Dies ist der dritte Teil einer Artikel-Reihe. Hier geht es zum ersten Teil:
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Westliche Agonie
Der Westen ist für Todd im Kern die eigentliche Heimat der liberalen Demokratie, wobei sich diesem Kernwesten im Laufe der Geschichte auch Länder angeschlossen haben, wie Deutschland, Italien und Japan, die aufgrund ihrer Familienstruktur und der damit einhergehenden Werte eigentlich eher zu autoritären Regimen neigen würden (und diese ja auch hervorgebracht haben, bevor sie sich dann dem Westen anschlossen).
Zu diesem Westen vertritt Todd nun vor allem drei große, zusammenhängende Thesen:
Diese Länder seien (großteils) nur noch formal liberale Demokratien, soziologisch betrachtet aber “liberale Oligarchien”1
Diese Entwicklung sei zurückzuführen auf das völlige (oder weitreichende) Verschwinden der Religion in diesen Ländern als sozialer Wirkfaktor. Todd nennt dies den “Nullzustand” der Religion.
Die nunmehr fragmentierten Gesellschaften des Westens seien dabei, aufgrund der religiösen — ich würde sagen, spirituellen — und kulturellen Leere, auch ökonomisch zu kollabieren.
Wir werden uns diesen drei Thesen der Reihe nach zuwenden, um abschließend noch einen besonderen Blick auf die USA als Führungsmacht des Westens zu werfen.
I. Der Westen als “Liberale Oligarchien”
Todd hält seine erste These nicht für sonderlich bedeutsam oder spannend. Es gebe schon unzählige Veröffentlichungen zu diesem Thema. Eine liberale Demokratie lasse sich grob wie folgt charakterisieren:
“Als Rahmen hat sie einen Nationalstaat, innerhalb dessen die Bürger sich dank einer gemeinsamen Sprache ungefähr verständigen können — meistens, aber nicht immer. Es finden dort allgemeine Wahlen statt. Parteienpluralismus, Meinungs- und Pressefreiheit sind sicher. Und schließlich, als grundlegender Wesenszug: Es gilt die Mehrheitsregel, während zugleich Minderheiten geschützt sind.” (S. 129)
Wobei der Minderheitenschutz das Wort “liberal” rechtfertigt, die Mehrheitsregel das Wort “Demokratie”.2 Minderheiten würden im Westen durchaus geschützt. Insbesondere, so Todd nicht ohne Häme, seien “die am besten geschützte Minderheit im Westen … mit Sicherheit die Reichen”.
Anders aber stünde es um die Mehrheitsregel. Formal gibt es freie Wahlen, doch das Volk werde “von der wirtschaftlichen Verwaltung und der Verteilung des Wohlstands ferngehalten”, und zwar durch Täuschung. Dauerhaft ist es aber nicht leicht, ein Volk zu täuschen, wodurch der disconnect zwischen Elite und Bevölkerung für alle immer spürbarer würde:
“Wenn das Volk und die Elite nicht mehr miteinander übereinkommen, um gemeinsam zu funktionieren, dann hat der Begriff der repräsentativen Demokratie keinen Sinn mehr: Wir landen bei einer Elite, die nicht mehr vertreten will, und bei einem Volk, das nicht mehr vertreten werden will.” (S. 130)
Zumindest nicht von diesen Eliten, weshalb sie sich andere, “populistische” Führer suchten, wie Donald Trump in den USA und die AfD in Deutschland. Was das Problem aber nicht lösen würde, weil der zugrundeliegende Prozess unumkehrbar sei, die Fragmentierung der Gesellschaft.
Diese sei im wirkmächtigen Moment des Protestantismus bereits angelegt gewesen. Denn dessen relevanteste Neuerungen seien — aus anthropologisch-historischer Sicht:
die Alphabetisierung der Bevölkerung gewesen — weil jeder Mensch die Bibel in der Volkssprache lesen können sollte — und
ein Menschenbild, das aufgrund der Prädestinationslehre in zwei klare und von Anfang an feststehende Kategorien unterteilt: die Erretteten und die Verdammten, woraus sich die Ansicht ableitet, dass “die Menschen nicht gleich seien”.
Das erste Element habe zu besserer Bildung und in der Folge zum wirtschaftlichen Vorsprung des Westens geführt. Das letztere Element, dass die Menschen nicht gleich, sondern ungleich seien, trete nun in seine volle Wirkmacht, nachdem es endgültig vom religiösen Überbau befreit sei und untergrabe die Demokratie.3
Das “Gefühl einer grundlegenden demokratischen Gleichberechtigung” scheint erschöpft.4 Todd vermutet, dass das Aufkommen einer “Massenelite”, also 30 bis 40% einer Generation mit Hochschulabschluss, die sich “tatsächlich überlegen” fühlt, mit dafür verantwortlich sei. Gleichzeitig seien Politiker und Journalisten in Umfragen die “am wenigsten respektierten Berufe.”
Inwiefern hilft diese Analyse nun, das “chaotische” Auftreten des Westens im Ukraine-Krieg (und dessen Vorlauf) zu verstehen? Nun, Todd zufolge bringen die westlichen liberalen Oligarchien “diplomatisch inkompetente Eliten hervor”, weil sie formal als Demokratien gelten und daher einen großen Aufwand betreiben müssen, diesen Schein aufrecht zu erhalten. Dies sei “die Arbeit, der sie sich vornehmlich widmen.”5
Dadurch träten sie dann unvorbereitet auf die geopolitische Weltbühne, zugleich aber mit der Erwartungshaltung, sie könnten andere Länder ebenso leicht — oder schwer, aber doch halbwegs erfolgreich — täuschen, wie die eigene Bevölkerung. Diese Rechnung gehe nun aber nicht auf, denn die Führer der nicht-westlichen Welt müssten keinen vergleichbaren Aufwand betreiben, und hätten entsprechend die Muße, “über die Welt nachzudenken”.
II. Religion im Null-Zustand
Die Probleme des Westens seien aber tiefergehend als lediglich ein “Krieg der oberen Gesellschaftsschicht gegen die untere.”6 Die soziale Fragmentierung pulverisiere die Identitäten der Menschen auf allen Ebenen, wodurch der Staat an Macht gewinne.7 Möglich sei dies durch das allmähliche Verschwinden der Religion als sozialem Kit geworden, das ein nicht-füllbares Vakuum hinterlassen habe.
Die politischen Ideologien des 18. bis 20. Jahrhunderts seien “kollektive Ersatzglaubensmuster” gewesen, wie der Nationalismus, der Sozialismus, der Kommunismus, die Sozialdemokratie, der Nationalsozialismus, etc. Diese Ideologien hätten von einem “zombieartigen Zustand der Säkularisierung” profitiert, “in dem der Kern der Sitten und Werte der verschwundenen Religion weiterbestand.”
Soziologisch-statistisch könne man den Übergang von aktiver Religion zum Zombiezustand und dann zum Nullzustand wie folgt in Zahlen fassen. Im aktiven Zustand sei der sonntägliche Gottesdienstbesuch die Regel. Dieser breche im Zombiezustand ein, allerdings blieben die “drei Übergangsriten” Geburt, Ehe und Tod weiterhin in “das christliche Erbe eingebettet”. Die Kinder würden getauft, die Ehe in der Kirche geschlossen, und die Beerdigung — nicht Einäscherung — mit christlichem Ritus abgehalten.
Der “christliche Nullzustand” sei erreicht, wenn die Kinder nicht mehr getauft, die Ehe nicht mehr formal christlich und die Menschen nicht mehr beerdigt, sondern eingeäschert würden. Die “Ehe für alle” sei ein guter Marker für das “Verschwinden christlicher Eheformen”, und ihre Einführung lasse sich als Datum benennen, wann die verschiedenen Länder in diesen Nullzustand endgültig eingetreten seien: Belgien in 2003, Deutschland 2017, die USA 2015:8
“Man kann die 2000er-Jahre also als die Jahre des effektiven Verschwindens des Christentums im Westen definieren, und zwar präzise und absolut. Auch eine Konvergenz zwischen dem Fehlen von Katholiken und Protestanten lässt sich feststellen. Osteuropa ist nicht betroffen und in Italien gibt es durch den Vatikan immer noch nur die Zivilehe.” (S. 138f.)
Die Gegner des Christentums und Befürworter des Atheismus hätten sich der Illusion hingegeben, “dass der Mensch, ist er erst vom Kollektiv befreit, wachsen würde” — das Gegenteil sei aber eingetreten, das isolierte Individuum leide unter der Leere und der Verantwortung, alles selbst entscheiden zu müssen, erweise sich dabei aber als “genauso intolerant” wie die Gläubigen früher.
“Der Einzelne kann nur innerhalb und durch eine Gemeinschaft wachsen.” (S. 139)
Besonders fortgeschritten sei der Nullzustand des Christentums in der angloamerikanischen Welt, diese sei daher “aktuell Schauplatz der offenkundigsten Manifestation des Nihilismus”, worauf wir gleich zurückkommen werden. Zuvor wollen wir in aller Kürze noch Todds dritte These beleuchten.
III. Der ökonomische Niedergang
Todd spricht hier von einem “Suizid der Europäischen Union”, vom “selbstzerstörerischen Charakter der Sanktionen”, der sich in den hohen Inflationsraten im Westen niederschlage, von der nunmehr negativen Handelsbilanz der Eurozone im Jahr 2022, von der Zerschlagung wirtschaftlicher Zusammenhänge mit Russland, von der Sabotage der Nord Stream-Pipeline — die er mit Seymour Hersh den USA mit Hilfe Norwegens zuschreibt — in diesem Zusammenhang von einem “Machtverzicht des deutschen Giganten” und einem “Freiheitsverzicht der gesamten europäischen Elite” um dann die Frage zu stellen:
“Warum haben sich die Europäer, besonders das Europa der sechs Gründerstaaten, ohne militärische Bedrohung in einen Krieg begeben, der ihren Interessen so zuwiderläuft und dessen offizieller Zweck moralisch zweifelhaft ist?” (S. 145)
Die offizielle Antwort auf diese Frage würde im Westen lauten, dass die Frage falsch gestellt ist, denn wir seien militärisch bedroht und der Zweck des Krieges sei hochgradig moralisch. Nur das kauft Todd dem Westen beides nicht ab, wie wir weiter oben bereits sahen. Seine Erklärung basiert auf dem, was er einen “Nullzustand der Moral” nennt. Durch das Fehlen einer echten Werteorientierung habe sich Europa in diesen Krieg treiben lassen, aber nicht alleine von den USA oder der Ukraine, sondern vor allem von seiner eigenen “Implosion”:
“Die EU brauchte einen äußeren Feind, um neu zusammengeschweißt zu werden und wieder in Gang zu kommen.” (S. 146)
Nur dass dies laut Todd kein bisschen funktionieren wird. Der Krieg werde Europa nicht zusammenschweißen, sondern “alles explodieren” lassen. Man kann beobachten, wie Europa sich müht, sich auf eine Kriegswirtschaft umzustellen, nachdem die Industrie in eine Krise geraten ist. Aber eine Kriegswirtschaft ist nicht nachhaltig. Ein Indiz: Nach den großen Kriegen der Vergangenheit hatten auch die Siegermächte in Europa unter den wirtschaftlichen Folgen zu leiden.
Um das alles noch tiefer zu verstehen, müsste man sich mit der globalen Finanzwirtschaft beschäftigen, insbesondere mit dem Phänomen der Steueroasen, wo die Eliten ihr Geld nicht mehr nur versteckten, sondern arbeiten ließen. Ohne hier noch auf Details eingehen zu können — der interessierte Leser sei auf das Buch verwiesen — hätten sich die europäischen Eliten finanziell sehr abhängig von den USA gemacht und seien ihnen darum ausgeliefert, und daher der bedingungslose Gehorsam.9 Wie aber steht es nun um die USA selbst?
IV. Die USA: Oligarchie und Nihilismus
Auch wenn dies in Europa nicht hinreichend zur Kenntnis genommen würde, sei für den Rest-der-Welt klar, dass die Übermacht der USA rasant schwinde: Ihr Anteil an der weltweiten Industrieproduktion sei von 45% 1945 auf 17% heute gesunken (wobei es in Wahrheit noch weniger sei, die Zahl würde künstlich aufgebläht durch die “Finanzindustrie”.
In den BRICS-Ländern und der muslimischen Welt werde dies strategisch zur Kenntnis genommen, nur in Europa nicht. Dies habe auch seine Logik. Je weniger die USA die ganze Welt dominieren könnten, desto wichtiger würden die unmittelbaren “Vasallen” Europa, Japan, Südkora, Taiwan, auf deren industrielle Produktion und Zusammenarbeit sie angewiesen seien:
“Durchforsten wir das Unterbewusstsein der NATO, so stellen wir fest, dass seine militärische, ideologische und psychologische Mechanik nicht mehr dazu da ist, um Westeuropa zu schützen, sondern um es zu kontrollieren.” (S. 168)
Soweit die Betrachtung dessen, was am Verhalten der USA aus nationaler Sicht nur logisch ist. Man müsse jedoch verstehen, dass die USA nicht mehr von Logik getrieben seien. Todd spricht vom “amerikanischen schwarzen Loch” als “Zentrum der Weltkrise”, und von der “Dekadenz ihres amerikanischen Zentrums, die … unbegrenzt ist”.10 Starke Thesen, denen ich mich hier aber nicht mehr in aller Ausführlichkeit, sondern nur sehr überblicksartig widmen will.
a) Indikatoren für die Dekadenz
In den USA lasse sich, vor allem bei den Eliten, der Nullzustand der Religion und, in der Folge, der Moral weit fortgeschritten beobachten. Todd spricht von einem “gefährlichen Zustand der Leere, in der eine übriggebliebene Besessenheit von Geld und Macht waltet.” Das Streben nach Geld und Macht ohne andere Werte sei aber nicht nachhaltig, es führe zur Selbstzerstörung.
In der Bevölkerung zeige sich das beispielsweise durch:
die Zunahme der Sterberaten an Alkoholmissbrauch, Suizid und Drogenabhängigkeit, vor allem bei weißen Männern zwischen 45 und 54;
eine sinkende Lebenserwartung;
die schlechte Kindersterblichkeitsrate;
und dies alles bei gleichzeitig “weltweit höchsten Ausgaben im Gesundheitswesen”. Auf die Tatsache, dass ein Teil dieses Gesundheitswesen in Wahrheit dazu genutzt wird, die Bevölkerung krankzumachen und zu töten, habe ich bereits an anderer Stelle ausführlich hingewiesen (Stichwort Opioidskandal).
Weitere Indizien sind:
die “höchste Inhaftierungsrate der Welt”,
die meisten mass shootings, und
die Fettleibigkeit, unter der mittlerweile bald die Hälfte der Bevölkerung leidet (und das trotz dem massiven Einsatz von Fettabsaugung und Wunderpillen/-spritzen, das Problem wäre eigentlich also noch größer).11
All diese Probleme beträfen aber vor allem die unteren 90% der Bevölkerung und seien den Eliten relativ egal. Das Ignorieren dieser Probleme wirke sich nun langsam aber doch auf die Fähigkeiten zur industriellen Produktion aus, was auch den Eliten zu denken geben könnte.
b) Industrieller Niedergang
Groß seien die USA industriell nur noch in den Bereichen Big Tech und Gas, also an “zwei Enden des Spektrums menschlicher Tätigkeiten: Die Zeilen von Computercodes tendieren zur Abstraktion, Energie ist ein Rohstoff.” Alles dazwischen sei problematisch, und so hätte der Krieg in der Ukraine offengelegt, wie es um die Fähigkeiten der Militärindustrie bestellt sei, Material in ausreichenden Mengen zu produzieren, nämlich schlecht.
Die industrielle Produktion physischer Güter mache auch nur 20% des BIP aus — der Rest entfalle auf Dienstleistungen, “von denen ich keinen Grund habe anzunehmen, dass sie ‘echter’ sind als der Gesundheitszustand selbst.” Seinen Berechnungen nach12 müsste man statt des aufgeblasenen BIPs von 76 000 $ pro Kopf daher ein WIP13 von ca. 40 000 $ pro Kopf als realistische Wirtschaftsleistung der USA annehmen — also ähnlich wie in Westeuropa, und den Kindersterblichkeitsraten korrespondierend, “wobei Deutschland jetzt an der Spitze steht und die Vereinigten Staaten an allerletzter Stelle.”
Dass es der USA schwer fallen dürfte, diese Entwicklung der Deindustrialisierung rückgängig zu machen, was ja ein großes Anliegen der Trump-Administration ist, läge daran, dass sie mit dem Dollar die de facto Weltwährung produzierten, mitsamt der Fähigkeit “Geldvermögen aus dem Nichts zu schöpfen”. Das mache es anderen Wirtschaftszweigen außer dem Finanzsektor schwer:
“Die Weltwährung zu minimalen oder gar keinen Kosten zu produzieren, macht jede andere Aktivität außer der Geldschöpfung unrentabel.” (S. 248)
c) Nihilistische Außenpolitik
Wie erwähnt, bleiben laut Todd, nach dem Verlust aller anderen Werte noch das Streben nach Geld und Macht. Innerhalb dieser Dynamik reiht Todd dann auch die Außenpolitik der USA ein. Er spricht von einem “Dorf Washington”, in dem eine relativ kleine Clique von Eliten “keinem Ideensystem mehr” gehorchten, sondern nur noch auf die “eigenen lokalen” Impulse reagierten.
In Anlehnung an Stephen Walt spricht Todd von einem “Blob”, “den für die Außenpolitik zuständigen Mikrokosmos”.14 Die Teilnehmer dieses Blobs blieben ihre gesamte Karriere lang unter sich, auch wenn sie “ihre Positionen und scheinbar auch den Beruf wechseln”, und dieses “Gefangensein im ‘Internationalismus’” mache sie “besonders anfällig für Aktivismus”. Je ambitionierter die US-amerikanische Außenpolitik, desto wichtiger und einflussreicher sie selbst:
“Woraus zum einen die Neigung entsteht, Bedrohungen aufzublasen, und zum anderen eine militärische Machtbesessenheit. Dass die Konflikte sich aufheizen, liegt in ihrem (beruflichen) Interesse!” (S. 261)
Todd nennt ein paar Namen — Samantha Power, Robert Kagan, Victoria Nuland, etc. —, deren Lebensläufe (nebst der Verflechtungen) und Verhalten man sich als Beispiele anschauen könnte. man käme dann seiner Ansicht nach nicht auf das Bild eines deep state, “eines effizienten, manipulativen Systems”, sondern eines shallow state, also einem “Amerika, das weder weiß, wer es ist, noch, wo es hinwill”.
Diese macht- und geltungssüchtige außenpolitische Elite der USA sei der Ukraine in die Falle gegangen:
“Vor allem gewinnt der ukrainische Nationalismus an Macht. Die Regierung in Kiew verfolgt [2021] ihren unmöglichen, also nihilistischen Traum, den Donbass und die Krim zurückzuerobern und russische Einwohner erneut zu unterwerfen (oder zu vertreiben), indem man ihnen den Gebrauch ihrer Sprache verbietet. Sie verhält sich nicht nur, als wäre die Ukraine de facto bereits Mitglied der NATO …, sondern sogar, als wäre die NATO eine Offensivallianz im Dienste ihrer De-facto-Mitglieder!” (S. 316)
Die US-Eliten hätten die Ukraine militärisch aufgerüstet, nicht weil sie einen Krieg mit Russland gewollt hätten, und auch nicht, weil ihnen das ukrainisch-nationalistische Anliegen etwas bedeutet hätte, sondern weil es ihnen Macht und Einfluss versprach. Und die Ukraine habe dies genutzt, um einen Krieg gegen Russland vorzubereiten. Russland sei dem mit seinem eigenen Angriff begegnet, der insofern als präventiv-defensiv einzustufen sei.
Durch den erfolgreichen Widerstand der Ukraine sei die USA in die Eskalation hineingezogen worden — und habe ihrerseits Europa mitgezogen —,
“aus der sie nicht mehr herauskommen können, wenn sie nicht einen Niedergang erleiden wollen, der nicht nur einfach lokal, sondern umfassend wäre: militärisch, wirtschaftlich und ideologisch. Eine Niederlage hieße jetzt: deutsch-russische Annäherung, die Entdollarisierung der Welt, das Ende der Importe, die von der ‘kollektiven Inlands-Notenpresse’ bezahlt werden, große Armut.” (S. 317f.)
Wenn wir viel Glück hätten, so Todd, dann seien die US-Eliten zu verblendet, um diese Gefahr einzusehen, und es könnte trotzdem zu einem Frieden kommen, der keine Niederlage für Russland bedeutet. Der amerikanische Nihilismus — und das erratische Agieren der Trump-Administration — mache aber jede Vorhersage unmöglich.
Koda
Ich halte Todds Darstellung des geopolitischen Geschehens für plausibel, das heißt, in sich relativ kohärent und ohne größere logische Widersprüche.15 Ich bin jedoch nicht selbstverliebt genug, um zu glauben, dass ich wirklich beurteilen könnte, wie nahe er an der Realität ist. Nur, wenn Todd Recht hat, dann ist so gut wie niemand in dieser Lage.
Das einzige, was wir tun können, um diesem Missstand zu begegnen, dass wir nicht allwissend sind, ist, zur Kenntnis zu nehmen, welche Argumente andere gegen Todds Thesen ins Feld geführt haben, und diese ebenfalls auf ihre innere Kohärenz und Glaubwürdigkeit zu prüfen.
Dies wird in einem vierten Teil geschehen. Vielleicht hast DU ja ein gutes Argument gegen Todds Thesen? Dann schreib es gerne in den Kommentar!
Todd betont, das Ziel dieser “Neuklassifizierung” sei es nicht, moralisch zu urteilen, sondern das Verhalten des Westens im Ukraine-Konflikt “besser zu begreifen”.
Die anderen nicht-notwendigen Eigenschaften hält Todd aber auch für zumindest porös. Wir hatten bereits gesehen, dass er den westlichen Ländern den Status des Nationalstaats abspricht. Parteienpluralismus, Meinungs- und Pressefreiheit werden im Namen des Kampfes gegen Populismus und “Rechte Gesinnungen” angegriffen, auch wenn sie formal bestehen.
Was die Mehrheitsregel betrifft, ließ sich in der Vergangenheit für Deutschland bemerkenswert oft feststellen, dass Gesetze gegen den Willen der Mehrheit durchgesetzt wurden. Zudem lässt sich in Bezug auf die kommende schwarz-rote Regierung anmerken, dass diese nur von 37,5% der Wahlberechtigten und von 45% der tatsächlich Wählenden gewählt worden ist, also nicht von einer Mehrheit.
Eine ähnliche Kategorisierung findet sich, nebenbei bemerkt, in der woken Ideologie, wie Jonathan Haidt es in The Coddling of the American Mind herausgearbeitet hat: “The Untruth of Us Versus Them: Life is a battle between good people and evil people.” Diese Haltung sei nicht nur konträr zu der überkommenen Weisheit und Ergebnissen der modernen Psychologie, sondern auch schädlich für den Inhaber einer solchen fixen Idee. Das woke Framework beinhaltet noch zwei weitere Glaubenssätze.
Illustriert wird dies in den USA durch die Rhetorik mancher “Demokraten”, die Anders-Wählende als “deplorables” bezeichneten. Oder auch als “garbage”. Auf der anderen Seite haben die “Republikaner” Vivek Ramaswamy und Elon Musk auch klar gemacht, dass ihrer Ansicht nach ein Land wie ein Business zu führen sei, und das Volk dieser Analogie folgend wie Angestellte zu behandeln. N. S. Lyons kommentiert: “What angered people about the two CEOs’ comments was that – like so many of today’s elites – they displayed no sense of loyalty or obligation to Americans as a nation. A nation is not a corporation.” Aber natürlich sind die USA für Todd auch keine Nation mehr. Ein Indiz mehr, dass er Recht haben könnte.
In Deutschland mag man daran denken, dass “Demokraten” eine Oppositions-Partei verbieten lassen wollen, die von 20% der Wähler unterstützt wird, im Osten sogar von deutlich mehr. Das mag man finden, wie man will, profund demokratisch scheint dieses Vorgehen mitnichten. (Zudem stärkt es die AfD, weil es deren Rhetorik glaubwürdiger macht.) Oder auch daran, dass laut einer Umfrage der Zeit, die der schweizer Substacker
Insofern ordnet Todd viele politische Diskurse als Ablenkungsmanöver ein: die “Hysterisierung rassistischer oder ethnischer Probleme und [das] wirkungslose Geschwätz über gleichwohl wichtige Themen: Umweltschutz, die Stellung der Frauen oder globale Erwärmung.” (S. 134)
Diese Formulierung klingt im Deutschen etwas martialisch. Ich weiß nicht, wie es im französischen Original ist, im Englischen ist der Begriff “class war” aber gängig, im Deutschen würde man vielleicht eher Klassenkampf oder Klassenkonflikt übersetzen.
Man könnte dem entgegenhalten, dass das Christentum sich ja liberalisiert und die Ehe für alle wie auch Einäscherungen akzeptiert habe, dass es also nicht verschwände, sondern sich nur transformiere. Soziologisch muss man aber sagen: dass das Christentum diese Liberalisierung vornimmt, zeigt seine Schwäche: es diktiert nicht mehr die Werte, sondern muss sie hinnehmen. Zudem ändern all diese Anbiederungsversuche der christlichen Institutionen an die Bevölkerung nichts daran, dass die Kirchen leer bleiben und dem Klerus gegenüber Misstrauen herrscht. Die christlichen Splittergruppen profitieren in manchen Ländern von diesem Prozess, was aber nur eine weitere Fragmentierung der Gesellschaft bewirkt, keine Rechristianisierung.
Obwohl zu beobachten ist, dass zumindest auf einer oberflächlichen Ebene der Trump-Administration widersprochen wird. Bloßes Mitläufertum sähe anders aus (nämlich so wie Zuckerberg es gemacht hat).
Man könnte leicht auf den Gedanken verfallen, Todd Antiamerikanismus zu unterstellen. Er selbst äußert sich dazu, dass er lange gezögert habe, den USA Nihilismus zu unterstellen. Immerhin sei dieses Land “in einem Klima des Optimismus entstanden” (S. 213). Und weiter führt er aus, unser “intellektuelles Problem” bestehe gerade darin, dass “wir Amerika lieben. Die USA sind einer der Bezwinger des Nationalsozialismus gewesen; sie haben uns den Weg zu Wohlstand und Ungezwungenheit aufgezeigt. Um den Gedanken zu akzeptieren, dass sie heute einen Weg der Armut und sozialen Fragmentierung gehen, ist das Konzept des Nihilismus unerlässlich.” (S. 214)
Todd vertritt die Ansicht, dass Fettleibigkeit ein guter Indikator dafür sei, “für die Kontrolle …, welche Menschen über sich selbst auszuüben in der Lage sind. Die amerikanische Rate verrät ein defizitäres Über-Ich auf gesamtgesellschaftlicher Ebene.” Dies mag zutreffen, wird den Verfechtern der Body Positivity aber als unerhörtes “body shaming” nicht gefallen. Der Wunsch, anderen Menschen gegenüber wohlwollend aufzutreten ist löblich, sollte aber niemals zur Realitätsverleugnung führen. Fettleibigkeit — definiert über einen BMI von über 30 — ist ein gesundheitliches Problem, deutet auf ein psychisches Problem hin, und ist keine willkürliche gesellschaftliche Norm.
Die ich hier weder ausführen werde, noch auf ihre Stichhaltigkeit prüfen kann. Der geneigte und/oder befähigte Leser möge sich das Kapitel im Buch (S. 238f.) anschauen.
WIP soll für Wahres Inlandsprodukt stehen.
Todd führt süffisant aus: “Der Name bezeichnet einen schleimig aussehenden, einzelligen Organismus, den man in Wäldern antrifft, wo er sich vermehrt, indem er Bakterien und Pilze in seinem Umfeld absorbiert. Er besitzt kein Hirn.” (S. 260)
Vom naiv moralischen Standpunkt ist dies durchaus bedauerlich. Es wäre angenehm, den Westen als gut und den Rest, vor allem Russland, aber auch China, den Iran, etc. als böse ansehen zu dürfen. Die Ukraine als reines Opfer, das ohne jede Schuld in diesen Konflikt geraten ist. Es wäre einfach. Aber es wäre unredlich und realitätsfern. Um die Rap-Crew ASD zu zitieren: “Wenn ich träume ist das dumm und ich verarsche mich / träumen ist zwar schön, doch die Dummheit schützt vor Strafe nicht.”
Bietet Todd denn auch Ideen an, wie eine Abkehr von diesem System möglich sein könnte?
Ich stimme mit ihm überein:
Wenn die Menschen gottlos werden, dann sind
die Regierungen ratlos,
die Lügen grenzenlos,
die Schulden zahllos,
die Besprechungen ergebnislos,
die Politiker charakterlos,
die Christen gebetslos,
die Kirchen kraftlos,
die Völker friedlos,
die Sitten zügellos,
die Mode schamlos,
die Verbrechen maßlos,
die Konferenzen endlos
und die Aussichten trostlos.
(den Autor konnte ich bisher leider nicht finden/bestätigen).
Auf mich wirkt das auch sehr gut nachvollziehbar - danke für den interessanten Text! Spannend finde ich insbesondere den Gedanken, dass die Fragmentierung mit "den Erretteten und den Verdammten" bereits in der christlichen Lehre angelegt war. Gleichwohl denke ich auch, dass wir uns aktuell in einer grossen spirituellen Krise befinden. Gerne werde ich die anderen Teile auch noch lesen und freue mich auf Teil 4 mit den Gegenargumenten. Zu deinem Text habe ich nur ein Gegenargument: Daniel Sigrist ist ein schweizer Substacker, kein deutscher. ;-)