Was läuft schief? Eine ganze Menge!
Mattias Desmet, Die Psychologie des Totalitarismus - Teil 1
I. Ulrike Guérot
Auf Mattias Desmets Buch Die Psychologie des Totalitarismus bin ich durch eine Fußnote Ulrike Guérots gestoßen. In ihrer Veröffentlichung »Der Ausverkauf der Republik: AfD & Meta-Krise« (zusammen mit Tom Amarque) führt sie im Zusammenhang mit den sogenannten »Demos gegen Rechts« von Anfang diesen Jahres - wer erinnert sich noch daran?1 - aus, ihrer Ansicht nach gebe es in Deutschland eine neurotische Fixierung auf die Nazi-Zeit. Sie wünsche sich natürlich nicht ein Vergessen, aber einen souveräneren und unaufgeregteren, kurz keinen hysterischen Umgang mit der eigenen Vergangenheit.2
Die Menschen wähnten sich bei diesen Demos, die Demokratie zu verteidigen, übersähen dabei aber, dass der Diskurs gegen die AfD »undemokratische Elemente« enthalte: dass hier eine Oppositionspartei gegängelt werde bis hin zum (juristisch wahrscheinlich chancenlosen) Verbotsverfahren; dass kritische Stimmen von den Leitmedien ausgeschlossen würden; und dass (vermeintliche) Moral über Recht gestellt werde. Es sei unlogisch, eine Demokratie retten oder verteidigen zu wollen, indem man die Meinungskorridore immer stärker einschränke:
»Wer Demokratie retten möchte, müsste zuallererst die Meinungsfreiheit retten.« (S. 58, m.H.)
Ähnlich wie manche Politiker, bspw. Sahra Wagenknecht, aber auch Mario Voigt, ist Guérot der Ansicht, die AfD müsse - unabhängig davon, ob sie einem zutiefst unsympathisch sei - politisch-inhaltlich gestellt werden, nicht ausgeschlossen oder verboten. Was andernfalls nämlich geschehe, sei eine immer stärkere Polarisierung, d.h. sich verhärtende Fronten - wir gegen sie - wodurch, so würde ich ergänzen, die Gegenseite entmenschlicht wird, was einer Gesellschaft immens schadet und einer Demokratie unwürdig ist.
Und im Kontext dieser Ausführungen, spekuliert sie über die Motivlage der Demonstrierenden bei besagten Demos. Vielleicht sei dies eine Art Wiedergutmachungsimpuls vieler Menschen, gegen wirklich schlimme Dinge nicht protestiert zu haben (bspw. während Corona). Aber man müsste hierzu die Psychologie befragen. Und hier nennt sie den Begriff der Massenformation und verweist in einer Fußnote auf das Buch Desmets.
II. Mattias Desmet
Ein Buch mit dem Titel Die Psychologie des Totalitarismus klang ungemein interessant und anziehend für mich, weshalb ich das Buch auch sofort bestellte, ohne mich auch nur weiter zu informieren, worum es genau ging oder wer Desmet ist. Als ich das Buch kurze Zeit später erhielt, wollte ich abends nur mal rasch noch reinlesen - und legte es mehrere Stunden nicht mehr aus der Hand. Schließlich schaute ich ein Interview mit dem Autor auf youtube, um einen tieferen Eindruck von diesem Menschen zu kriegen, war sehr angetan, und las weiter bis 4 Uhr morgens.
Mich hat noch nie ein Sachbuch so sehr fasziniert wie dieses, mich so sehr in seinen Bann gezogen, so viele Querverweise zu anderen Autoren und Denkern und Phänomenen entstehen lassen. Nicht, weil das Buch in irgendeinem Sinne perfekt oder frei von Fehlern und Irrtümern wäre - was ich ja auch gar nicht beurteilen könnte - sondern weil es, so scheint mir, den Finger auf die Wunde in unserer modernen Kultur legt und ein Panorama dessen schafft, was schief gelaufen ist, und warum. Und diese beeindruckende Leistung geschieht auf unter 300 Seiten.
III. Totalitarismus
Desmet hält die Staatsform des Totalitarismus nicht für ein Phänomen nur der unangenehmen jüngeren Vergangenheit, sondern für ein Phänomen der Gegenwart und vor allem auch der Zukunft. Darin folgt er Hannah Arendt, die in ihren großen Studien zum Thema prophezeite, dass es in Zukunft einen bürokratischen Totalitarismus geben werde, der nicht auf charismatischen Persönlichkeiten wie Hitler und Stalin aufbaut, sondern auf der unpersönlichen Maschinerie der bürokratischen Prozesse.
Die Tendenz zu totalitären Strukturen sieht Desmet in den Corona-Maßnahmen mit besonderer Deutlichkeit gegeben, doch schon Jahre vorher konnte man “einen neuen Totalitarismus” wahrnehmen, so Desmet, “der sich langsam aus seinem Samen löste und das Gewebe der Gesellschaft erstarren ließ.” (S. 7) In diesem etwas blumig formulierten Satz haben wir bereits zwei wesentliche Aussagen zum neuen Totalitarismus gegeben. Extrahieren wir sie:
Mit dem Wort “Samen” verbinden wir die Vorstellung einer Pflanze, die im Keim bereits angelegt ist und dann unter geeigneten Bedingungen wächst und gedeiht - wenn uns dieses Wachstum negativ erscheint, könnten wir von “wuchern” sprechen. Wir könnten an ein Unkraut denken, dass andere Pflanzen überwuchert und erstickt.
Der Begriff des Samens legt aber auch die Idee nahe, dass die totalitären Tendenzen gleichsam versteckt, nahezu unsichtbar, in unserer Kultur bereits angelegt sind, vielleicht schon seit langer Zeit.
Und allein die Pflanzen des Unkrauts im Zaun halten zu wollen, wenn die Samen in der Erde verstreut bleiben, ist - wie jeder Gärtner weiß - eine Sisyphos-Arbeit. Freilich dennoch eine unausweichliche, wenn man gärtnern will. Es gibt keinen finalen Sieg über das Unkraut. Aber es gibt klügere und weniger kluge Strategien.
Das Wort “erstarren” seinerseits, bezogen auf das “Gewebe der Gesellschaft”, impliziert ebenfalls eine Metapher des Lebendigen. Zu erstarren ist der Tod für das Lebendige, das immer in Bewegung und im Fluss bleiben muss. Erstarren ist das Stillhalten des Prozesses.
Wir haben zwar auch eine positive Vorstellung vom Erstarren und Innehalten - dem Tod - der Natur im Winter - “Wo alles erstarret, genieße das Bild.” (Goethe) - aber nur, weil wir hier die Auferstehung mitdenken, die im Frühling folgt.
Als Reaktion auf eine (vermeintliche) Gefahrensituation, kennen wir das Erstarren (freeze) aus dem Tierreich, hier der Mensch mitgedacht. Anders als die Reaktionen Fliehen oder Kämpfen (fight or flight), ist das Erstarren ein in Passivität fallen, ein nicht mehr Agieren.
Im psychologischen, wie auch im sozialen Sinne, bedeutet das Erstarren einen Stop in der Entwicklung. Der erstarrte Mensch und die erstarrte Gesellschaft entwickeln sich nicht mehr weiter. Was sich nicht mehr weiter entwickelt, zerfällt aber, oder degeneriert.
IV. Phänomene
Welche Phänomene betrachtet Desmet nun, in denen er schon vor Corona totalitäre Tendenzen zu erkennen meint? Wir müssen nach Tendenzen Ausschau halten, dass der Staat immer mächtiger wird und immer stärker in das Privatleben seiner Bürger eingreift.
Eine solche Tendenz ist die Massenüberwachung der Bevölkerung durch den Sicherheitsapparat, wie sie beschleunigt nach 9/11 vorangetrieben und dessen globales Ausmaß vor allem von Edward Snowden aufgedeckt wurde, und an die wir uns leider bereits so sehr gewöhnt haben, dass an Protest kaum mehr gedacht wird.
ein exponentieller Anstieg übergriffiger Aktionen der Sicherheitsbehörden, wie er derzeit auch in Deutschland zu beobachten ist.3
Verengte Meinungskorridore in den Leitmedien und Bildungseinrichtungen, was beispielsweise die sogenannte “Politische Korrektheit” im erweiterten Sinne, abfällig auch als “woke-Kultur” bezeichnet,4 oder die Klimabewegung angeht.
Damit einhergehend ein allgemeines Klima der Verunsicherung, was “man noch sagen darf”, oder welche öffentlichen Äußerung oder Assoziation mit Personen der Karriere schaden oder sogar den Job kosten könnten. In diesem Zustand ist einerseits alles, was nicht explizit strafbar ist, prinzipiell zu sagen erlaubt, aber die Folgen des sich-Exponierens sind nicht absehbar.5
Die Folge dieser Entwicklungen ist bei einem Großteil der Bevölkerung paradoxerweise nicht der Wunsch, der Bevormundung und Gängelung durch den Staat entgegenzutreten, sondern im Gegenteil, mitzumachen:
“Mit dem Aufkommen der Woke-Kultur und der Klimabewegung erhob sich der Ruf nach einem neuen, hyperstrengen Staat auch aus der Bevölkerung selbst. Terroristen, Klimawandel, heterosexuelle Männer und später auch Viren waren zu gefährlich, um ihnen mit antiquierten Mitteln beizukommen. Das technologische ‘Tracking und Tracing’ der Bevölkerung wurde zunehmend für vertretbar und sogar notwendig erachtet.” (S. 8)
V. Bedingungen des Totalitarismus: Massenbildung
Desmet knüpft in seiner Beleuchtung des Phänomens einerseits an die von Hannah Arendt erarbeiteten Ideen zum Totalitarismus an, andererseits an die Massenpsychologie, wegbereitend Ende des 19. Jahrhunderts von Gustave le Bon entwickelt in seiner Schrift Psychologie der Massen. Der totalitäre Staat basiere “auf dem beeindruckenden psychologischen Prozess der Massenbildung.” (S. 8)
Diese Massenbildung führe dazu, dass ein Teil der Bevölkerung an der Unterdrückung alles Unangepassten aktiv und auch gegen das eigene Interesse mitarbeite. Und diese Kooperation der Bevölkerung unterscheide den Totalitarismus auch von der klassischen Diktatur. In letzterer unterdrücke eine herrschende Elite mit Hilfe eines Gewaltapparats den Großteil der Bevölkerung. Im Totalitarismus unterdrückt die Bevölkerung sich gewissermaßen mit Hilfe des Regimes und des Gewaltapparates selbst.
An Arendt anknüpfend benennt Desmet vier Bedingungen, die erfüllt sein müssen, um “Massenbildung im großen Maßstab” zu ermöglichen (S. 126ff.):
Grundbedingung ist das atomisierte Subjekt, ohne tief gehende soziale Einbindung, einsam, isoliert, ohne Bezug zu einem gesellschaftlichen Ganzen.
Daraus ergibt sich fast zwangsläufig die empfundene Sinnlosigkeit der Existenz - der Mensch ist ein soziales Wesen, nur im gemeinsamen Erleben erlebt man sein Leben als sinnhaft.
Dieser unter 1. und 2. beschriebene Zustand erzeugt in der Bevölkerung “viel frei flottierende Angst”, also eine Angst oder ein Gefühl des Unbehagens, das sich auf nichts Konkretes richtet, sondern wie eine Art Hintergrundgefühl alles überlagert.
Dies wiederum führt zu “ungebundener Frustration und Aggression”, die nicht ausgelebt wird, weil der Betroffene (anfangs) kein Objekt findet, an dem er sich abreagieren kann.
Die Massenbildung kann dann eintreten, wenn den Menschen ein Objekt angeboten wird, auf welche Weise auch immer, auf die sie ihre Angst und ihre Aggressionen richten und sie somit ausleben können: “die Ausländer”, “die Juden”, oder “die Reaktionäre”; aber auch “dieser Virus”, “diese Globalisten”, oder “diese fiesen alten weißen Männer”.
Wir sehen: ist die erste Bedingung erst einmal erfüllt, stellen sich die anderen wie von selbst nach und nach ein. Aus diesem Grund erscheint es logisch, nicht die Aggression, Angst, oder Sinnlosigkeitsgefühle direkt zu bekämpfen, sondern das Gefühl, ein isoliertes Atom zu sein, philosophisch gesprochen, den Solipsismus. Anders herum gesprochen: der sozial gut eingebundene Mensch - mit intakten Familienbeziehungen und/oder wahren Freundschaften - ist gegen Massenbildung resilient.
Wir sehen ebenfalls: Die vier Bedingungen waren Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland und Russland erfüllt, und sie sind es auch heute in großen Teilen der Welt.
VI. Bedingungen der Massenbildung: das mechanistische Weltbild
Desmet betrachtet den Totalitarismus als “die logische Folge des mechanistischen Denkens und des damit verbundenen wahnhaften Glaubens an die Allmacht des menschlichen Verstandes.” (S. 15) Dieses sei wiederum eine Folge der Aufklärungstradition.
Deren große Erzählung vom “Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit”, wie Immanuel Kant es formulierte, habe den Menschen aus seinen traditionellen Vorstellungen und aus seiner ursprünglichen Eingebundenheit in Gesellschaft und Natur herausgerissen, und ihn in der naturwissenschaftlichen Betrachtung gleichzeitig in das Reich der Natur auf eine Art und Weise eingeordnet, die “die psychologische, symbolische und ethische Dimension des menschlichen Wesens total verkennt und dadurch menschliche Beziehungen unmöglich macht.” (S. 15)6
Desmet predigt aber selbstverständlich keine Rückkehr in einen vor-aufklärerischen Aberglauben und Irrationalismus. Wohl aber müssen wir die Sackgasse, in der wir uns befinden, verstehen, um einen Ausweg zu finden:
“Die eigentliche Aufgabe, vor der wir als Individuen und als Gesellschaft stehen, ist, ein neues Menschen- und Weltbild zu konstruieren, eine neue Grundlage für unsere Identität zu finden, neue Prinzipien für das Zusammenleben mit anderen zu formulieren und einer uralten menschlichen Fähigkeit zu neuer Wertschätzung zu verhelfen - dem Sprechen der Wahrheit.” (S. 16)
VII. Wirkung der Massenbildung: irrationaler Kollektivismus
Desmet betont an mehreren Stellen in seinem Buch die Bedeutung des Aussprechens der Wahrheit, oder des Wahr-Sprechens, eine Formulierung, die er faszinierenderweise von Foucault übernimmt. Dies hält er für so bedeutungsvoll, weil er Arendt darin zustimmt, dass das “ideale Subjekt der totalitären Herrschaft” genau diese Fähigkeit nicht mehr beherrscht, weil Wahrheit und Falschheit/Lüge ihm ununterscheidbar geworden sind.
Im Zustand der Massenbildung spielt die Orientierung an der Wahrheit dann endgültig keine Rolle mehr. Eine Gesellschaft mit übersteigertem Individualismus und Rationalismus, aber ohne Wahrheitsempfindung, kippt plötzlich in einen irrationalen Kollektivismus, in dem als das Wichtigste die “Solidarität mit dem Kollektiv” gilt. Wer nicht mitmacht, wird angefeindet. Wer Zweifel hat, oder die Dinge aus verschiedenen Perspektiven betrachten will, ist unsolidarisch:
“Die Masse ‘glaubt’ an die Erzählung, nicht weil sie wahr ist, sondern weil sie ein neues Gefühl der Verbundenheit erzeugt.” (S. 131)
VIII. Überwindung der Massenbildung
Wichtig scheint mir an dieser Stelle noch zu betonen, dass nicht die ganze Bevölkerung der Massenbildung unterliegt. Es seien “gewöhnlich” nur um die 30% der Bevölkerung, gut die Hälfte der Bevölkerung seien lediglich Mitläufer, und die übrigen ca. 10 - 20% seien diejenigen, die sich dem irrationalen Kollektivismus verweigerten (S. 189). An diesen läge es letztlich, die Massenhypnose zu durchbrechen, oder zumindest solange zu mäßigen, bis die Masse sich selbst vernichtet, denn diese sei “inhärent selbstdestruktiv”.
“Das totalitäre System muss also nicht besiegt werden, man muss es gewissermaßen zu überleben versuchen, bis es sich selbst zerstört. (S. 189)
Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass es in Hitlers Deutschland und in Stalins UdSSR ziemlich schwierig wurde zu überleben, wenn man nicht auf Linie war (oder sein konnte). Je ruhiger, klarer und konsequenter die Dissidenten aber ihre abweichende Linie vortragen, desto schwerer ist es, sie zu entmenschlichen, um sie dann zu vernichten. Aus verschiedenen Gründen waren in Deutschland und in der UdSSR die abweichenden Meinungen schon lange verstummt, bevor es zu Vernichtungslagern und massenhaften Säuberungswellen kam. Andernfalls hätte das Schlimmste vielleicht verhindert werden können, so meint Desmet.
Soweit ein grober Überblick über Desmets Thesen in seinem Buch. Auf die Details werde ich in folgenden Veröffentlichungen eingehen, ebenso wie auf den Zusammenhang, den Desmet mit den Corona-Maßnahmen herstellt, die seiner Ansicht nach eine Massenbildung mit totalitären Strukturen gut bebildern können.
Was - wenn es stimmt - die wichtige und interessante Frage aufwirft, ob Corona als Beispiel dafür dienen kann, wie es dissidenten Stimmen gelungen ist, die Massenhypnose zu durchbrechen und Schlimmeres - Zwangsimpfungen? Internierung?7 - zu verhindern. Oder ob die Corona-Massenbildung in der Folge lediglich ein anderes Objekt gefunden hat, auf die die Ängste und Aggressionen sich noch besser projizieren lassen? Auch auf diese Frage wird zurückzukommen sein.
Hier geht es zu Teil 2:
Auslöser der Demos war - darauf geht Guérot auch ein - der Correctiv-Artikel “Geheimplan gegen Deutschland”, über den in der Folge dann auch alle anderen Medien berichteten. Der Correctiv-Artikel löste die Demos vor allem wegen der Behauptung aus, es sei bei einem “Geheimtreffen in Potsdam” unter anderem auch um die Deportation von Deutschen Staatsbürgern gegangen. Ohne hier in die Tiefe gehen zu können, sei darauf hingewiesen, dass der Correctiv-Artikel „nur so von Ungenauigkeiten, wirkmächtigen Suggestionen und Meinungsäusserungen anstelle von Fakten“ strotzte, wie es die NZZ formulierte. Es würde sich lohnen, den Artikel in seiner ganzen Funktionsweise zu analysieren, hier ist jedoch nicht der geeignete Ort dazu (und natürlich habe ich auch keine Zeit). Der Artikel in der NZZ und dieser auf Übermedien scheinen mir jedoch gute Startpunkte zu sein, wenn man sich damit eingehender befassen will. In letzterem die Passagen:
“Besonders problematisch wird die Kombination aus Nichtbeleg und Großdeutung, wenn es um den massivsten Vorwurf im Bericht geht, nämlich die vermeintliche Ausweisung deutscher Staatsbürger. Denn genau hier verläuft die Grenze zur Verfassungsfeindlichkeit. Für rigorosere Abschiebung von Asylbewerbern zu sein, das verstößt nicht gegen das Grundgesetz, beim „Anpassungsdruck“ käme es auf den genauen Inhalt von „maßgeschneiderten Gesetzen“ an.” - “Und es wird noch verrückter: In einem der zahlreichen Gerichtsverfahren hat Correctiv sogar klargestellt, dass es „zutreffend“ sei, dass „die Teilnehmer*innen nicht über eine rechts-, insbesondere grundgesetzwidrige Verbringung oder Deportation deutscher Staatsbürger gesprochen haben“. / Wer von den vielen Leuten, die alarmiert durch die Berichterstattung auf die Straße gegangen sind, weiß, dass Correctiv gar nicht über „Deportationspläne“ berichtet haben will? Wer von ihnen weiß, dass Correctiv vor Gericht sogar ausdrücklich festgestellt hat, solche Pläne seien nicht besprochen worden?” - “Gemeinsam gegen rechts, das ist keine falsche Losung, aber sie kann nicht dazu führen, dass journalistisch mit zweierlei Maß gemessen wird. Nach dem Motto: Solange es gegen die Richtigen geht, schauen wir nicht so genau hin.”
Was uns an Hannah Arendts Bemerkung erinnern darf, zwar in Bezug auf das Phänomen der Lüge in der Politik bezogen, aber auch hier durchaus anbringbar, »moralische Entrüstung« werde »sie nicht zum Verschwinden bringen« (Wahrheit und Lüge in der Politik, S. 9).
Wobei es natürlich eine Frage des Standpunktes und der Interpretation bleibt, was “übergriffig” heißt; und zusätzlich die Schwierigkeit besteht, überhaupt herauszufinden, was wirklich passiert und was übertrieben oder vollkommen falsch dargestellt wird. Es lässt sich aber wohl trotz dieser Unsicherheiten allgemein feststellen, dass, wie der Philosoph Peter Sloterdijk es anlässlich der Corona-Maßnahmen formulierte, der Staat “die Samthandschuhe abstreift”.
Was diesen ganzen Bereich angeht, herrscht ein begriffliches Chaos, und es scheint keinen übergreifenden Begriff zu geben, der halbwegs neutral wäre. Von mir gemeint sind die Diskurse, die nach der Analyse von Jonathan Haidt und Greg Lukianoff auf den drei Unwahrheiten beruhen: 1. Was dich nicht umbringt, macht dich schwächer. 2. Vertraue immer deinen Gefühlen. 3. Das Leben ist ein Kampf zwischen guten und bösen Menschen. Alle drei Axiome widersprechen der überlieferten Weisheit der Alten, widersprechen der modernen psychologischen Forschung, und schaden den Individuen und Gemeinschaften, die sie annehmen. (Haidt, Lukianoff; The Coddling of the American Mind; New York, 2018.)
Ein prominentes Beispiel hierfür ist der “Fall Ulrike Guérot”: Guérot wurde als Professorin offiziell wegen Plagiaten gekündigt, es scheint mir jedoch sehr wahrscheinlich, dass diese Plagiate lediglich der Vorwand sind, und die Universität Bonn sie aufgrund ihrer “umstrittenen” Haltungen zu den Corona-Maßnahmen und zum Ukraine-Krieg loswerden wollte. (Die Details lassen sich im dünnen Band Der Fall Ulrike Guérot, herausgegeben von Gabriele Gysi, nachlesen. Zu ähnlichen Phänomenen im US Raum empfehle ich den Artikel “Seems Like Targeting” von Scott Alexander.)
Desmet beschreibt hier in anderen Worten die Gefahr in der Aufklärungstradition, die auch Hans Jonas schon bemerkte, und auf die ich in einem früheren Artikel hingewiesen habe: “Skylla: der dualistische Solipsismus, der uns ganz von der Welt trennt; und Charybdis: der monistische Naturalismus, der uns ganz in der Welt aufgehen lassen will. Beide führten in den Nihilismus.”
Beides wurde immerhin verschiedentlich erwogen oder sogar gefordert.