Palästina. In 3000 Jahren vielleicht...
Das moralische Komplettversagen des Westens. Und die Frage der Propaganda. Nicht frei von Polemik.
Ich sah kürzlich eine Note so aus den Augenwinkeln:
DAS ist heute nicht DEIN Thema, sagte ich mir. Du hast Myriaden anderer Dinge zu tun. Aber es ließ mich nicht los. Etwas in mir denkt, dass es genau mein Thema ist. Heute. Ich habe schon zwei Mal angesetzt, einen Text für Substack zu diesem Thema zu produzieren, beide Male nach der Einleitung… ich weiß nicht einmal was — aufgegeben, abgelenkt worden, beschlossen, dass es zu kompliziert ist?
“Die Hamas sind Terroristen” war die Aussage, die ich wahrgenommen hatte. Das stimmt, aber die Frage ist doch, warum?, war der Gedanke, der mir in Reaktion durch den Kopf schoss. Bei der Aussage stehen zu bleiben, ist ein bisschen wenig. Man muss verstehen, warum Menschen sich entschließen, andere Menschen kaltblütig zu töten. Sonst wird man daran nichts ändern können. Und wir wollen das doch ändern, oder nicht?
Ich hatte vor ein paar Tagen auf Anregung von
den Artikel von Sam Harris “Why Don’t I Criticize Israel?” (eigentlich ein kommentiertes Transkript von einem Podcast, aber nahe genug dran) gelesen und mir auch dazu schon meine Gedanken gemacht.Ich rief die Note auf. Ich las sie. Ich dachte darüber nach. Ich rief den Link auf. Ich las den Artikel. Ich dachte darüber nach. Ich fuhr eine Stunde mit dem Lastenrad durch die Gegend (die Kinder aus Kindergarten und Schule abholen) und dachte darüber nach. Ich verglich in meinem Kopf, was Chaim Noll geschrieben hatte mit dem, was Sam Harris formulierte. Mit dem, was ich bei Chomsky dazu gelesen hatte. Mit dem, was ich bei Column McCann in Apeirogon gelesen hatte. Und bei John Mearsheimer. Und bei Nathan Thrall. Und bei Hannah Arendt. Und Wolfgang Reinhard.
Was mir damals im Politik-Unterricht in der Oberstufe “beigebracht” wurde, und die Diskussionen, die damals schon von Seiten der Mitschüler mit muslimischem Background (die in aller Regel aber keine Muslime waren, weil ich auf eine evangelische Schule ging) mit der Lehrerin geführt wurden, zu denen ich keine Meinung hatte, weil ich damals vollkommen unpolitisch war und in einem Pflichtkurs saß, aber mein Eindruck war doch der, dass unsere Lehrerin vollkommen dogmatisch war und versuchte, uns zu indoktrinieren. (Aber weiß der dogmatische Indoktrineur, was er ist?)
Und natürlich an die vielen Gespräche zum Thema, die ich im Laufe meines Lebens geführt habe, oder, seltener, nur zugehört. Und ich dachte über die Bücher zum Thema von Michael Lüders nach, von denen ich zu wenig gelesen habe, um sie beurteilen zu können, die aber auf jeden Fall den einen Fehler vermeiden, den Harris und Noll meines Erachtens begehen, nämlich die Dinge ahistorisch betrachten, so als sei dieser Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis ein kürzlich entstandener; und sie asystemisch zu betrachten, als sei die Sache einfach und es gäbe nur zwei große Player.
Ich habe keine großen Antworten zum Nahost-Konflikt. Aber ich kann aufzeigen, was in diesen beiden Artikeln meines Erachtens vollkommen fehlt, und warum sie mich daher nicht überzeugen.
Chaim Noll reist durch das vergiftete Deutschland
Ich kenne weder den Autor Chaim Noll noch die veröffentlichende Publikation, achgut.com. Insofern werde ich weder auf den Hintergrund des einen, noch der anderen eingehen, sondern mich schlicht auf den Text beschränken, der mir vorliegt.
Nur so viel vielleicht, ich habe den Wikipedia-Artikel zu Noll gelesen und er scheint ein durchaus interessanter Mensch zu sein, der an vielen Stellen kluge Dinge von sich gegeben hat. Der vorliegende Artikel gehört meines Erachtens aber leider nicht zu seinen Glanzleistungen, ganz im Gegenteil.
(Und zur Warnung, anders als polemisch kann ich mit Nolls Artikel wirklich nicht umgehen.)
Konfrontiert mit Vorwürfen und Anschuldigungen
Noll berichtet, auf einer zehntägigen Lesetour durch Deutschland mit diversen Vorwürfen und “Anklagen” gegenüber Israels aktuellem Vorgehen gegenüber den Palästinensern konfrontiert gewesen zu sein, die ihn ratlos zurückgelassen hätten. Nicht ratlos — was ich nachvollziehbar gefunden hätte —, weil er nicht gewusst hätte, was er darauf antworten sollte, sondern ob der vermeintlichen Ignoranz der Ankläger.
In seiner Auflistung der Anklagen vermischt Noll dabei meines Erachtens an Verschwörungstheorien grenzende Verdächtigungen mit gut belegten Tatsachen, die niemand ernsthaft anzweifelt. Ich finde das unehrlich, denn offensichtlich schmeißt er selbst damit alles in einen Topf. Begründete Kritik mit der unbegründeten. Das hilft, wenn man sich der begründeten Kritik entziehen will. So zu tun, als gäbe es sie nicht und sie in der unbegründeten zu verstecken.1
Noll glaubt zu erkennen, dass hinter den Anschuldigungen der alte Judenhass stehe, den es schon immer gab und auch immer geben werde, insbesondere bei den Deutschen und natürlich den Muslimen:2
“Doch wenn in bestimmten Kreisen eine gewisse Stufe der Hysterie erreicht ist, wird Juden alles nachgesagt, was Menschen je an Abscheulichkeiten begangen haben, jedes Verbrechen, jede Niedrigkeit, jede Perversion.”
Es kann keine berechtigte Kritik sein. Es muss also der erneute Abstieg in die tiefste Barbarei sein. Die ist diesen barbarischen Deuschen Noll zufolge sowieso willkommen. Ausgelöst oder aktualisiert ist sie aber von der krassesten Propaganda-Macht, die es jemals gegeben hat auf diesem Planeten und vermutlich auch auf allen anderen. Der der Hamas.
“Die ungeheuerlichsten Narrative aus dem Hamas-Propaganda-Apparat werden für bare Münze genommen, gestellte Fotos, Erzeugnisse von Photoshop und KI.”
Die Hamas - Der Gott der Propaganda
Noll bescheinigt den deutschen Staatsmedien, und später dann auch dem Rest der Mainstream-Medien — entgegen dem vorherrschenden Eindruck, ziemlich israelfreundlich zu sein — im Grunde ein verlängerter Arm der Hamas-Propaganda zu sein:
“Dann riet ich ihnen, das „öffentlich-rechtliche“ Fernsehen Deutschlands zu meiden, in dem aus politischen Gründen Unwahrheiten über Israel verbreitet werden, und stattdessen die wenigen deutschsprachigen Medien zu konsultieren, die ausgewogen über den Nahen Osten berichten.”
Noll verrät an dieser Stelle leider nicht, welche Medien seiner Ansicht nach “ausgewogen” berichten, aber er lässt durchblicken, was er mit ausgewogen meint. Nämlich Medien, die statt auf Hamas-Propaganda hereinzufallen einfach das übernehmen, was die israelische Propaganda pardon, das Ministerium für Strategische Angelegenheiten und Hasbara verlautbaren lässt.
Denn auf der einen Seite haben wir die allmächtige Propaganda-Maschinerie der Hamas, die den ganzen Westen und auch den Rest der Welt unterwandert hat, und auf der anderen Seite die vollkommen propaganda-freie, unideologische, unvoreingenommene Gottesperspektive des Chaim Noll, der alles weiß, was man wissen kann, anders als diese blöden Deutschen, die auf die Propaganda hereinfallen, und verrückterweise glauben, dass im Gaza-Streifen ein Völkermord stattfindet, obwohl dort niemandem auch nur ein Haar gekrümmt wird. Es hungert auch niemand. Alles nur antisemitische fake-news.
Ja ist klar. Nur die Hamas betreibt Propaganda. Alle anderen fallen entweder darauf rein, oder aber leben in der Wahrheit. Das kann Noll nicht wirklich glauben.
Also will er uns wohl vergackeiern.
Noll selbst - Der Gott des Wissens
Aber da Noll alles weiß, weiß er zum Beispiel auch, dass die Palästinenser gar keinen eigenen Staat wollen. Und natürlich auch nicht brauchen. Denn ernährt werden sie ja ausreichend von ihren “Freunden” in Israel und dem Rest der Welt. Das sind im Zweifelsfall übrigens alles Antisemiten. Ist klar.
Nun gut, wenn “Israels Politik kritisieren” gleichbedeutend mit “Antisemit sein” wäre, dann würde das schon stimmen, dass das alles Antisemiten sind. Dann wäre es aber auch legitim, Antisemit zu sein, denn es ist legitim, die Politik eines Landes zu kritisieren, egal welches Land es ist. Natürlich ist der Antisemitismus nicht legitim, und allein daraus folgt schon, dass er nicht gleichbedeutend sein kann mit Kritik an Israel. qed.
Noll weiß auch, dass die deutschen Staatsmedien deshalb Antisemiten sind, weil sie sich in dieser verrückten Idee eines Palästinenserstaates verrannt haben — wir erinnern uns: die Palästinenser wollen ja gar keinen Staat, so wie die Kurden und die Basken, das ist nur Propaganda der Hamas — und dort Geld (“Milliarden”!!!!11eins) begraben haben, was man der Bevölkerung jetzt als sinnvolle Investition verkaufen müsse. Nur darum hätten jetzt auch Länder begonnen, in ihrer Verzweiflung, bloß nicht ihr Gesicht zu verlieren, Palästina als Staat anzuerkennen.
“Sie wollen damit ihren Bevölkerungen suggerieren, dieser Staat sei im Interesse Europas, und die ungeheuren Ausgaben für sein seit Jahrzehnten währendes Nicht-Entstehen dienten einem „dauerhaften Frieden im Nahen Osten“.”
Da Noll alles weiß, weiß er auch, dass ein solcher Staat niemals entstehen wird, aber er lässt sich dazu herab, es bei einem “wahrscheinlich nie geben wird” zu belassen. Man soll den Leuten ja auch nicht völlig ihre Illusionen nehmen.
Der Schlachtplan
“Ich habe mich darauf beschränkt, von der Stimmung im Land zu berichten, von der Zuversicht und der Hoffnung auf Frieden, zugleich von der Entschlossenheit der großen Mehrheit, die Hamas als kämpfende Truppe für immer auszuschalten. Und dass dies nicht Rachsucht sei oder Netanjahus Machtpolitik, sondern schlicht und einfach das einzig Vernünftige: mit dieser Terror-Miliz kann es niemals Frieden geben.”
Nun gut, ich kann den Wahrheitsgehalt der Aussagen zur Stimmung im Land nicht prüfen, aber es fällt mir schwer zu glauben, dass in Israel gerade “Zuversicht” und “Hoffnung auf Frieden” herrschten. Womit wäre eine solche Hoffnung zu begründen? Selbst wenn Nolls Narrativ von der unglaublichen Macht der Hamas-Propaganda stimmte, dann wäre gerade das doch ein Grund für die Bevölkerung Israels, sich eher verzagt und existentiell bedroht zu fühlen. Ich würde mich verzagt und existentiell bedroht fühlen. Denn die öffentliche Stimmung in der ganzen Welt kippt gerade zuungunsten Israels und das ist äußerst gefährlich und besorgniserregend.3
Die Israelis sind ein gebildetes Volk. Sie können nicht so naiv sein zu glauben, dass mit der Zerschlagung der Hamas — falls diese überhaupt gelingt — Frieden zwischen ihnen und den Palästinensern einkehren wird.
Was den zweiten Teil des Zitats angeht, so läuft er Gefahr, auf die Aussage hinauszulaufen, dass es “niemals Frieden geben” kann. Denn die Hamas ist nur die jüngste Verkörperung des Terrors und auf diese werden weitere folgen, und immer so weiter, solange die Gründe nicht analysiert und abgestellt werden, die junge Menschen in die Arme dieser Organisationen treibt. Zum Beispiel, ich spekuliere mal ganz wild, ein Mangel an Alternativen, um sich politisch Gehör oder Macht zu verschaffen.
Und an dieser Stelle zeigt sich die seltsame Geschichtsvergessenheit eines eigentlich doch mutmaßlich ziemlich gebildeten Chaim Noll, die ich ihm daher auch nicht so richtig abkaufen kann. Zudem der Mangel an systemischem Denken. Wie Israel aktuell auf den Überfall der Hamas reagiert, wird maßgeblich dafür verantwortlich sein, wie die nächste Generation junger Muslime (und auch im Rest der Welt) über Israel denken wird. Und das gilt ganz unabhängig davon, ob man das falsch oder richtig findet. Es ist schlicht so, und damit muss eine verantwortungsvolle Politik sensibel umgehen.
Es ist sinnlos, wenn auch vielleicht inhaltlich richtig, das Entflammen des Antisemitismus zu beklagen, ohne die Gründe dafür korrekt zu analysieren. Gründe sind keine Rechtfertigungen. Zu verstehen, warum möglicherweise viele Palästinenser sich die Vernichtung Israels wünschen könnten, heißt nicht, diesen Wunsch gutzuheißen. Und zu verstehen, inwiefern Israels Politik dazu beiträgt, diesen Wunsch zu nähren, ist überhaupt keine moralische Beurteilung dieser Politik, sondern eine rein pragmatische.
Ob die Gegner Israels das moralische Recht haben, Gegner Israels zu sein, spielt überhaupt keine Rolle für ihre Gegnerschaft. Die Welt ist nicht so, wie sie sein sollte, sondern schlicht wie sie ist. Das muss man anerkennen und entsprechend agieren.
Die Ohnmacht des Moralisierens
Noll sagt, er wolle niemanden von irgendetwas überzeugen. Sein Text liest sich für mich anders. Warum sollte man überhaupt einen solchen Text schreiben, wenn man niemanden überzeugen will? Aber zynisch gesprochen könnte man sagen: Stimmt, er will nicht überzeugen, sondern überreden, denn er betrachtet das Thema nicht im Sinne der Argumente, sondern an den Argumenten und am Denken vorbei, gleich hin zur emotionalen und moralisierenden Überrumpelung des Lesers. Das ist unehrenhaft und ich verstehe auch nicht, was Noll dazu verleitet hat einen so dummen Text zu produzieren.
Wäre ich Antisemit, wäre die Erklärung einfach. So rätsle ich herum und es bereitet mir schlaflose Nächte.
(Und nach zwei solcher Nächte habe ich die Lösung gefunden. Wahrscheinlich hat Noll einen viel besseren, differenzierteren Text verfasst, diesen gut gelaunt der Redaktion von achgut.com geschickt und diese haben dann alle guten Sätze aus dem Text raus gekürzt, vielleicht sogar ein paar Formulierungen verändert — so muss es gewesen sein.)
Ist der Krieg plötzlich vorbei?
Während ich noch darüber nachdenke, ob ich diesen Text so veröffentlichen will, um mich dann in einem zweiten Teil Sam Harris zu widmen, überschlagen sich die Ereignisse. Trump gibt bekannt, dass sein Friedensplan sowohl von der Hamas als auch von Israel angenommen wurde. Kurz darauf bestätigen beide Seiten dies. Die Freude ist groß, heißt es.
Ich will nicht zynisch sein. Aber ich bin leider doch sehr skeptisch. Es wäre großartig, wenn es tatsächlich zu Frieden im Nahen Osten kommen könnte. Und dann hätte Trump wohl auch den Nobelpreis verdient, von dem er nicht müde wird zu quasseln. Es würde nicht der Ironie entbehren, wenn sich ein solcher Frieden nicht irgendwelchen liberalen oder anderweitig hohen Idealen und Initiativen verdankte, sondern dem Narzissmus Trumps.
Aber wie gesagt: Ich bin sehr skeptisch.
Die Frage nach einem Staat Palästina
Der Hauptgrund für meine Skepsis ist, dass Frieden ohne gegenseitiges Vertrauen meines Erachtens nicht stabil sein kann. Und Vertrauen existiert auf keiner der beteiligten Seiten, und zu Recht nicht. Ich denke, es gibt auf allen Seiten relevante Kräfte, die die jeweilige Gegenseite vernichten wollen.
Die aktuelle Regierung Israels hat — wie auch alle Regierungen davor — unmissverständlich klargemacht, dass sie niemals einen selbstständigen Staat Palästina akzeptieren werden. Möglicherweise ist die zähneknirschende Zustimmung zum aktuellen Friedensplan aus Sicht dieser Regierung die einzige Möglichkeit gewesen, einen solchen Staat zu verhindern.4 Denn wenn wir uns die 20 Punkte genau anschauen, dann wird dort unter 19 und 20 ein solcher Staat erwähnt, aber wir müssen uns die genaue Formulierung auf der Zunge zergehen lassen:
While Gaza re-development advances and when the PA reform program is faithfully carried out, the conditions may finally be in place for a credible pathway to Palestinian self-determination and statehood, which we recognize as the aspiration of the Palestinian people.
The United States will establish a dialogue between Israel and the Palestinians to agree on a political horizon for peaceful and prosperous co-existence.
Das klingt für viele vielleicht besser als es ist. Denn 19. impliziert direkt, dass die Bedingungen für einen palästinensischen Staat nicht gegeben seien, und gibt zudem keine präzise Aussage, wann sie es sein würden, sondern nur, dass sie es vielleicht sind, wenn X. Das ist kein Versprechen, das ist eine leere Phraseologie.
Zynisch wird das ganze noch durch den letzten Halbsatz: Wir anerkennen, dass die Palästinenser self-determination und statehood anstreben, aber wir entscheiden, wann dies möglich sein wird (nämlich, wahrscheinlich, niemals), und insofern sprechen wir den Palästinenser zugleich dieses Recht auf self-determination und statehood ab.
Ich denke, dies ist der Grund, warum John Mearsheimer Trumps Plan als “neo-colonial” bezeichnet hat:
“For anybody who’s been listening, Benjamin Netanyahu has been running around lately saying there is going to be no Palestinian state. If there’s going to be no Palestinian state, what is the political horizon? What is the alternative? And nobody says anything about that in the plan.
So basically, this is a plan that calls for Hamas to disarm itself, give back all the hostages, allow Israel to effectively stay in the Gaza Strip, and then there’s no self-determination. This neocolonial enterprise is what we get for the foreseeable future.”
Und Jeffrey Sachs hat die Frage aufgeworfen, ob der Moment erreicht sei, an dem die muslimische Welt nach 100 Jahren Bevormundung beschlossen hätte, sich nicht mehr weiter drangsalieren zu lassen, und was das bedeuten würde.
Friedrich Merz’ seltsame Reaktion
Auch Friedrich Merz scheint wie Noll zu wissen, ich zitiere mich selbst, “dass die Palästinenser gar keinen eigenen Staat wollen. Und natürlich auch nicht brauchen.” Anders lässt es sich nicht erklären, dass er von sich gab, es gebe jetzt ja keinen Grund mehr für Demonstrationen für die Palästinenser:
‘Der Kanzler fügte hinzu, es gebe “keinen Grund mehr, jetzt für Palästinenser in Deutschland zu demonstrieren. Es ist dann Frieden in Gaza, und das ist eine gute Nachricht.”’
Erstens herrscht dieser Frieden noch nicht. Zweitens liegt Gaza noch immer in Schutt und Asche. Und drittens ist eine Wiederholung oder Wiederaufnahme dieser Zerstörungen jederzeit möglich, solange sich die politischen Verhältnisse und Verständnisse nicht grundlegend geändert haben.
Viertens, und das zeigt vielleicht das befremdliche Selbstverständnis eines Friedrich Merz sehr gut, ist es nicht seine Angelegenheit, seinen Untertanen seinem Volk zu erklären, wofür oder wogegen sie zu demonstrieren haben und wofür oder wogegen nicht. Das kann, das sollte er diesen Bürgern selbst überlassen.
Der Vorwurf des Völkermords verschwindet nicht
In dem bereits zitierten Interview wird John Mearsheimer ungewohnt deutlich in seiner moralischen Verurteilung des Vorgehens Israels in Gaza:
“It’s horrible. It’s absolutely horrible. It’s abhorrent. The Israelis are monsters. This is a genocide. If you look at all of the human rights groups and international organizations and Holocaust scholars and genocide scholars who have looked at this case and said it’s a genocide, I don’t know how anybody can deny that it’s a genocide.
And if you don’t want to use the word genocide, it’s at least a case of mass murder. This is absolutely horrible what’s happening to the Palestinians. And again, the United States is complicit in this. If we had Nuremberg Two, Joe Biden and his lieutenants and Donald Trump and his lieutenants would be in the dock. I don’t know what to say.”
Und gen Ende noch einmal (Ich zitiere in voller Länge, damit Mearsheimers Position gänzlich klar wird. Natürlich sind seine Gesamtausführungen äußerst lesens-/hörenswert.):
“I want to make one final point on this. I think what really illustrates the bankruptcy of the west is the reaction to the Gaza genocide. The west prides itself on believing in and purveying liberal values. And I’m going to make this clear. I’m a champion of liberal values. And the fact that I live in a liberal democracy or was born and raised in a liberal democracy like the United States, I consider it to be a wonderful thing.
So I’m not at all an enemy of liberalism or liberal values. I just want to make that very clear. But that leads me to be, and I’m choosing my words carefully here, extremely critical of what the Israelis are doing in Gaza and the way the west. And here I’m talking mainly about the United States, but not only the United States is supporting the Israeli genocide.
But you want to think about what’s going on here. This is the west, this is the liberal west that is complicit in a genocide. And this is not some hidden genocide. This is not like Cambodia. This is out in the open. It’s so clear what is happening in Gaza and what is the West doing now?
If you look at the publics, it’s a different story. But if you look at the elites, and your question had to do with the governing elites. If you look at the governing elites, the foreign policy establishments in the west, in the United States, in Europe, especially in places like Britain and Germany, it is to me truly stunning that we’re complicit over a two year period in a genocide that’s taken place out in the open.
If you really believe in Western values or liberal values, as our leaders say they do, what in God’s name are they doing supporting the Israelis? They should have shut this one down as soon as it started. This should have never happened. But it has happened and the elites just don’t seem to understand.
And by the way, you want to remember, it’s not like the public down below is clamoring to continue the genocide. On the contrary, I just read an article in the Wall Street Journal this morning that said in Britain the government is at a loss because it can’t figure out how to stop the daily protests that come in support of the Palestinians. It talks in the article about almost daily protests in support of the Palestinians.
And of course, if you look at public opinion in the United States, on both the right and the left, all sorts of people understand that this genocide has to be stopped. So you have elites that have publics below them that would support in a second shutting down the genocide. But they’re not shutting down the genocide. And just to go back to the point I made a minute ago, they’re complicit in the genocide.
How can this be? And don’t these people understand what the consequences of this are going to be? Don’t they understand when people outside of the west look at them, they see hypocrites of the first order. Liberal values, you say. You know, you believe in liberal values, you believe in human rights, you believe in the Genocide Convention. The hypocrisy here is stunning. And more importantly than the hypocrisy is the complicity in the genocide.”
Wenn Mearsheimer mit seiner Analyse recht hat, und ich vermute, dass er recht hat, und er ist ja auch nicht alleine mit dieser Sicht der Dinge — weil, wie wir dank Noll wissen, ein Großteil der Welt auf die perfide Hamas-Propaganda hereingefallen ist, tatsächlich ist davon nur ein immer kleiner werdender Teil des Westens verschont geblieben, wahrscheinlich, weil sie einfach die besseren Menschen sind, nicht wahr? —, dann hat Deutschland es einmal mehr geschafft, auf der falschen Seite der Geschichte zu stehen.
What an accomplishment.
Sagt mir gerne, wo ich mich eurer Meinung nach irre. Was übersehe ich? Welche seriösen Quellen widersprechen argumentativ nachvollziehbar Mearsheimers Sicht der Dinge?
Das ist nebenbei betrachtet ein beliebter Trick derer, die nicht intellektuell sauber arbeiten wollen oder können. Das Phänomen ist mir zum ersten Mal bewusst geworden, als ich mich 2018 an Michael Butters “Studie” ‚Nichts ist, wie es scheint‘: Über Verschwörungstheorien abarbeitete. Dort schrieb ich: “Wer Verschwörungstheoretiker schreit, will entwerten, ohne argumentieren zu müssen.” Analog könnte man hier formulieren: “Wer Antisemit schreit, will entwerten, ohne argumentieren zu müssen.” CAVEAT: Damit ist nicht gesagt, dass es Verschwörungstheorien oder Antisemitismus nicht gäbe. Diese klar zu benennen und zu kritisieren ist richtig und wichtig. Betont sei aber das Verb “schreien” — es reicht nicht, jede Kritik an Israel, seiner Regierung, (1) dem Zionismus, oder einzelnen Vertretern als Antisemitismus abzutun, so als seien die genannten Akteure unfehlbar. Niemand ist unfehlbar und infolgedessen darf und muss sogar jeder und alles kritisiert werden (können). Dies zu tun ist eine der Aufgaben des Intellektuellen.
(1) Es ist nicht einzusehen, warum es bei Israel relevanter sein sollte, als bei anderen Ländern, zwischen der Regierung und dem Land zu unterscheiden. Ich habe kein Problem damit, von Israels Regierung und Militär zu sprechen, denen ethnische Säuberung vorgeworfen wird. Aber dann sollten die Proponenten dieser Haltung auch nur noch von den Regierungen der anderen Länder sprechen, nicht mehr nur von diesen.
Da Israel als (flawed) Demokratie gilt, kann man immerhin sagen, dass die Regierung den Willen des Volkes ausdrücken soll. Ob sie dies tut, kann ich nicht beurteilen. Die deutsche Regierung scheint mir jedenfalls nicht den Willen des deutschen Volkes auszudrücken. Sie wurde aber auch nur von ca. 45% der Wählenden gewählt. Und zudem bin ich nicht sicher, ob “der Wille des Volkes” mehr ist als eine interessante, manchmal nützliche, aber oft eher gefährliche Fiktion.
Damit stellt sich Noll natürlich ganz auf Linie des “deutschen Katechismus” zum Thema Erinnerungskultur und Israel nach Anthony Dirk Moses (einem australischen Historiker), dessen 4. Punkt (von 5) lautet: “Der Antisemitismus existiert zeit- und kontextlos, aus sich selbst heraus, und sollte nicht mit Rassismus verwechselt werden.” (Zitiert bei Michael Lüders, Krieg ohne Ende?, S. 50.)
Als ich am 7.10.2025 morgens auf tagesschau.de klickte, war dies die erstangezeigte Meldung: Sich annähern - trotz des Schmerzes. Der erste Satz lautet zwar “Der Hamas-Terrorangriff vor zwei Jahren löste Entsetzen aus, Israels Krieg in Gaza empört Menschen weltweit.” Danach wird aber vor allem letzteres thematisiert. “Aber wenn ich schaue, was Israel gerade macht, dann kann ich nichts rechtfertigen”, sagt ein junger Israeli. Und spricht von einer Wahrheitskrise, die er — in seiner Jugend in Israel indoktriniert — durchlebt habe. Dass ein solcher Artikel am Jahrestag des Hamas-Angriffs auf tagesschau.de erscheinen kann, scheint mir durchaus aussagekräftig.
Ich betone: “Möglicherweise” — ich habe offensichtlich keine tieferen Einblicke in die Entscheidungsprozesse der Israelischen Regierung. Gleichwohl wäre es nativ zu glauben, dass irgendeine beteiligte Seite sich auf diesen Friedensplan aus humanitären Gründen eingelassen habe. Denn sonst hätte man es auch schon vor zwei Jahren tun können. Die internationale Stimmung, die immer weiter zuungunsten Israels gekippt ist, könnte dazu beigetragen haben, dass es jetzt zu einer Einigung kam. Oder aber dieser Friedensschluss könnte die Vorbereitung darauf sein, erneut den Iran anzugreifen. Oder mehr Fakten im Westjordanland zu schaffen. Aber das sind für mich alles reine Spekulationen. Wir werden sehen, was passiert.
Ich kann zu dem Thema nur soviel beitragen: Nicht jeder Palästinenser ist Hamas. Die Hamas repräsentiert nicht das gesamte Volk Palästinas.
Wer also schreit, das man Palästinenser nicht unterstützen darf, dem sind schlicht Unschuldige in diesem ganzen Wahnsinn (und die gibt es unweigerlich, es sei denn man möge mir erklären wie ein Kind schuldig sein kann) egal. Ich für meinen Teil betrachte beide Seiten. Und historische Gegebenheiten ausser Acht zu lassen, ist unsinnig, wird aber gern getan. Davon ab - wir als Europäer sollten hier vielleicht auch einfach mal still sein? Solang man nicht in der Lage ist zu betrachten (wie du es tust), woher eine Situation kommt - also was ihr Ursprung ist, sollten laute Töne letztes Mittel der Wahl sein.
Edit: Hiermit benatworte ich übrigens auch den Auslöser deine Textes. Ich finde, jeden der sich dafür ausspricht auch das palästinensische Volk zu berücksichtigen, zu beachten das dort nicht alle Hamas sind, das dort unzählige Menschen hingerichtet werden - als Romantisierer zu bezeichnen ... nun, das ist unklug (um bei einer niveauvollen Bezeichnung zu bleiben). Man kann Israel durchaus auch kritisieren, man muss nicht den Kurs der Regierung fahren. Man darf auch mal mit Menschen sprechen, die dort gelebt haben. Man darf auch einfach mal die Klappe halten. (sorry, jetzt ist das Niveau verrutscht.) Ich weiß schlicht nicht genug über dieses ganze Thema um mehr und gehaltvoller zu sagen. Mich nervt nur die einseitige, teils vorwurfsvolle Argumentation, sobald mir das Wohl der anderen Seite auch am Herzen liegt.