsfront“).” — “Wer zu deutlich oder zu oft Kritik übte, musste häufig mit „Shitstorms“, Ausladungen aus Talkshows, Anfeindungen in den Medien oder gar mit beruflichen Nachteilen rechnen (bis hin zu Rücktritten von öffentlichen Ämtern, wie bei Matthias Schrappe oder einzelnen Experten in wissenschaftlichen Beiräten).” — “Die Grenze zwischen „sachlicher Kritik“ und „unverantwortlicher Verharmlosung“ wurde häufig unscharf gezogen. Wer laut war, riskierte schnell, mit radikalen Bewegungen („Querdenker“, AfD, Impfgegner) in einen Topf geworfen zu werden.” —
Auf die Frage nach international bekannten Maßnahmenkritikern listet ChatGPT auch drei Deutsche auf (Sucharit Bhakdi, Wolfgang Wodarg, Knut Wittkowski), die heute jedoch in wissenschaftlichen Kreisen kaum noch als angesehen gelten. In einer weiteren, auf das aktuelle Renommee beschränkten Liste fehlen deutsche Namen. Eine deutsche Liste umfasst vor allem Experten, die entweder nur moderate Kritik übten oder bei starkem Gegenwind öffentlich zurückruderten.
Wenn dem aber so ist, dann muss sich die deutsche Gesellschaft, das heißt letztlich jeder Einzelne, die Frage stellen, wie es um Politik, Wissenschaft, Medien und den öffentlichen Diskurs bestellt ist, wenn auch seriöse Stimmen mit gut begründeter Kritik nicht offen an die Öffentlichkeit treten können, ohne erhebliche persönliche oder berufliche Konsequenzen befürchten zu müssen. Eine allzu geschlossene Meinungsfront, die Andersdenkende faktisch vom Diskurs ausschließt, ist alles andere als wünschenswert, denn die abweichenden und unbequemen Stimmen sind essentieller Bestandteil einer demokratischen und liberalen Gesellschaft.
Im Übrigen ist zu bezweifeln, dass das Thema Corona eine einmalige Ausnahme darstellt. ChatGPT liefert auch hierzu eine Liste: Migration, Genderpolitik, Klimapolitik, Außenpolitik (Transatlantik, Russland/Ukraine, Israel/Palästina, EU-Kritik) und Energiepolitik sind demnach ebenfalls Themenfelder mit einem “„Diskurskorridor“, der schwer zu verlassen ist.”
Auffällig ist dabei, dass dies Themenfelder sind — einschließlich der Corona-Maßnahmen —, bei denen die AfD (oder zumindest Teile davon) als einzige etablierte Partei die Minderheitenmeinung vertritt. Dies könnte meines Erachtens besser als rassistische Ressentiments erklären, weshalb mittlerweile ein Viertel der Wähler dieser Partei ihre Stimme geben würde. Der Erfolg der AfD ist meines Erachtens eine Folge der propagierten “Alternativlosigkeit” der Politik der letzten 25 Jahre. Umso wichtiger wäre es, dass sich mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) endlich eine politische Kraft etabliert, die gesellschaftliche Unzufriedenheit jenseits von Rassismus und Neoliberalismus aufnimmt und in konstruktive, demokratische Bahnen lenkt. (1) Politik darf in einer Demokratie nicht alternativlos sein, denn der Wille des Volkes ist es nie.
(1) Es sei daran erinnert, dass dem BSW laut amtlichen Ergebnis nur ca. 9.500 Stimmen fehlten, um in den Bundestag einzuziehen. Und dass sein Ergebnis vom vorläufigen um über 4.000 Stimmen abweicht, dass es also peinlicherweise, wie ich finde, zu laienhaften Fehlern bei der Auszählung gekommen ist, dass trotzdem nicht alle Wahlkreise noch einmal nachgezählt wurden, obwohl es “für das BSW reichen [würde], wenn bei einer Neuauszählung eine zusätzliche Stimme für das BSW in jedem 10. Wahlbezirk gefunden wird”, wie die Co-Vorsitzende Amira Mohamed Ali vorrechnete. —
Zudem, und das scheint mir der wichtigste Punkt, auf den ich bereits hingewiesen habe, hätten CDU, CSU und SPD, die wohl die nächste Regierung stellen werden, keine Mehrheit mehr im Bundestag, wenn das BSW eigentlich doch vertreten sein müsste. Aber genau die Mitglieder dieser Parteien im Bundestag entscheiden maßgeblich über den eingereichten Antrag auf Neuauszählung — und haben, wie ich es verstehe, nicht einmal eine Frist, bis wann sie das entscheiden müssen. Ich lehne mich einmal ganz weit aus dem Fenster und prophezeie, dass es nicht zu einer zügigen Entscheidung kommen wird — und dass sie negativ ausfallen wird, also gegen eine Neuauszählung.
Dabei scheint mir, dass bei einer solchen Relevanz des Wahlergebnisses und der bereits kenntlich gewordenen Fehleranfälligkeit der Auszählung, jeder Demokrat FÜR eine sofortige Neuauszählung sein müsse.
(DISCLAIMER: Für diese Fußnote habe ich ChatGPT nicht nur als Quelle verwendet, sondern mir auch alternative Formulierungen vorschlagen lassen, um ihr ihre anfängliche Polemik zu nehmen, die mir zu emotional erschien. Dadurch habe ich aber auch ewig an dieser Fußnote gesessen. Man fragt sich, ob sie überhaupt gelesen wird. Wenn DU diese Fußnote gelesen hast, dann schreib mir das doch gerne in den Kommentar, gerne auch, ob Du ihr inhaltlich zustimmen kannst.)
Die Leidensminimierung als m.E. verfehlte Wertsetzung habe ich ja bereits angesprochen. Mir scheint, dass in der Corona-Pandemie aber eine paradoxe Leidensminimierung praktiziert wurde, die mit Scheuklappen ganz bestimmte Formen des Leidens verhindern wollte, nämlich all die Arten, die mit dem Virus direkt zusammenhingen, und alle anderen Formen des Leidens ignorierte, bspw. die psychologischen und wirtschaftlichen Folgen von Lockdowns, Schulschließungen, Ausgrenzungen, und Omas von Parkbänken jagen…
Dies gilt umso mehr, je komplexer und chaotischer das System ist, für das sie Vorhersagen treffen will. Der Wetterbericht für Ostbelgien ist ein schönes Beispiel sowohl dafür, dass es voneinander abweichende Prognosen gibt, je nachdem, welchen Wetterdienst man befragt, und auch dafür, dass die Prognosen selten im Detail stimmen. Das macht den Wetterbericht nicht sinnlos, aber er nimmt mir nicht die Arbeit ab, selbst aus dem Fenster und in den Himmel zu blicken — und mich sowohl für den Fall zu wappnen, dass es regnet, wie auch, dass die Sonne scheint.
Oder eben mit dem Tunnelblick der chronisch Überforderten, wie eine Freundin es mir gegenüber kürzlich beschrieb. Im Versuch, alles am Laufen zu halten, hatten viele schlicht keine Zeit, die Narrative zu hinterfragen. Richtiger müsste man natürlich sagen, sie nahmen sich die Zeit nicht, sprich: sie priorisierten das Funktionieren vor dem Hinterfragen.
In manchen Fällen mag dies äußerst nachvollziehbar gewesen sein, in anderen Fällen feige, oder nicht einmal wahr, sondern eine Ausrede, weil man keine Lust hatte, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, was passierte, und unter welchen Bedingungen man nicht mehr bereit sein würde, mitzugehen. Ein Freund sagte mir in dieser Zeit auf die Nachfrage, was denn noch passieren müsste, dass er mit den Maßnahmen nicht mehr mitgehen könnte: “Darüber möchte ich gar nicht nachdenken.” Immerhin ehrlich. (Siehe auch Fußnote 2.)
Es ist aber nie zu spät, sich der Realität kritisch zu stellen. Jeder kann heute — ohne Angst vor den unangenehmen Konsequenzen, (1) und insofern sehr viel distanzierter als 2021/22 — zurückblicken, und sich mit der Corona-Zeit kritisch auseinandersetzen. Dieser Artikel, diese Artikelreihe, will dazu einen Beitrag liefern, einen Anknüpfungspunkt. Und wenn eine kritische Beschäftigung mit allem, was wir heute über diese Zeit wissen können, beim Einzelnen zum Ergebnis führt, dass alles (oder doch das meiste) genau richtig so war, dann überrascht mich das, aber ich kann es akzeptieren. Es wäre dann sehr interessant für mich zu erfahren, wie man zu solch einer Einschätzung kommen kann.
(1) Außer natürlich die unangenehme Konsequenz für das Selbstbild, wenn man feststellen muss — falls man zu diesem Schluss kommt —, dass man sich an einer Sache beteiligt hat, die bei genauer Betrachtung ziemlich unmoralisch war.
Die große Spanne, die “20 bis 70-Mal” aufmacht, liegt wohl an den oben erwähnten Schwierigkeiten der Gewichtung aller relevanten Faktoren. (Man kann nie wissen, dass man alle relevanten Faktoren berücksichtigt hat.)
Das gefährliche am Utilitarismus ist, dass er grundsätzlich “über Leichen zu gehen” bereit ist, wenn der versprochene Nutzen den dabei angerichteten Schaden aufwiegt. Methodisch könnte man sagen, der Utilitarismus ist gefährlich, weil er glaubt, man könne diese Dinge (Freude und Leid, oder ähnliche “Werte”) aufaddieren und dann eine Summe ziehen. Psychologisch ist er gefährlich, weil sich Proponenten anmaßen, sie könnten die Konsequenzen einer (politischen) Handlung überblicken, obwohl das Gegenteil der Fall ist. Da wir nicht wissen können, was die Früchte unserer Handlungen sind, ist jede konsequentialistische Ethik ein Irrweg.
Man könnte dies als eine Art gesellschaftlichen Stockholm-Syndroms verstehen: Auch wenn wir wissen, dass der Medizinwirtschaft nicht zu trauen ist — in der Krise sind wir — sprich: fühlen wir uns — plötzlich abhängig von ihnen und klammern uns an die Hoffnung, dass sie letztlich doch unser Bestes wollen. Auch jenseits von Corona entspricht dies der Entmündigung des Patienten, insbesondere im Krankenhaus, die Ivan Illich kritisierte, die ja auch nur möglich ist, weil der Patient sich entmündigen lässt.
Insofern ist es zwar ehrlicher, die Formulierung “an oder mit” zu nutzen, hilft aber praktisch nichts, solange die Zahlen nicht auseinander gedröselt werden (können), und der Eindruck entstehen kann, “an” und “mit” seien in etwa gleich zu gewichten, wenn dies so gar nicht zutrifft.
Und auf der philosophischen Ebene wird es dann eine entgültig nicht zu beantwortetende Frage. Für Schopenhauer bspw. ist jeder Tod letztlich ein Selbstmord.
Eine Impfung, die den Geimpften geschützt hätte, hätte man den wenigsten Gefährdeten aufzwingen müssen. Wer sich schützen will, kann es; wer nicht, darf autonom die Risiken auf sich nehmen. Perverserweise handelte es sich aber um eine Impfung, die weder vor der Ansteckung schützte, noch vor der Verbreitung, sondern höchstens vor kritischen Verläufen. Und perverserweise wurde die gesamte Pandemie immer wieder behauptet, man müsse Menschen dazu zwingen, andere Menschen zu schützen, indem sie experimentelle Verfahren (Lockdowns, Tests, Masken, Massenüberwachung, Impfungen) gegen ihren Willen über sich ergehen lassen müssten, von denen überhaupt nicht klar war, ob sie andere Menschen wirklich schützten. Eine Sache war aber von Anfang an glasklar und wurde insofern willentlich in Kauf genommen: Diese Menschen, die gegen ihren Willen zu etwas gezwungen wurden, das sie als inakzeptabel ansahen, verloren jedes Vertrauen in den Schutz vor staatlicher Willkür, das sie bis dahin gehabt hatten. Die gefährliche Polarisierung der Gesellschaft wurde somit aufs Vorzüglichste vorangetrieben.
Historisch zeigen dies am eindrucksvollsten wohl die Gräuel des 20. Jahrhunderts im Nationalsozialismus und den “kommunistischen” Regimen in der UdSSR und China. Bei psychologischen Experimenten mag man an das Milgram-Experiment sowie das Stanford-Prison-Experiment denken. Literarisch mag man an Herr der Fliegen oder Die Meuterei auf der Bounty denken. Dies sind jeweils nur die Spitzen der Eisberge.
Wobei Intellektuelle und Politiker dabei sicherlich nicht als gänzlich schuldlos bezeichnet werden können.
Ich bin an anderer Stelle schon einmal darauf eingegangen, dass man “Vergleich” und “Gleichsetzung” nicht gleichsetzen darf. Vergleichen kann man zwei Dinge immer, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten; gleichsetzen sollte man sie selten.
Erinnern wir uns bspw. an die geplante Entführung des Gesundheitsministers.
Ähnliche Ideen gibt es auch in den meisten anderen Religionen und Philosophien. Das Christliche ist einfach die Tradition, in der ich kontingenterweise stehe.
Ich kann an dieser Stelle nicht tiefer darauf eingehen, was Illich gemeint hat. Der geneigte Leser besorge sich das wirklich lesenwerte Buch (In den Flüssen nördlich der Zukunft). Ich hoffe, in Zukunft aber explizit zu diesem Buch Artikel zu veröffentlichen, die sich der Illich-Exegese ganz hingeben können werden.
In der Folge dieses Satzes führt Solschenizyn noch aus, der Mensch sei zum beidem gleichermaßen begabt, zum Guten wie zum Bösen, und die Umstände trieben ihn mal eher in die eine, mal eher in die andere Richtung. "Vom Guten zum Bösen ist es einen Windstoß weit, sagt unser Sprichwort. Demnach auch vom Bösen zum Guten." (S. 87) Wobei ich da eine Asymmetrie sehen würde, die S. nicht ausführt.
Der Bösewicht sei nicht so, wie er in der Literatur (bei Schiller, bei Shakespeare, bei Dickens) naiv dargestellt werde, als einer, der wisse, dass er ein Bösewicht sei. "Um Böses zu tun", müsse der Mensch seine Taten aber "als Gutes begreifen oder als bewusste gesetzmäßige Tat." (S. 89) Hier liege die gefährliche Macht der Ideologie: "Sie ist es, die der bösen Tat die gesuchte Rechtfertigung und dem Bösewicht die nötige zähe Härte gibt." Durch die Ideologie werde der Mensch fähig, alle Grenzen zu überschreiten, und dies noch für die Gute Sache zu tun zu glauben. Und überschreitet er einmal eine gewisse Grenze, dann führt vllt kein Windstoß mehr zurück zum Guten: "Ja, es wankt und zaudert der Mensch sein Leben lang zwischen Gut und Böse, rutscht aus, rutscht ab, klettert hoch, bereut und wird wieder finsterer, doch solange die Schwelle der Greueltat nicht überschritten ist, liegt die Rückkehr in seiner Hand, ist er selber noch von unserer Hoffnung erfassbar. Sobald er aber durch die Dichte seiner Vergehen oder den Grad ihrer Verderbtheit oder die Absolutheit der Macht über die Schwelle hinausgeht, hat er die Menschheit verlassen. Vielleicht unwiederbringlich." (S. 90f.) Ich halte dieses “Vielleicht” für sehr wichtig, denn wir können nicht wissen, ob es nicht doch ein Wiederbringen geben kann (Gnade): “Speriamo che l'inferno sia vuoto.”
Danke für diesen Text. Ich kannte Desmet nicht und freue mich, seine Sichtweisen durch deine Artikelserie kennen zu lernen.
Für mich war damals ein besonders einschneidender Moment, als der Bundesrat gesagt hat, dass alle Massnahmen aufgehoben werden würden, sobald sich alle Menschen haben impfen lassen, die das möchten - und das dann so nicht geschehen ist. Das ganze Spiel mit den Zahlen war für mich absurd und diese angebliche "Wissenschaftlichkeit" war (und ist) aus meiner Sicht lediglich Teil eines Glaubenssystems. Damit will ich nicht sagen, dass alles falsch ist, was die Wissenschaft produziert, aber auch hier spielen vor allem die unbewussten Glaubenssätze eine zentrale Rolle. Vor allem in der Frage, welchen Studien man Glauben schenkt und welchen nicht.
Über die Rolle von Glaubenssätzen und Begriffe wie "Verschwörungstheoretiker" habe ich im Oktober 2023 einen Text geschrieben, wo ich u.a. auch die mediale Auseinandersetzung von Daniele Ganser als Beispiel aufführe - den hast du in deinem Text ja auch erwähnt. Gerne teile ich hier den Link auf diesen Text mir dir, da du ja zu viel freie Zeit hast und gerne noch mehr von mir lesen möchtest. ;-) https://teildernatur.substack.com/p/die-grenze-der-empathie
Die Fussnote 3 habe ich übrigens gelesen und mein oben erwähnter Text "Die Grenze der Empathie" geht hier in eine ähnliche Richtung - ich sehe es also ähnlich wie du.
Ich gebe zu, dass ich aber nicht ganz alle Fussnoten gelesen habe. Zur Fussnote 13 kann ich aber noch eine Anmerkung machen: Rutger Bregman argumentiert in seinem Buch „Im Grunde gut“, dass die "Herr der Fliegen" Geschichte mitnichten zeigt, dass die Decke der Zivilisation dünn ist, sondern wie ein alkoholsüchtiger und depressiver Autor die Zivilisation wahrnimmt. Er hat daher lange nach einer echten solchen Geschichte von Schiffbrüchigen gesucht - und auch gefunden. Darüber habe ich hier geschrieben: https://teildernatur.substack.com/i/147201724/der-reale-herr-der-fliegen - noch ein Text, den du (nicht) lesen musst. :-)
"Wenn wir uns als Menschen und als Menschheit weiterentwickeln wollen, werden wir früher oder später aber doch an den Punkt kommen, an dem wir von unseren Herzen ein Stück vernichten müssen."
Ich habe fiese Anfeindungen von vermeintlichen Freunden erlebt in dieser Zeit - dabei habe ich niemandem irgendetwas vorgeschrieben, sondern nur darum gebeten, dass ich in Frieden gelassen werde. Da war unfassbarer Hass und wäre meine direkte Familie nicht ebenfalls ungespikt geblieben, ich weiß nicht, ob ich nicht seelisch zugrundegegangen wäre. Meine Soloselbständigkeit und mein Lebenswerk, meine wirtschaftliche Existenz wurde durch die Maßnahmen vernichtet (ohne Entschädigung und ohne Entschuldigung bis heute).
Was Du oben ansprichst, bedeutet in meinen Augen schlicht: Vergebung. Unabhängig davon, dass für Christen Vergebung Pflicht ist (Matth. 6,15), und auch unabhängig davon, ob die Täter ihre Schuld zugeben, bereuen und bei mir um Vergebung bitten. Wenn ich meinen Feinden/Schädigern nicht vergebe, führt das nur dazu, dass ich den Rest meines Lebens verbittert lebe - die Schädiger aber fröhlich weitermachen, die haben ja kein Gewissen mehr, schon gar kein schlechtes.
Vergebung bedeutet allerdings nicht, dass ich keine Konsequenzen für die Regierung und ihre Handlanger einfordern darf, denn es muss ja verhindert werden, dass die einfach wieder und wieder Dasselbe durchziehen.
Aber es bedeutet, dass ich keine Rache anstrebe. Und die Bitterkeit ablege.
Es bedeutet auch, wie Du schreibst, dass ich mir selbst immer wieder sage, dass auch meine eigenen Überzeugungen für eine wissenschaftliche Überprüfung und möglicherweise Falsifikation offen sein müssen, ich also den Gedanken "der andere könnte Recht haben" immer im Hinterkopf behalte.