Die Sinnlosigkeit des Sinnlosen ist sinnlos
Eine Rezensionsnotiz zu Juan S. Guses Roman "Miami Punk", nebst ein paar selbstverliebten Abschweifungen und ein wenig Kulturkritik gen Ende

TRIGGERWARNUNG Dieser Text verfolgt drei Ziele: Euch zu sagen,
was ihr nicht lesen solltet;
was ihr definitiv lesen solltet;
und wie belesen ich selbst bin.
Das versteckte Metaziel ist es, künstlerisch-therapeutisch meine Enttäuschung über meine letzte Lektüre zu verarbeiten — “aber jetzt ist es kein Geheimnis mehr, denn ich habe es euch allen verraten, hihihihihi” (39,90, der Film).
Lohnt es sich, über ein Buch zu schreiben, das man nicht besonders gut fand? Wenn man nichts zu loben hat, soll man schweigen — das ist normalerweise meine Maxime. Ganz so schlimm ist es bei diesem Buch aber natürlich nicht. Es hat schon auch Stärken. Handlungsdichte zählt nicht dazu.
Lest auf keinen Fall A Little Life
Es gibt ein Buch, dass ich richtig gehasst habe, schon während ich es las, und ich las es nur noch zu Ende, um es dann so richtig mit Recht hassen zu dürfen, um sicher zu gehen, dass es am Ende nicht doch all das Hassenswerte mit einem Clou in Liebenswertes transformiert. Befriedigt konnte ich feststellen, dass dem nicht so war. Das Buch heißt A Little Life, zu Deutsch Ein wenig Leben. Es hat einige Fans. Zum Glück haben aber ein paar korrekt empfindende Individuen wahrhaftige Rezensionen zu diesem Buch auf Amazon verfasst, sodass ich nicht weiter ausholen muss.
Lasst mich sogleich anmerken, dass die Autorin übertrieben gut schreiben kann, also sprachlich betrachtet. Die ersten ca. 150 Seiten haben mir entsprechend auch gut gefallen. Was sie aber offensichtlich gar nicht besitzt, ist auch nur ein Fünkchen Handlungslogik. Oder Charakterlogik. Oder auch nur Logik. Ich kann nicht nachvollziehen, wie so viele Menschen dieses Buch “herzzerreißend” finden konnten, denn das setzt voraus, dass sie der Geschichte “glaubten” — was ich wirklich nicht verstehen kann. Das Buch beweist, dass man den Leuten heutzutage wirklich alles erzählen kann und sie glauben es.
Gut, aber hier geht es nicht um A Little Life, und ist es nicht auch beknackt, sich in seinen Hass auf ein Buch hineinzusteigern, anstatt es einfach schnell wieder zu vergessen? Point taken, aber ich nehme an, ich will einfach die Warnung aussprechen: Lest nicht dieses Buch! Vielleicht lässt sich das sogar verallgemeinern zu: Lest keine kontemporären Bücher, die heutzutage gelobt werden. Offensichtlich wissen die Kritiker auch nicht mehr, was gute Kunst von schlechter unterscheidet, Wahrhaftigkeit nämlich, weil sie nicht mehr an Wahrheit glauben, was ein riesiges Problem ist, denn was man nicht sucht, kann man auch nicht finden.
Lest auch nicht Miami Punk
Miami Punk hingegen hätte sich als famoses Buch herausstellen können, da es recht unbeachtet geblieben ist — ich denke, dass der Verlag sich auch einen fetzigeren Titel hätte ausdenken sollen und das Buch ist haptisch wie optisch auch nicht besonders schön. (Generell verstehe ich überhaupt nicht, warum die deutschen Verlage so hässliche Bücher produzieren. Das können die Angelsachsen wirklich deutlich besser.)
Lasst mich nun die kleine amüsante Anekdote erzählen, wie es überhaupt kam, dass ich dieses Buch las. Vor einigen Jahren, ich weiß nicht genau, wie lange es her ist, traf ich mit einer Freundin zusammen und ihre Schwester war auch zugegen. Selbige erzählte mir, wahrscheinlich, weil ich sie gefragt hatte, dass sie ihre Abschlussarbeit in Literaturwissenschaft über zwei Bücher geschrieben habe, die raumtheoretische Elemente beinhalteten, nämlich Malé von Roman Ehrlich und eben Miami Punk von Juan S. Guse. In einem kleinen vorübergehenden Anflug von Größenwahn beschloss ich, die beiden Bücher zu lesen, weil es irgendwie interessant klang, oder weil ich Lust hatte, mit der Schwester über diese Bücher zu reden, keine Ahnung, ehrlich.
Jedenfalls kaufte ich mir beide Bücher. Da ich aber überhaupt keine Zeit hatte, sie wirklich zu lesen, las ich den Anfang von Malé, dann überkam mich ein Moment, wie ihn der Protagonist von A Clockwork Orange im Film von Kubrick beschreibt, ich zitiere oder paraphrasiere aus dem Gedächtnis, dass Denken nur etwas für Idioten ist und Menschen mit ein bisschen Grips Inspirationen oder so etwas haben — und ich brach es ab. Miami Punk stand seitdem traurig in meinem Bücherregal herum.
Kürzlich überkam mich dann ein erneuter Moment kurzfristigen Größenwahns und ich beschloss, dass es jetzt, Sommer 2025, Zeit sei, dieses vor 6 Jahren erschienene und seitdem öffentlich vergessene Buch doch noch zu lesen. Vielleicht ist es ja richtig gut, dachte ich benebelt, aber nicht gänzlich unlogisch, weil es ja vergessen wurde.
Kleiner Exkurs zu Büchern, die man auf jeden Fall lesen sollte
Nun muss ich dazu sagen, dass ich das Glück hatte, in diesem Leben schon ein paar wirklich grandios gute Bücher zu lesen. Und dass es mir seitdem schwer fällt, etwas weniger Grandioses zu lesen. Ich will mich nicht aufspielen, aber ich denke, dass wir alle uns darauf einigen können,
dass die Bücher von Roberto Bolaño (vor allem Die wilden Detektive, 2666 und Chilenisches Nachtstück) das Beste ist, was in den letzten 30 Jahren erschienen ist;
dass Infinite Jest von DFW ein unübertroffenes und unübertreffliches Meisterwerk ist;
dass dies auch — wenn auch auf andere Weise — für Mark Z. Danielewskis House of Leaves gilt;
und dass mit großem Abstand auch die humorvollen Romane Microserfs und JPod von Douglas Coupland äußerst lesenswert sind.
(Addendum 1: Jup, das sind alles weiße hetero Männer und zwei davon sind tot. Aber so ist es nun einmal. Wenn ihr wirklich glaubt, dass ihr ein Buch kennt, dass es mit diesen aufnehmen kann, dann gerne in die Kommentare schreiben und ich werde gründlich prüfen. Vergesst dabei aber bitte nicht, dass mich kein bisschen interessiert, wie viele Taschentücher ihr vollgeweint habt beim Lesen, sondern ausschließlich, ob das Buch wahrhaftig ist.)
(Addendum 2: Nicht hier aufgeführt habe ich Klassiker. Ich habe in den letzten Jahren mit viel Genuss Tolstoi, Dostojewskij und Shakespeare gelesen, zudem ein paar Stücke von Schiller, und ein wenig Homer und so Zeug, und meine treuen Leser wissen, dass ich viele hundert Stunden mit Samuel Beckett verbracht und scheinbar auch das ein oder andere Gedicht genossen habe, z.B. von Philip Larkin, T. S. Eliot und Gary Snyder, aber mir geht es hier nicht um Klassiker, sondern um modernen Shit.)
(Addendum 3: Ich hab hier auch keine Genre-Literatur berücksichtigt. Ich mag einige der Werke von Brandon Sanderson, vor allem Stormlight Archive, wobei ich sagen muss, dass ich die letzten beiden Bände (4-5) nicht so richtig überzeugend fand. Ich hab auch den ein oder anderen Science Fiction Roman genossen, aber darum geht es hier ja nicht.)
Zurück zu Miami Punk und warum es schwach ist
Da Coupland und Danielewski nichts Brauchbares mehr produziert haben in den letzten Jahren und die anderen beiden tot sind, bin ich ausgedörrt was aktuelle Literatur angeht — und nur darum griff ich nun also zu Miami Punk.
Wenn ihr wissen wollt, worum es geht, kann ich euch diese Frage schnell beantworten. Im Grunde geht es um gar nichts, es passiert zwar alles mögliche, aber es gibt keinen erkennbaren Plot — oder anders formuliert: ich glaube, dem Autor geht es um das Gefühl der Sinnlosigkeit, und genau dieses Gefühl überkommt einen auch, wenn man das Buch liest. Insofern könnte man schon sagen, dass das Buch erfolgreich ist, aber dazu später mehr.
Was das Buch aber leider sehr schwach macht, ist, dass es eine offensichtliche Imitation von Infinite Jest ist, oder zu sein versucht. Dabei macht es aber leider den auch außerhalb der Literatur weit verbreiteten methodischen Fehler, eine Sache nur nachzumachen, statt sich in den Geist der Sache hineinzudenken und zu vertiefen.
Zum Beispiel in der Pädagogik. Anstatt zu verstehen, dass es gute Pädagogik ist, wenn der Lehrer zugleich unglaublich gebildet, unglaublich empathisch und unglaublich gut organisiert ist, versucht man irgendwelche bescheuerten Kriterien zu isolieren, um dann jungen Lehrämtlern und Reffis beizubringen, dass sie diese befolgen sollten und dann würden sie schon gut sein. Ein Lehrer muss seine Schüler wahrnehmen können, und zwar schnell, er muss sie verstehen, er muss ihnen entgegenkommen, und dann muss er mit seiner Fachkunde beeindrucken, ohne sich in dieser zu verlieren, und zudem muss er jederzeit wissen, was er gerade tut, was er soeben getan hat und was er zukünftig noch zu tun gedenkt. Zudem muss der Lehrer danach streben, der beste Lehrer zu sein, den seine Schüler jemals hatten und haben werden und darüber hinaus der beste Lehrer, der er überhaupt sein kann — und wenn alle Lehrer dies wahrhaftig täten, müssten wir über Bildung nicht weiter sprechen, denn es gäbe keinerlei Probleme.1
(Schweife ich ab? Nun denn, ich schweife ab. Nicht selten. Aber weiter im Text.)
Erneuter Versuch, über Miami Punk zu reden
Miami Punk spielt in einer absurden Welt, in der der Atlantik sich so weit zurückgezogen hat, dass man von Miami aus bis zu den Bahamas trockenen Fußes durch eine neu entstandene Wüste laufen kann, was aber verboten ist. Wie dies geschehen ist, weiß man nicht, auch nicht, wieso nur Miami betroffen ist, und die Bahamas, aber der Rest der Welt nicht. Sehr seltsam. Aber gut, was soll’s?
Dadurch ist Miami jetzt keine Hafenstadt mehr, und dadurch sind viele Prozesse in der Stadt vollkommen dyfunktional geworden, aber die Menschen haben sich arrangiert. Aus unerfindlichen Gründen ist eine Alligatorenplage ausgebrochen und es haben sich Ringervereine gebildet, um diese zu bekämpfen. Zudem gibt es einen mysteriösen “Kongress”, wo Menschen in einem verrückten Gebäude zusammenkommen, um Theorien zu den seltsamen Geschehnissen auszutauschen. Im Untergrund dieses Kongresses gibt es den Miami Punk genannten geheimen Kern, der Menschen auf “Pilgerreisen” in Richtung Bahamas schickt, was aber ja verboten ist. Dann gibt es eine Behörde 55, die sich ebenfalls der Erforschung der Rätselhaftigkeiten widmet, aber nicht laien- sondern gewissenhaft und mit staatlicher Finanzierung.
Das ist natürlich alles kein bisschen glaubwürdig, aber dadurch nicht automatisch unwahrhaftig. Infinite Jest spielt ebenfalls in einer unglaubwürdigen Welt, die aber dennoch etwas hyperrealistisches hat, vor allem in den Charakteren und ihren Handlungen. (Dort gibt es mörderische Rollstuhlmörder, die USA haben einen Teil von Neuengland zu einer gigantischen Mülldeponie gemacht und dann experialistisch (as opposed to imperialistisch) Kanada gezwungen, dieses Gebiet zu annektieren, vor allem, weil der Präsident eine Sauberkeitsneurose hat, und titelgebend ist ein Film, der so gut ist, dass man nicht mehr aufhören kann, ihn zu gucken und sogar bereit ist, sich Gliedmaßen abzuschneiden, wenn man nur weitergucken darf.)
Die Charaktere von DFW sind legendär originell und realer als manch lebendes Individuum. Lest unbedingt dieses Buch. Die Charaktere in Miami Punk versuchen ebenfalls real und originell zu sein, sind es aber nicht. Vielleicht sind Soziologen nicht die besten Romanschriftsteller, wer weiß? Noch schlimmer ist, dass man ihnen auch einfach nicht nahekommt, denn es gibt zu viele von ihnen, und keinen versteht man so richtig, keiner wächst einem ans Herz, keinem passiert auch nur etwas Interessantes. Sie vegetieren alle mehr oder weniger dahin.
Am interessantesten ist vielleicht noch der Ich-Erzähler (der, wie bei Infinite Jest aber nicht die ganze Geschichte erzählt, sondern lediglich einen der vielen “Handlungsstränge”). Er reist mit ein paar Homies nach Miami, um am allerletzten Counterstrike 1.6 - Tournier teilzunehmen, dass es wohl geben wird. (Ja, das Computerspiel.) Sie spielen auf dem Kongress und eigentlich passiert nicht viel. Sie schauen sich die Stadt an. Am Ende tritt einer seiner Homies in eine Spritze, die vielleicht, vielleicht aber auch nicht, mit irgendeiner schlimmen Krankheit infiziert ist.
Ansonsten reflektiert der Typ darüber, dass seine Zeiten als semiprofessioneller Zocker wohl vorbei sind und er sich endlich mal auf seine Promotion in Soziologie konzentrieren sollte, wobei das ihn auch eher zu nerven scheint, und jedenfalls ist sein Thema das poetische Werk von zwei “Künstlerinnen”, die irgendwie nihilistisch-revolutionäre Tendenzen haben und ein Phänomen namens “Poetischer Staat” gegründet hatten, aber schnell wieder aufgaben, und von denen weder klar ist, warum sie den Protagonisten, noch warum sie mich als Leser interessieren sollten, denn die Stilproben, die ich erhalte, sind eher drittklassige Poesie (sorry, aber ist so.).
Ja, das war der interessanteste Charakter und auch der interessanteste Teil der Handlung. Wenn und falls es irgendwie interessant klang, dann ist oder wäre dies meinen Fähigkeiten der komprimierten Darstellung zu verdanken, nicht dem Roman selbst.
Warum man Rezensionen nicht trauen darf
Ein paar Rezensionen behaupten, Miami Punk sei innovativ. Diese Rezensenten haben die Texte, von denen Guse seine Inspirationen nahm, offensichtlich — und zum eigenen Schaden — nicht zur Kenntnis genommen, nämlich 2666 und Infinite Jest. Zu letzterem habe ich schon Einiges gesagt, zu ersterem nun wie folgt:
Der Roman nimmt expliziten Bezug auf 2666, aber bezeichnenderweise auf den schwächsten (ersten) Teil dieses insgesamt sehr großen Romans. Guse hätte lieber den zweiten oder fünften Teil von 2666 zur Inspiration genommen, denn diese sind die wahrhaften Meisterwerke. (Da fällt mir glatt ein, dass auch Bolanos Lumpenroman wirklich lesenswert ist, vor allem der Anfang und das Ende, die Mitte ist nur so lala.)
Klammer auf: Ich imitiere einmal Harold Bloom — der sagte, dass offensichtlich Hamlet Shakespeares bestes Stück sei, er persönlich aber Macbeth am liebsten habe —, indem ich urteile, dass der fünfte Teil (Über Archimboldi) von 2666 der objektiv beste ist, und dass ich persönlich aber den zweiten (Über Amalfitano) am allermeisten schätze und unzählige Male gelesen habe und nie genug davon kriege, Amalfitano durch das verstaubte Mexiko zu folgen. Im allgemeinen Echo hat der vierte Teil (Über die Morde) — meines Erachtens zu Unrecht und nur aus einer gewissen Mode heraus, obwohl er durchaus nicht zu verachten ist — die meiste Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Wenn ihr viel Zeit habt, lest natürlich das ganze Buch; wenn ihr wenig Zeit habt — und das sind die Meisten — dann lest einfach nur den zweiten Teil (ca. 100 Seiten) und ihr könnt eines Tages mit der Gewissheit sterben, dass ihr eure Zeit zumindest nicht gänzlich vergeudet habt, denn immerhin habt ihr das gelesen. Klammer zu.
Wenn man diese Texte nun aber kennt, dann kann man schlicht nicht mehr viel Kreativität von Seiten Guses erkennen. Fleißarbeit allerdings schon. Diese ist auch beachtlich. Man könnte vielleicht sagen, wer weiß?, dass Soziologen nicht dafür bezahlt werden, kreativ zu sein, sondern fleißig, und ansonsten “die Fresse zu halten”.2
So richtig guten Humor hat Guse mit diesem Werk auch nicht bewiesen. Es gibt Stellen, bei denen man vermutet, dass sie lustig oder zumindest amüsant sein sollen, anders als bei DFW oder Coupland ist hier aber der Wunsch Vater des Gedankens. Guses unfreiwilliges Vorbild ist hierbei dann leider doch eher Robert Musil, dem nachgesagt wird, humorlos gewesen zu sein. Seine Romane sind es jedenfalls. (Und trotzdem erstaunlich gut, aber Musil konnte eben sehr genau beobachten und erinnern und schreiben wie eine Eins.)
Wenn man Rezensionen also nicht trauen darf, weil die Rezensenten Stümper sind, warum sollte man dann dieser trauen? Der Autor hat keine besonderen Meriten, ist vielmehr bestenfalls ein Akolyth der Literatur (und benutzt seltsame Worte, ist bestimmt der Meinung, damit käme er schlau rüber).
Was soll ich sagen? Spiel es eine Rolle, ob ihr mir glaubt? Ihr werden Miami Punk ja doch nicht lesen, denn dazu habt ihr keine Zeit. Und wenn ihr die Zeit hättet, würdet ihr stattdessen Bolano lesen, oder DFW, oder Danielewski, oder Coupland, oder Klassiker, oder you name it.
(Aber wichtig ist, bezüglich A Little Life müsst ihr mir unbedingt glauben. Das sind viele Seiten, die ihr umsonst und sogar zu eurem Schaden und Nachteil gelesen haben würdet.)
Der Extrakt von Miami Punk
Natürlich hätte ich diese Rezensionsnotiz nicht verfasst, wenn es so gar nichts Gutes über Miami Punk zu sagen gäbe. Ich möchte drei Dinge lobend erwähnen.
Die melancholische Seelenstimmung.
Wenn es einem Autor gelungen ist, die Sinnlosigkeit der Sinnlosigkeit auf extrem ansprechende und poetische Weise auszudrücken, dann ist dies Samuel Beckett. Juan S. Guse könnte Beckett natürlich nicht die Sandalen binden, wenn ihr wisst, wie ich meine, aber immerhin drückt auch er durchaus die Sinnlosigkeit der Sinnlosigkeit gekonnt aus. Beim Lesen des Buches muss man sich — wie bei der Betrachtung von van Goghs Sternennacht — aktiv dagegen wehren, depressiv zu werden, weil die Leben der Charaktere alle so trostlos sind.
Was mich an das Bibelwort erinnert:
Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsre Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich. (1. Korinther 15:14)
Anders als Guse bietet uns Paulus aber den Optimismus eines echten Enthusiasten:
Nun ist aber Christus auferstanden von den Toten und der Erstling geworden unter denen, die da schlafen. (1. Korinther 15:20)
Alles gut also, zumindest wenn man Paulus glaubt. Und warum sollte man nicht?
Die CS 1.6 Nostalgie
Ich gehöre zu Guses Generation derer, die CS 1.6 noch kennenlernten. Ich war — wie auch meine Internetverbindung — zu langsam, um CS ernsthaft zu spielen, wenn ich es dennoch versuchte, war ich ständig spontan tot ohne auch nur zu wissen, woher der Schuss gekommen war. Ich vermute aber, dass das Gefühl ähnlich ist, wie das, das ich selbst empfand, als die Designer von Magic: the Gathering beschlossen, das Design des Spiels zu ändern (ab Mirrodin).
Etwas war für immer verloren gegangen und würde nie mehr wiederkommen. (Mittlerweile habe ich mich mit dem Design-Wechsel versöhnt, aber ich konnte das Spiel nach diesem Wechsel nicht mehr lieben wie zuvor. (So wie das lyrische Ich in “Mein Baby war beim Friseur”, das Lied von Den Ärzten, seine Freundin nach dem Friseurbesuch.))
Wenn ihr weder CounterStrike noch Magic: the Gathering gespielt habt, das im Roman übrigens auch erwähnt wird, tja, dann war der letzte Absatz für euch vielleicht schwer zu verstehen. Gerne in die Kommentare posten mit konstruktiver Kritik.
[Ich schreibe diese Zeilen in einem kleinen Dorf in Italien, vor allem, weil ich nicht schlafen kann, weil hier gerade Dorffest mit lauter Musik ist, und gerade läuft Yellow von Coldplay. Für die jüngeren, deren erste Platten waren tatsächlich richtig gut, aber melancholisch bis in die Arschritze, sozusagen. Passt gut zur Nostalgie. Aber Nostalgie ist, um eine gewisse Paraphrase zu bemühen, nur etwas für Idioten und Menschen mit Grips haben so etwas wie Inspirationen…]
[Und wenn ihr Magic gespielt habt, dann sage ich nur Sceada-Deck oder Goblinoffensive und Zorn des Pöbels gefolgt von Anarchist… das waren meine ersten Eindrücke vom Spiel, bei einem Freund, als ich jung war, und wegen dieser “genialen Kombo” wollte ich unbedingt ein rotes Deck spielen — später habe ich dann eine irrationale oder vielleicht doch meinem Charakter schlicht entsprechende Abneigung gegen Rot entwickelt, aber eine große Liebe für elaborierte Kombos und vielfarbige Decks (die dann auch die eine oder andere rote Karte enthalten durften (Fork zum Beispiel) behalten.
Aber was ich nie enträtselt habe: What the fuck ist ein Sceada? Wenn ihr es wisst, gerne in die Kommentare.]
Der Schlaf
Als Soziologe beschreibt Guse einen interessanten Prozess, der zwar nicht ganz realistisch ist, uns im 21. Jahrhundert aber doch auf gewisse Weise etwas Wahrhaftiges ausspricht. Es geht dabei um die infolge der Meeresrückzug-Katastrophe entlassenen Mitarbeiter diverser Unternehmen. Zitieren wir ein wenig länger aus dem Buch:
»Die entlassenen Mitarbeiter, denen die berstenden Briefkästen gehörten, litten an einer ernstzunehmenden Verleugnung. Sie weigerten sich jeden Tag aufs Neue, die Post zu holen … [stattdessen] schien es nur konsequent, dass die Betroffenen weiterhin täglich zur Arbeit gingen, sich nach wie vor abends den Wecker stellten, morgens ein Brot schmierten, sich durch den Innenstadtverkehr quälten, Frühstücksradio hörten, einen Parkplatz suchten, zu ihrem Arbeitsplatz liefen und mit den ebenfalls eigentlich arbeitslosen Kollegen ins Gespräch kamen…«
»Diejenigen, die nicht entlassen worden waren und versucht hatten, den Wahnsinn anzusprechen und einen Prozess der Verarbeitung zu initiieren, mussten feststellen, dass die Kollegen auf solche Vorstöße vorwurfsvoll zurückfragten, warum sie ihnen denn das leben madig reden wollten, warum sie glauben würden, etwas Besseres zu sein, und wo denn nun überhaupt genau das Problem liege … sodass die wenigen Nichtentlassenen allen Mut verloren und sich schließlich auch dem Planspiel der Gekündigten beugten, wie sich Erwachsene dem Dogma spielender Kinder beugen.« [“Zu einem König sagt man Majestät.” (Paul Maar, Eine Woche voller Samstage)]
»Lint und seine Mutter nannten das Phänomen ›Der Schlaf‹. Loyd Green war bereits derart lange darin verloren, dass Lint überzeugt war, sein Vater wisse es einfach nicht besser.« (S. 139ff.)
Guse hat hier meines Erachtens eine durchaus gelungene Metapher für unsere moderne Arbeitswelt gefunden. Auch wenn wir nicht arbeitslos sind, sondern bezahlt werden, befindet sich ein Großteil der Bevölkerung in einem gewissen Sinnlosigkeitsschlaf, aus dem sie sich weigern, aufzuwachen und ihre Post mal zu checken. Denn dort würde stehen, dass sie dabei sind, sich Schätze auf Erden zu suchen, wo Motten und Rost sie fressen, frei nach der Bibel, statt sich Schätze im Himmel zu suchen, die nicht von Motten und Rost zerfressen werden.
Gut, wir bräuchten nicht Guse für diese Einsicht, wir könnten auch Andersens (war es Andersen?) Der Kaisers neue Kleider lesen, das nur wenige Seiten lang ist und nicht 600 — und die gleiche Botschaft eleganter ausdrückt. Aber immerhin.
Und ja, unsere Gesellschaft ist der Kaiser, der nackt ist, und sich im schicken Sportsacko daherkommend wähnt. Wer Ohren hat zu hören, der höre. Der Kaiser ist nackt. Sagt es weiter.
[Und hier, im kleinen italienischen Dorf, läuft jetzt Samstag, 19. Juli, 00:46 Uhr, Fix you von Coldplay. I kid you not. Zu diesem Lied habe ich in meiner mittlerweile durchaus fernen Jugend viele Tränen vergossen, aber lasst mich davon gar nicht erst anfangen.]
Das gleiche Problem findet sich überall dort, wo Kriterien erfunden werden, um etwas eigentlich nicht messbares zu messen. Ein Beispiel hatte ich in einem früheren Artikel einmal geschildert, wo es um Qualität an Universitäten ging. Das Messen der Indikatoren führt dazu, dass nicht die Qualität optimiert wird, sondern die Indikatoren.
Womit ich mich auf einen Sketch eines Comedians beziehe, wo dieser humorvoll das Wurstbrot beschreibt und dies zum Anlass nimmt, dem Bäcker zu empfehlen, morgens aufzustehen, Brot zu backen und ansonsten die Fresse zu halten. Daher der leicht vulgäre Ausdruck.
Diesen Artikel fand ich lustig.
Wahrscheinlich, weil ich von Beginn an ja wusste, dass ich nicht mühsam versuchen muss, Philosophie zu verstehen. Und weil Du ständig abgeschweift bist, da es eigentlich nichts über das Buch zu besprechen gab (außer <Ranicki an> *schläächt* <Ranicki aus>). Und weil Du ein paar witzige Redewendungen hattest. Und vielleicht auch, weil ich mich mit Deinem Artikel extrem von meiner To-Do-Liste ablenken konnte, ich alter Prokrastinations-Weltmeister.
Lieber Conrad,
ich erinnere mich einem guten Freund einfach aus einem Bauchgefühl "Unendlicher Spaß" (ich meine, dass das die deutsche Version von "Infinite Jest" ist) geschenkt zu haben. Ich vermute auch, dass es bei ihm ungelesen im Regal steht, vielleicht leih ich es mir ja mal aus.
Meine Art zu lesen unterscheidet sich grundlegend von deiner nahezu getrieben Art, alles zu verschlingen und vermutlich deshalb auch deutlich differenzierter bewerten zu können, aber ich gebe mir Mühe. Mir persönlich reicht es für mich zu wissen, dass ich mich auf zwei Autoren verlassen kann: Walter Moers und Haruki Murakami.
Im Gegensatz zu dir kann ich ja mit van Goghs Bildern viel anfangen, die Sternennacht löst bei mir eher Beruhigung als Depression aus.
Es war mir dennoch eine Freude diesen Artikel zu lesen, so unterschiedlich wir doch sind, finde ich es bewundernswert, dass du deine Meinung so offen und detailreich kundtust.
P.S.: Eine kurze Suche zum Begriff Sceada ergab:
Sceada (en. Drake) ist ein Kreaturen-Typ aus dem Kartenspiel Magic: The Gathering. Sie sind nahe mit den Drachen verwandt, haben jedoch einige Unterschiede.
Im Gegensatz zu Drachen, welche zivilisiert und meist intelligenter als Menschen sind, haben Sceada nur ungefähr die Intelligenz eines Hundes. Sie werden gerne von Magiern als Vertraute genutzt, können aber unter Umständen schwer zu zähmen sein[1]. Manche Karten, wie z.B. der Glupschaugensceada, spielen im Flavor-Text auf die geringe Intelligenz der Sceadas an.
Die meisten Sceada haben den Körperbau typischer Wyvern, jedoch wird die Bezeichnung "Wyvern" in Magic nur für wenige Ausnahmen verwendet. So heißt z.B. der Himmelblaue Lindwurm in der englischen Version "Cerulean Wyvern". Es gab auch einmal den Kreaturentyp "Wyvern", der jedoch nur für den Fackelsceada (en. Torch Drake) und den Himmelblauen Lindwurm verwendet wurde. In neuren Releases gehört der Fackelsceada dem Sceada-Typ an.
Obwohl Sceada offiziell nur ein Beinpaar und ein Flügelpaar haben, gibt es ein paar Ausnahmen, wie z.B. den Windsceada oder Teferis Sceada. Die meisten solchen Designs stammen aus älteren Releases[1]. Entsprechend gibt es auch wenige zweibeinige Drachen-Karten, z.B. Dromar, die echte Drachen sind und keine Sceada oder Wyvern.
Die meisten Sceada gehören der blauen Mana-Farbe an. Sie sind verletzlich gegenüber Aetherstrudeln.