Russland als stabiler Nationalstaat und autoritäre Demokratie
Emmanuel Todd: Der Westen im Niedergang (Teil 2 von 4)
Im letzten Artikel zu Todds Der Westen im Niedergang hatten wir gesehen, dass Todd sehr überzeugt davon ist, dass Russland den Krieg in der Ukraine gewinnen wird. Und zwar deshalb, weil der Westen in einer ökonomischen, kulturellen und — dem zugrunde liegend — spirituellen Krise steckt.1 In diesem zweiten Teil werden wir nun seine Analyse unter die Lupe nehmen, die ihn zu diesen Thesen brachte. Wir beginnen heute mit Russland. Danach werden wir uns — im nächsten Artikel dann2 — den Westen, insbesondere die USA anschauen.
Russland, so müsse man zugeben, habe erstaunlich wenig unter den Sanktionen des Westens gelitten. Dies habe im Wesentlichen zwei Gründe:
intern Russlands ökonomische und gesellschaftliche Stabilität;
extern die Tatsache, dass der Nicht-Westen sich an den Sanktionen nicht beteilige.
I. Ökonomische Stabilität
Russlands ökonomische Stabilität und das Funktionieren der russischen Gesellschaft ließen sich ganz einfach anhand einiger statistischer Daten ersehen, die frei verfügbar seien. So ließ sich zwischen 2000 und 2017 ein Rückgang negativer Marker verzeichnen (Angaben jeweils pro 100.000 Einwohner):
alkoholbedingte Todesfälle von 25,6 auf 8,4
Selbstmordrate von 39,1 auf 13,83
Tötungsrate von 28,2 auf 6,24
Kindersterblichkeitsrate von 19 auf 4,4 pro 1000 Lebendgeburten5
Gerade der letzte Wert hat laut Todd immense Bedeutung, da er die “schwächsten Mitglieder” der Gesellschaft betreffe. Insofern sei die Einstufung Russlands als hoch-korruptes Land schlicht unplausibel:
“Ein Land, das von einer niedrigeren Kindersterblichkeitsrate profitiert als die der USA, kann nicht korrupter sein. Denn da die Kindersterblichkeit den grundlegenden Zustand einer Gesellschaft widerspiegelt, ist sie zweifelsohne ein besserer Indikator der tatsächlichen Korruption als diese nach irgendwelchen Kriterien fabrizierten Indikatoren.” (S. 39)
Todd spricht hier ganz nebenbei ein großes Problem an, das immer anfällt, wenn mit Statistiken argumentiert wird: Die Frage, wie gut diese sind, d.h. ob sie tatsächlich die Realität im gewollten Sinne abbilden, oder doch nur “nach irgendwelchen Kriterien fabrizierte Indikatoren”. Wir hatten in der Vergangenheit schon Gelegenheit, diese Schwierigkeit in anderem Kontext zu thematisieren. Deswegen will ich diese Problematik an dieser Stelle nicht vertiefen, aber doch darauf hingewiesen haben, dass Statistiken immer mit Vorsicht zu genießen sind.
Auch ökonomisch stehe Russland gut da, so Todd weiter. Seine Landwirtschaft produziere Überschüsse, zudem habe es eine starke Rüstungsindustrie und sei “größter Exporteur von Nuklearanlagen”. Russland bilde nicht nur prozentual, sondern auch in absoluten Zahlen mehr Ingenieure aus, als die USA.6 Der Zugang zum Internet zeuge von einer klugen Strategie, “entschlossen, innerhalb einer kompetitiven Welt weiterzubestehen, und zugleich darauf bedacht, ihre Autonomie zu wahren.” Die Russen hätten Zugang zu den großen US-amerikanischen Plattformen wie YouTube, biete aber erfolgreich auch lokale Alternativen.
Auch auf dem Finanzsektor hätten die Russen seit der Krim-Annektion und den folgenden Sanktionen 2014 ihre Souveränität vorangetrieben, weshalb ihnen der Ausschluss aus dem Swift-System nicht nachhaltig habe schaden können. Die Sanktionen hätten Russland in seiner Strategie insgesamt sogar wohl eher genutzt als geschadet, da sie mehr Souveränität und mehr Unabhängigkeit vom Westen — und den Schulterschluss mit nicht-westlichen Mächten, vor allem China, Indien, Iran — erzwangen.
Zwei weitere wichtige Indikatoren für Russlands Stabilität seien die uneingeschränkte Reisefreiheit — jeder Russe darf, wenn er will, das Land verlassen —, und “das vollkommende Fehlen von Antisemitismus”. Gerade der letzte Punkt sei bemerkenswert, denn Russland habe immer die Tendenz gehabt, in instabilen Zeiten auf Antisemitismus zurückzugreifen, um vom eigenen Versagen abzulenken.
II. Gesellschaftliche Stabilität
Die Hoffnung des Westens auf einen Aufstand des Mittelstands gegen Putin sei naiv-illusorisch und fuße auf dem Missverständnis, alle Gesellschaften seien im Grunde gleich. Russland sei gesellschaftlich aber nicht wie bspw. England, weil es anders geprägt sei, nämlich von der “kommunitären” und “patrilinearen” Bauernfamilie — die prägenden Werte seien dabei “Autorität (des Vaters über die Söhne)” und “Gleichheit (der Brüder untereinander)”.
Lenins Kommunismus habe die Lücke füllen können, die im Laufe des 19. Jahrhunderts mit dem Wegfall der Leibeigenschaft, der Urbanisierung und Alphabetisierung entstanden war: “das nun befreite Individuum fand sich völlig desorientiert; es suchte in der Partei, der zentralisierten Wirtschaft und im KGB Ersatz für die väterliche Macht.” Die Werte der Autorität und der Egalität wären auch nach dem Zusammenbruch der UdSSR nicht einfach so verschwunden.
Der “absolute Individualismus” des Westens sei in Russland dadurch verhindert worden, und daraus resultiere die gesellschaftliche Stärke (und die Opferbereitschaft):
“In Russland gibt es genügend kommunitäre Werte, die weiterbestehen — autoritäre und egalitäre —, damit das Ideal einer kompakten Nation überlebt und eine besondere Form des Patriotismus wieder aufleben kann.” (S. 57)
Insofern sei es wiederum eine naive Hoffnung gewesen, aus Russland könne in kurzer Zeit eine liberale Demokratie werden. Todd “würde es eher als autoritäre Demokratie bezeichnen”. Eine Demokratie sei Russland, denn auch wenn die Wahlen wohl “ein wenig verfälscht” sind, so bestreite doch niemand die breite Unterstützung des russischen Volkes für seine Regierung. Sie sei aber eben autoritär und nicht liberal, weil die uns im Westen so wichtigen Minderheitenrechte nicht gewährleistet würden: die Pressefreiheit sei eingeschränkt, die Zivilgesellschaft eingeschränkt, es herrsche Homogenität statt Pluralität, aber dies entspreche eben auch den prägenden Werten Russlands.7Und damit dem Mehrheitswillen im Volke.
Putin und seine Regierung legten auch großen Wert darauf, das Ohr an der Stimme des Volkes zu haben. Umgekehrt seien die Reichen in ihre Schranken verwiesen worden: “Putin ließ ihnen ihr Geld, und nur ihr Geld.” Sie “verzichteten auf autonome Machtbestrebungen.” Insofern gebe es gar keine russischen Oligarchen, anders als im Westen, vor allem der USA. Zusammengefassend resümiert Todd:
“Das ‘System Putin’ ist stabil, weil es das Ergebnis der russischen Geschichte ist und nicht das Werk eines Menschen. Der Traum eines Aufstands gegen Putin, von dem Washington besessen ist, ist tatsächlich nur ein Traum, der von der Weigerung der Menschen im Westen herrührt, die Verbesserung der Lebensbedingungen unter seinem Regime und die Besonderheiten der politischen Kultur Russlands anzuerkennen.” (S. 59)
III. Der nicht-westliche Rest-der-Welt unterstützt Russland
Mit Blick auf die Sanktionen sollte man sehr genau zur Kenntnis nehmen, wer die Sanktionen gegen Russland mitgetragen habe und wer nicht. Neben Nordamerika, Europa und Australien seien dies nur Japan, Südkorea und ein paar kleine lateinamerikanische Länder.8 Die wirtschaftlich wichtigen nicht-westlichen Länder der BRICS-Staaten, Brasilien, Indien, China und Südafrika, haben sich alle nicht an den Sanktionen beteiligt. Die arabische Welt auch nicht.
Von unfassbarer und erstaunlicher Dummheit zeuge die westliche Erwartungshaltung in den ersten Monaten nach Kriegsausbruch, China werde sich gegen Russland wenden. Hier legt Todd seine distanzierte Reserviertheit ab und wird polemisch: Er werde “aus Gründen der Gerechtigkeit und Nächstenliebe niemanden zitieren.” Aber:
“Zu erwarten, dass China sich mit dem Westen gegen Russland aufstellen würde, setzt voraus, dass Xi Jinping und sein Gefolge Einfaltspinsel wären, und unterstellt erneut, dass der weiße Mensch ein offensichtlich überlegenes Wesen sein soll.” (S. 269)
Der Westen sei im Rest-der-Welt nämlich kein bisschen beliebt, spätestens seit der globalen Finanzkrise.9 Wirtschaftlich sei immer klarer geworden, dass die Globalisierung sich “als eine simple Rekolonisation der Welt durch den Westen entpuppt” habe, also die Ausbeutung und Unterdrückung des globalen Südens. Zudem herrsche im Großteil dieser Länder “andere Familienstrukturen und Verwandschaftssysteme” als im Westen — und diese hätten, wie für Russland bereits besprochen, erheblichen Einfluss auf das Wertesystem.
Nachdem Russland den ersten Schock der Sanktionen gut überstanden habe, hätten sich immer mehr Länder, teils offener, teils versteckter, im Grunde auf Russlands Seite gestellt und “gönnten” ihm den Sieg gegen die USA:
“Russland einer operativen Blockade zu unterwerfen, war im Grunde von Anfang an ein hirnrissiges Projekt, das nur dem NATO’schen Narzissmus entspringen konnte.” (S. 280)
Alternativ könnte man es dahingehend formulieren, dass es einen hysterischen Moralismus gab, wie beispielsweise von Seiten der deutschen Außenministerin — nur ist Moralismus ja eben keine echte Moral, sondern vermutlich eine Form von Narzissmus.
IV. Plutokraten aller Länder, vereinigt euch?
Todd liefert dann aber doch — etwas paradox und entgegen seiner eigenen Rhetorik — ein plausibles Argument dafür, dass man hätte erwarten können, dass der Rest-der-Welt sich auf die Seite des Westens schlägt. Denn, so die Überlegung, diese Entscheidung werde ja nicht von “ausgebeuteten Arbeitern”, sondern von “Herrschergruppen in Indien, der Türkei, Saudi-Arabien, Südafrika, Brasilien, Argentinien und vielen anderen” gefällt. Und von diesen hätte man durchaus erwarten können, dass sie “sich mit dem Westen solidarisierten, wo sie ihre Dollars recyceln und sich sogar vorstellen könnten, dazuzugehören.”
“Die großen Hotels, die Steueroasen, die amerikanischen oder englischen Privatschulen, wo Plutokraten aller Länder ihre Kinder hinschicken, all das hätte für die Superreichen des Planeten einen gemeinsamen Raum abstecken können; und Oliver Bulloughs Moneyland hätte zum zentralen Nervensystem eines authentisch post-nationalen Universums werden können…” (S. 281)
Wieso kam es nicht dazu? Todd nennt zum einen die “illegale Beschlagnahmung russischer Vermögenswerte im Ausland”, insbesondere die Jagd auf Vermögenswerte der russischen “Oligarchen” — die laut Todd ja eigentlich keine sind, wie wir sahen — als einen unklugen Schachzug. Denn so wurde den Plutokraten im Rest-der-Welt vor Augen geführt, dass sie sich ihrer Pfründe nicht sicher fühlen können, sollte ihr eigenes Land mal in Konflikt mit dem Westen geraten, und ein neues Unabhängigkeitsstreben vom Dollar und den USA angeregt.
Todd vermutet aber, dass daneben vor allem auch “politische und moralische Werte”, eine Rolle gespielt hätten, doch “unglücklicherweise” nicht so, wie man es sich Westen gedacht hätte:
“Westliche Werte werden immer unbeliebter.” (S. 281)
Die Gründe hierfür wurden im Vorhergehenden bereits angedeutet, seien hier aber noch einmal expliziert:
Der Westen hat den Rest-der-Welt gnadenlos ausgebeutet und unterdrückt und tut es auch heute noch, wo möglich — zudem werden die westlichen Länder, insbesondere die USA, nicht mehr als verlässliche Partner wahrgenommen, denn zu oft haben sie sich an Verträge oder Versprechen nicht gehalten, und haben ihre Partner einfach fallen lassen.
Der Westen tickt in seinen Werten anders als der Rest-der-Welt.
Letzteres führt Todd darauf zurück, dass im Westen ein bilateres, liberales, peripheres Kernfamilien-Modell herrschte, dessen Entwicklung durch die Alphabetisierung in der Neuzeit zur liberalen Demokratie führte, in jüngerer Zeit dann zum radikalen Feminismus, zur Emanzipation der Homosexualität und zur “Transgender-Ideologie”. Für den Westen sei diese Entwicklung konsequent und daher in seinen Augen auch begrüßenswert.
Für den Rest-der-Welt aber nicht. Denn hier habe größtenteils ein patrilineares kommunitäres Familiensystem existiert — wie in Russland —, das “wenig oder gar nicht individualistisch ist” und das in den westlichen Werten einen maßlosen Egoismus und letztlich eine Verrücktheit sieht, eine Dekadenz, die man sich nur leisten kann, wenn man in der Machthierarchie ganz oben steht, und die einen aber auch zu Fall bringen wird.10
Wenn Russland also konservative Sitten einfordert, die orthodoxe Religion überbetont, die eigentlich “kein erwähnenswerter Faktor” mehr sei, und “seine homophobe Antitransgender-Politik” ausweitet, dann verschrecke dies den Rest-der-Welt nicht — im Gegenteil, es ziehe sie an.11 Und deshalb, so Todd, sei Russland mitnichten isoliert, sondern weite seine Soft Power im Gegenteil immer weiter aus.
V. Russlands eigentliche Schwäche
Russlands eigentliche Schwäche sei aber das demographische Problem, dass es mit dem Westen — und auch China — teilt, und das ist eine zu niedrige Geburtenrate, um die Bevölkerung stabil zu halten. Sie liegt in den letzten Jahren wohl bei ca. 1,5 Kindern pro Frau.12 Und das wirkt sich jetzt schon auf die Anzahl wehrfähiger Männer aus. Gibt es in der Gruppe der 35-39-Jährigen noch 6 Millionen Männer, sind es bei den 20-24-Jährigen nur 3,6 Millionen. Das heißt, Russland kann es sich nicht leisten, und wird es sich in Zukunft immer weniger leisten können, im Krieg Soldatenleben zu verschleudern.
“Dies ist der Grund, warum das Bild eines erobernden Russlands, das fähig wäre, in Europa einzufallen, nachdem es die Ukraine geschlagen hätte, reine Fantasie oder Propaganda ist. In Wahrheit erscheint Russland mit seiner schrumpfenden Bevölkerung und einer Fläche von 17 Millionen Quadratkilometern weit davon entfernt, neue Gebiete erobern zu wollen, es fragt sich vielmehr, wie es diejenigen weiterhin bevölkern kann, die es schon besitzt.” (S. 60)
Zum Vergleich, Russlands Fläche ist 48 Mal so groß wie Deutschland, die Bevölkerung aber (mit unter 150 Mio.) nicht einmal die doppelte von der Deutschlands. Zudem habe Russland alles, was es an natürlichen Ressourcen brauche — anders als Westeuropa — im eigenen Territorium.
Im Hinblick auf die Forderung nach immer mehr Aufrüstungsausgaben, gerade in Deutschland, müsse man doch konstatieren, dass die NATO 12 Mal so hohe Militärische Ausgaben hätten wie Russland, und selbst wenn man dies kleinrechne und die USA weglasse, bliebe das Verhältnis immer noch bei 2:1.13
VI. Warum dann Krieg?
Was vielleicht erneut die Frage aufwirft, warum Russland dann überhaupt in der Ukraine einmarschiert sei, wo die Dinge ja auch von Anfang an nicht so richtig gut liefen. Was laut Todd daran gelegen habe, dass Russland eben Soldatenleben schonen wollte, und darum nur langsam und mit geringer Mannstärke eingerückt sei.14
Der Konflikt zwischen Russland und dem Westen schwärte schon lange, und trat seit 2014 in eine erste akute Eskalationsphase ein. Aus russischer Sicht, wie auch aus der informierten Sicht westlicher Strategen, war es nur eine Frage der Zeit, bis Fakten geschaffen werden müssten, so oder so.
Das heißt, die russische Führung musste es als “moralische Notwendigkeit” ansehen, “die Souveränität ihres Landes zu wahren”, und zwar im Zeitfenster, bevor nicht mehr genügend Soldaten zur Verfügung stehen, aber nachdem man sich wirtschaftlich unabhängig genug vom Westen gemacht hatte und sich aufgrund der Hyperschallraketen militärisch ebenbürtig oder sogar überlegen fühlen konnte.
Das beste Zeitfenster für die Russen seien die Jahre 2022-2027, so Todd. Und darum sei 2022 der Krieg ausgebrochen. Und müsse vor 2027 gewonnen werden. Darum werde Russland sich auch nicht mit Verhandlungen, Waffenstilständen oder anderen Scheinlösungen abspeisen lassen:
“Moskau will den Sieg, nichts weniger.” (S. 64)
Und wenn Russland sich in einer multipolaren Weltordnung als Großmacht etablieren will — welches Land wollte dies nicht, wenn es könnte? — dann braucht es diesen Sieg auch, unbedingt.
Was für eine bescheidene Situation! Wir werden im nächsten Teil den “Niedergang des Westens betrachten, den Todd diagnostiziert.
Todd selbst benutzt meistens den Ausdruck “religiös” statt spirituell. Aus dem Kontext ergibt sich aber, dass es ihm nicht um das spezifisch religiöse Momentum geht, sondern um die sinnstiftende Narrative, die ihm zufolge — Max Weber folgend — im Westen vor allem der Protestantismus hatte, die aber nicht notwendig religiös sein müsste. Ich verwende daher den Ausdruck “spirituell”, den Todd nur an einer Stelle nutzt. So schreibt Todd in der Einleitung, er wolle “eine erweiterte Vision der Geopolitik und der Geschichte vorschlagen, die das absolut Irrationale im Menschen besser integriert, namentlich seine spirituellen Bedürfnisse.” Wobei Todd mit “absolut irrational” nur meint, dass diese Bedürfnisse nicht dem vernünftigen Kosten-Nutzen-Kalkül folgen, die in eine geopolitischen Analyse normalerweise vorherrschen.
Der ursprüngliche Plan sah vor, Russland und den Westen in einem Artikel abzuhandeln. Dies hat sich als zu umfangreich erwiesen, darum hat diese Artikelreihe nur 4 statt nur 3 Teile. Entsprechende Änderungen im ersten Teil, um diese Planänderung zu kaschieren, wurden stillschweigend vorgenommen ;)
Deutschland hatte 2019 eine Suizidrate von 12,9, also der Russlands ähnlich.
Ja, statistisch ist man in Russland (aber auch im Westen) für sich selbst gefährlicher als andere: die Tötungsrate ist niedriger als die Selbstmordrate.
Wobei Todd natürlich sieht, dass die USA diesen Umstand ausgleichen, indem sie Ingenieure aus Asien, vor allem China und Indien, abziehen. Generell findet ein Braindrain aus dem globalen Süden in den Westen, vor allem die USA statt, was mit Schuld daran ist, dass die Ungleichgewichte sich verhärten. Die ärmeren Länder verlieren schlicht ständig einen großen Teil ihrer intelligentesten und gebildetesten Bevölkerung, die der Westen sich einverleibt.
Todds Darstellung ist vollkommen frei von moralischer Beurteilung. Das ist wichtig zur Kenntnis zu nehmen. Bevor wir uns moralisch empören, sollten wir uns aber vielleicht erst einmal damit befassen, wie es denn um unsere eigenen Minderheitenrechte bestellt ist, sofern diese nicht dem Mainstream-Narrativ entsprechen. Und selbst, wenn wir uns dann immer noch empören wollen, müssen wir trotzdem zunächst zur Kenntnis nehmen, wie die Realität nun einmal aussieht.
Todd erwähnt dies nicht, aber auch unter den restriktiven Maßnahmen im Rahmen der Corona-Pandemie hatte ja vor allem der globale Süden zu leiden, und dort wiederum die Ärmeren, bspw. in Indien.
Letzteres sagt Todd nicht explizit, es liegt aber nahe, dass die westliche Entwicklung so gesehen wird, weil sie von den Konservativen in diesen Ländern ja auch so gesehen wird.
Westlicher Moralismus wird diese Realität ganz schrecklich finden und der Ansicht sein, wir müssten also den Rest-der-Welt gehörig die richtige Moral predigen, nämlich unsere. Es lohnt sich aber darüber nachzudenken, welchen Anspruch wir darauf hätten, dass unsere Moralvorstellungen richtiger seien als die der meisten Menschen der Welt, insbesondere ob unser Individualismus wirklich “richtig” ist, oder nicht doch wirklich vor allem maßloser Egoismus, zudem philosophisch auf ziemlich instabilem Fundament gebaut. (An dieser Stelle könnte man jetzt gut damit beginnen, über Raymond Geuss’ Not thinking like a liberal zu reden, aber eine Fußnote ist nicht der richtige Ort.)
Wenn in vielen westlichen Ländern die Bevölkerung wächst, wie in Deutschland und den USA, dann aufgrund der hohen Einwanderung. Die eigene Reproduktion alleine würde zu einem raschen Rückgang führen.
Die NATO hätte die Ukraine also problemlos verteidigen können. Sie hat dies nicht gewollt und auch kurz vor dem russischen Einmarsch offiziell angekündigt, sie werde die Ukraine nicht verteidigen. Sie hätte ja auch das Gegenteil ankündigen können. Erinnern wir uns daran, dass die Ukraine nicht sofort eifrige Militärhilfe erhielt, sondern äußert zögerlich — aus welchen Gründen auch immer. Todd erwähnt, im komme das Bild eines verrückten Poker-Spielers, der gegen den Schachspieler Russland verliert.
“Viele Menschen im Westen hatten sich das kindische und überzeichnete Bild eines dämonischen Putin geschmiedet und ignorierten den Umstand, dass Russland nur 100 000 bis 120 000 Menschen in die Ukraine geschickt hatte, einem Land von 603 700 km2. Zum Vergleich: Beim Einmarsch in die Tschechoslowakei im Jahr 1968, einem Land von 127 900 km2, entsandten die UdSSR und ihre Trabanten aus dem Warschauer Pakt 500 000 Soldaten.” (Todd, S. 16)