Vieles, wenn auch bei weitem nicht alles, würde ich auch so unterschreiben. In der Summe sind die falschen Darstellungen von Sachverhalten durch die jeweiligen Regierungen wohl einer der Hauptgründe für Politikverdrossenheit. Und feststellen darf man wohl auch, dass falsche Darstellungen (oder nennen wir sie ruhig Lügen, denn letztendlich ist es genau das, wenn man weiß, dass sich ein Sachverhalten ganz anders darstellt als man nach außen hin kommuniziert, aus welchen Gründen auch immer) ganz sicher juristisch nicht gedeckt sind - egal, wie gut die Gründe für eine falsche Darstellung auch sein mögen.
Eine Sache vielleicht, die ich gerne noch angesprochen hätte:
Man kann in punkto Aufrüstung durchaus unterschiedlicher Meinung sein und beide Meinungen mMn. einigermassen begründen, aber gerade wenn es um Umweltschutz geht, stellt sich doch die Frage, ob Aufrüstung umweltschädlicher ist als Angriffskriege auch in Zukunft zuzulassen.
Wenn man, wie ich, der Meinung ist, dass man Russland nur dann vor weiteren Angriffskriegen auf schwächere, ehemalige Satellitenstaaten abhalten kann, wenn man ihm ein militärisch starkes Europa entgegensetzt und diese schwächere Satellitenstaaten in ein Bündnis einbezieht, das in der Lage ist, Russland von einem Angriff abzuhalten oder zumindest die Hürde für einen Angriff deutlich zu erhöhen, wäre da dem Umweltschutz nicht eher gedient als geschadet ?
Ich wage es gar nicht, auch nur abschätzungsweise durchzurechnen, wie weit der russische Angriffskrieg auf die Ukraine die Bemühungen um mehr Umweltschutz und Maßnahmen zur Abschwächung der Klimakatastrophe zurückgeworfen hat.
Es ist und bleibt ein ewiges Gesetz, dass es jahrzehntelang dauert, um etwas sinnvolles aufzubauen und leider nur wenige Momente, um all das wieder einzureißen.
Vielleicht wäre es an der Zeit, den Begriff Pazifismus anders zu definieren. Für mich bedeutet Pazifismus inzwischen, dass mein eigenes Land kein Interesse mehr daran zeigt, ein anderes Land anzugreifen. Pazifismus bedeutet für mich inzwischen nicht mehr, einen Angriff eines anderen Landes auf einen souveränen Staat mit Gleichgültigkeit zu betrachten und der Begriff bedeutet für mich auch nicht, mich im Falle eines Angriffs auf mein eigenes Land einfach so zu ergeben.
Insofern ist Aufrüstung für mich nicht zwangsläufig eine offensive Sache, sondern eine, die einem auch aufgezwungen wird.
Das sieht das BSW und Sahra Wagenknecht sicher anders - und das ist ein einer Demokratie auch durchaus legitim.
Noch ein Gedanke:
Aufrüstung in Europa bzw. das sich in die Lage zu versetzen, bei der Verteidigung der eigenen Staaten unabhängig zu sein (darum geht es nämlich mMn.) bedeutet eben auch, sich ein ganzes Stück von der transatlantischen Abhängigkeit zu befreien. Dass das schon längst hätte passieren müssen, bekommen wir gerade drastisch vor Augen geführt...
Vielen Dank erst einmal, dass Du Dir die Zeit nimmst, einen langen Kommentar zu schreiben. Davon fühle ich mich geehrt :)
Ich würde den Begriff Pazifismus nicht neu definieren, denn die Bedeutung der Begriffe durcheinander zu bringen, scheint mir eine geeignete Strategie zu sein, eine Bevölkerung vollständig zu verwirren. Siehe 1984, Frieden ist Krieg etc. Ich würde dann einfach zugeben, dass ich kein Pazifist (mehr) bin -- ist ja nicht schlimm dran, echte Pazifisten sind selten. Was mich an diesen Song von Degenhardt erinnert: https://www.youtube.com/watch?v=WDTtMTcj8X0
Zur Frage von Umweltschutz, Aufrüstung und Krieg: das ist natürlich ein riesiges Thema, das sich für eine schriftliche Diskussion vielleicht auch nicht so sehr eignet, aber folgende Gedanken habe ich dazu:
(1) Wenn die Ausgaben eines Staates begrenzt sind, dann sind Ausgaben für X immer Geld, das dann nicht für Y ausgegeben werden kann. Insofern sind auf dieser ersten Ebene Umweltschutz und Aufrüstung Konkurrenten, genauso wie Soziales und Infrastruktur, etc.
(2) Jetzt könnte man überlegen, dem stimme ich zu, dass nichts so verheerend ist für die Umwelt wie ein (moderner) Krieg. Und wenn Aufrüstung Kriege verhindert, dann wäre also um eine Ecke gedacht, Geld in Aufrüstung statt direkten Umweltschutz zu pumpen, besser auch für den Umweltschutz. Mir fällt spontan kein Beispiel ein, bei dem Aufrüstung Kriege verhindert hat. Höchstens vielleicht, dass atomare Aufrüstung lange Kriege zwischen Großmächten verhindert hat, aber gleichzeitig zu sehr hässlichen Stellvertreterkriegen geführt hat -- Afghanistan, Vietnam, Syrien, Ukraine --
(3) Was passiert mit Waffen, die im Idealfall nicht eingesetzt werden? Nun, es gibt immer wieder Hinweise darauf, dass sie in anderen Teilen der Welt landen, um dort die Konflikte zu bewaffnen.
(4) Ich verstehe die Narrative nicht, nach der Russland der alleinige Aggressor ist. Wenn man sich ganz genau anschaut, welche Entwicklung die NATO und Russland seit 1990 genommen haben, dann hat m.E. der Westen, vollkommen dominiert von den USA, die vollkommene Unterwerfung Russlands verlangt, sie nicht erhalten, und in der Folge Russland weiterhin wie einen Feind betrachtet. Die Vorgeschichte dieses Konfliktes lässt sich nicht damit vereinbaren, Russlands Angriff als "unprovoziert" zu bezeichnen. (Aus moralischer Perspektive kann und sollte man diesen Angriff trotzdem verurteilen. Nur ticken Länder, vor allem Großmächte, nicht nach moralischen Fragestellungen, sondern nach geopolitischen -- weshalb viele Länder nicht verstehen, wieso Russlands Angriff der Ukraine etwas anderes sein soll als der Angriff der USA auf Afghanistan, Irak, Syrien, Libyien, etc. (um Lateinamerika einmal außen vor zu lassen).
(5) Wenn man diese Narrative aber nicht teil, dann scheint es mir recht naheliegend, darauf hinzuweisen, dass die Aufrüstung des Westens, insbesondere der Ukraine gegenüber Russland erst den Kriegsgrund geliefert hat. Diplomatische Beziehungen zu Russland zu vertiefen, wie Gerhard Schröder es eingeleitet hatte, hätte m.E. diesen Krieg verhindern können.
(6) Wenn man sich die Rüstungsausgaben der NATO (selbst ohne USA) anschaut, dann sind sie bereits viel höher als die Russlands. Das gleiche gilt für den ebenfalls weiterhin sehr wichtigen Faktor der Menge wehrfähiger Soldaten. Das gilt sogar, wenn man die geringeren Produktionskosten für Waffen in Russland berücksichtigt. Es ist für mich nicht zu sehen, warum wir also mehr aufrüsten müssten.
(7) Zudem -- wie Emmanuel Todd in "Der Westen im Niedergang" aufzeigt -- hat Russland weder die Manpower, noch die Ressourcen, auch nur die Ukraine vollständig einzunehmen UND ZU HALTEN. Das heißt, selbst wenn Russland gerne weitere Länder einnehmen würde, ist es dazu nicht in der Lage, und wird aufgrund des Bevölkerungsrückgangs immer weniger in der Lage sein. (Es ist sehr viel schwieriger ein Land besetzt zu halten, als es "nur mal kurz platt zu machen", das ist auch den USA im Nahen Osten nicht gelungen.)
(8) Zudem reden wir hier von Kriegsführung mit nuklearen Mächten, das scheint mir doch ein Spiel mit dem Feuer. Reagan und Gorbatschow hatten beide erkannt, dass dieses Spiel nicht ewig gut gehen kann und sich daher gemeinsam für eine Abrüstung eingesetzt. Gemeinsame Abrüstung ist offensichtlich besser als gemeinsame Aufrüstung. Es ist weniger gefährlich, und kostet weniger. Dazu braucht es aber Vertrauen. Und der Westen hat zu viele Versprechen und auch Verträge gebrochen, um im Rest-der-Welt Vertrauen zu genießen. (Alleine wie oft die USA die Kurden schon verraten haben, es ist einfach lächerlich.)
(9) Von der transatlantischen Abhängigkeit befreien, könnte Europa nur, indem es neben die USA China und Russland (und generell die BRICS-Staaten) als Partner stellt. Die USA haben aber kein Interesse daran, dass Europa sich befreit, warum sollten sie? Europa wird sich also erst dann befreien können, wenn die USA Schwäche zeigen. (Was schon sehr bald der Fall sein könnte, bzw. bereits begonnen hat.) Der Übergang, den ich für unausweichlich halte, von einer unipolaren Welt zu einer multipolaren wird wohl leider ziemlich ruppig werden, insbesondere, wenn die Macht, die an Macht verliert, die USA, dies nicht einsehen werden, sondern versuchen, diesen Wandel doch aufzuhalten.
Perfekt. Genau deswegen bin ich hier, nämlich um mit Menschen zu diskutieren, die meine Meinung in vielerlei Hinsicht gar nicht teilen, aber eine Diskussionskultur pflegen, bei der man gerne auch mal etwas länger antwortet. Danke dafür…
Wie schon im ersten Text kann ich einige Dinge unterschreiben, einige nicht. Ich konzentriere mich mal auf die Dinge, die ich nicht unterschreiben würde :-)
Witzigerweise habe ich sehr lange ebenfalls die Meinung vertreten, dass die Nato-Osterweiterung von den Russen zumindest als Bedrohung gesehen werden könnte. Ich für meinen Teil hätte noch vor Jahren eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine begrüsst, eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine allerdings kritisch gesehen. Zwei Sachen haben dazu geführt, dass ich meine Meinung geändert habe. Zunächst einmal würde Russland durch die Eroberung der gesamten Ukraine durch eigenes Zutun direkt an die Nato-Grenze vorstoßen - und damit das eigene Argument, man wolle keinen Nato-Staat als unmittelbaren Nachbarn haben (Das haben sie inzwischen ja auch schon dadurch “erreicht”, dass Finnland der Nato aus Angst vor einer russischen Aggression beigetreten ist. Finnland, das so lange neutral war, hat offensichtlich keine andere Möglichkeit mehr gesehen. Die zweite Sache ist die, dass damals die Ukraine freiwillig auf die auf ukrainischem Gebiet stationierten Atomwaffen verzichtet und sie abgegeben hat. Ich bin überzeugt, hätte die Ukraine damals die Atomwaffen nicht zurückgegeben, hätte Putin seinen Angriffskrieg gar nicht erst gestartet. Und da sind wir eigentlich schon bei einem dritten Punkt angelangt - Staatsführer wie Putin wollen jede noch so kleine Schwäche gnadenlos zu ihrem Vorteil ausnutzen. Wie will man mit solchen Menschen auf Dauer einen vertrauensvollen Frieden ohne entsprechende militärische Absicherung vereinbaren ?
Ich nehme mir Ihren Vorschlag zu Herzen und revidiere einfach meine Aussage, ich wäre Pazifist. Ich habe kein Problem damit, mich nicht als Pazifisten zu bezeichnen, wenn Pazifist per Definition bedeutet, auf jegliche Selbstverteidigung zu verzichten und im Zweifelsfall nach Gründen für den Angriff des Gegenübers zu suchen, die meinen Pazifismus rechtfertigen. Sahra Wagenknecht ist für mich da das absolute Negativbeispiel. Wer ohne jegliche Strategie fortlaufend behauptet, der Westen würde echte Friedensverhandlungen absichtlich blockieren, obwohl Russland keinerlei Gesprächsbereitschaft auch nur angedeutet hat, scheint mir etwas bestimmtes im Schilde zu führen - aus meiner Sicht nichts Gutes…
Man kann und konnte Russland übrigens ganz gut kritisieren, ohne gleichzeitig die Amerikaner zu glorifizieren. Es war richtig, dass Schröder damals die Teilnahme am Irak-Krieg verweigert hat (eine der wenigen Dinge, die ich ihm hoch anrechnen würde) und auch den Vorwurf, Amerika hätte die Kurden gleich mehrfach verraten, würde ich ohne zu zögern unterschreiben. Allerdings habe ich nie verstanden, warum sich viele Deutsche entweder pro-russisch oder pro-amerikanisch positioniert haben in einer dogmatischen, unreflektierten Art und Weise, die ich nicht nachvollziehen kann. Gleiches gilt übrigens aktuell für den Krieg in Gaza. Ich sehe z.B. keinen Widerspruch darin, das Existenzrecht Israels ohne Wenn und Aber anzuerkennen, gleichzeitig aber das Vorgehen der Regierung Netanjahus, dessen Regierung zudem mit rechtsextremen Nationalisten gespickt ist, als Völkermord zu bezeichnen - denn nichts anderes ist es, was da stattfindet. Inzwischen wird so eine Position im Rahmen der aktuellen Ereignisse von den Israelis als antisemitische Haltung bezeichnet und die Palästinenser würden mich wohl eher als unreflektierten Befürworter zionistischen Terrors sehen.
Es stimmt, dass Russland insgesamt weniger für Rüstung ausgibt als die Nato-Partner in Europa, gleichzeitig muss man natürlich auch sehen, dass sich eine Diktatur (jetzt gibt es sicher Menschen, die Putin als gewählten Präsidenten bezeichnen würden, ich würde die Marginalisierung einer Opposition mit allen legalen und illegalen mir zu Verfügung stehenden Mitteln jedoch als Kennzeichen einer Diktatur deuten) deutlich leichter tut mit einer Aufrüstung. Da geht es z.B. um die Art der Bewaffnung (Offensivwaffen, Defensivwaffen). Gleichzeitig hat Europa (insbesondere Deutschland) in den letzten Jahrzehnten deutlich abgerüstet und veraltete Waffensysteme durch neue ersetzt, während Russland einfach seine Waffen aus dem kalten Krieg weitestgehend behalten und zusätzlich investiert hat. Vereinfachtes Beispiel: Die Bundeswehr hatte im Jahre 1990 2125 Leopard 2 Panzer im Kontor, 2008 waren es nur noch 328 Stück. Wenn man jetzt annimmt, dass Russland seine Kampfpanzer kaum reduziert hat und Deutschland jetzt wieder auf diese ursprünglichen 2125 Kampfpanzer kommen wollte, um irgendeine Art von Gleichgewicht herzustellen, sind natürlich deutlich höhere Ausgaben nötig als auf russischer Seite. Ganz sicher wurden auch sehr viele Staatsgelder einfach sinnlos verprasst, sind für irgendwelche hochbezahlten, externen Berater oder irgendwelche Prestigeprojekte ohne jeglichen Gegenwert draufgegangen. Aber das wäre dann ein anderes Thema.
Aus meiner Sicht hätte man schon nach der ersten Wahlperiode von Trump in Europa reagieren müssen. Einige Länder haben diese Notwendigkeit, militärisch auf europäischen Beinen zu stehen, um damit eine größtmögliche Unabhängigkeit von anderen Großmächten zu erreichen, früh erkannt. Wir Deutschen war nicht dabei - wohl auch, weil bei uns Pazifismus einen ganz anderen Stellenwert hat als in anderen Ländern (was ich gar nicht als Wertung verstanden haben will, sondern einfach nur als Feststellung). Nun zeigt uns Trump mit Vehemenz auf, dass das blinde Vertrauen auf eine transatlantische Partnerschaft einfach nur naiv war. Ich habe auch so einiges an unserer Demokratie und unseren letzten Regierungen auszusetzen und sehe das Ganze sicher nicht unkritisch, aber eines ist für mich völlig klar: Ich möchte weder aktuelle amerikanischen noch aktuelle russische Verhältnisse in Deutschland haben. Wenn das bedeutet, dass wir Europäer selbst dafür sorgen müssen, dass weder Amerika noch Russland noch mehr massiven Einfluß auf unser Leben in Deutschland nehmen, habe ich damit keinerlei Problem, im Gegenteil. Ich hätte schon vor Jahren reagiert.
Natürlich wird Geld, das für zusätzliche Rüstung ausgegeben wird, irgendwo beim Umweltschutz eingespart. Das will ich überhaupt nicht in Abrede stellen. Leider schätze ich die Lage bzgl. Russland und inzwischen auch Amerika deutlich anders ein - ich sehe eine sehr hohe Bedrohungslage, nicht nur militärisch, sondern auch in hybrider Kriegsführung. Die Gesellschaft in Deutschland wird doch längst von Russland beeinflußt, man muss sich doch nur mal anschauen, wie die AfD von Russland (und jetzt auch Amerika) gepushed wird. Es ist vielleicht auch eine Frage der Gewichtung. Wer in Russland keine Gefahr sieht, mag es nicht nachvollziehen können, dass Gelder für wichtige Umweltprojekte oder auch soziale Projekte jetzt in Rüstung gehen. Aus dieser Sicht heraus ist das nachvollziehbar. Meine Sichtweise ist eben eine andere - ich sehe Freiheit (wie stark die dann tatsächlich ausgeprägt sein mag, muss jeder selbst einschätzen) als höchstes Gut an. Ohne Freiheit macht für mich Umweltschutz keinen Sinn. Wenn eine Partei wie die AfD an die Macht kommt, hat es sich mit Umweltschutz erledigt und dass autoritäre Staaten sich für Umweltschutz nicht die Bohne interessieren, sieht man sowohl in Russland als auch derzeit in Amerika…
Hey, entschuldige bitte die »späte« Antwort, ich war beschäftigt und wollte mir aber doch Zeit nehmen über Deinen Text nachzudenken. Ich zitiere immer kurz den Text, auf den ich eingehe für die Übersichtlichkeit:
I.
»dass die Nato-Osterweiterung von den Russen zumindest als Bedrohung gesehen werden könnte.«
2 Gegenargumente:
(1) »Zunächst einmal würde Russland durch die Eroberung der gesamten Ukraine durch eigenes Zutun direkt an die Nato-Grenze vorstoßen« etc. auch Finnland, btw. auch die baltischen Staaten
(2) »dass damals die Ukraine freiwillig auf die auf ukrainischem Gebiet stationierten Atomwaffen verzichtet und sie abgegeben hat.«
(3) Staatsführer wie Putin wollen jede noch so kleine Schwäche gnadenlos zu ihrem Vorteil ausnutzen. Wie will man mit solchen Menschen auf Dauer einen vertrauensvollen Frieden ohne entsprechende militärische Absicherung vereinbaren
Zu (1) Das Argument ist nicht in der Hauptsache, keine Grenze zur NATO haben zu wollen, die hatten sie ja auch schon mit den baltischen Staaten seit 2004. Das Argument ist eher, welche strategische Bedeutung die Ukraine (vor allem der Westen) für die Verteidigungsmöglichkeiten Russlands hat. Und die m.E. vertrauenswürdigsten Analysten zum Thema sind der Ansicht, dass Russland nicht die ganze Ukraine einnehmen, sondern vor allem den Westen abspalten und so eine schwache disfunktionale Rest-Ukraine schaffen will. Wenn wir die Sache umdrehen, sehe ich nicht, dass die USA es akzeptieren würden, wenn zunächst Kuba und Grönland ein Verteidigungsbündnis mit China eingehen würden, und dann auch noch Mexiko, und dann auch noch Kanada. Offensichtlich ist Russland nicht nur von NATO-Verbündeten umzingelt, der Ring schließt sich auch immer enger. Das ist offensichtlich ein Sicherheitsproblem und damit ein Souveränitätsproblem aus russischer Perspektive. (Ich folge hier der IR-Schule des Realismus.)
(2) Ich sehe nicht inwiefern dieses Argument die Sache überhaupt betrifft. Wenn die Ukraine eine Atommacht wäre, wären Russlands Sicherheitsbedenken noch viel krasser, und sie hätten von Anfang an alles dafür getan, die Ukraine russisch zu halten. Moralisch kann man argumentieren, dass es gemein ist, die Ukraine anzugreifen, nachdem sie ihre Atomwaffen aufgegeben hat (was m.E. auch eine verkürzte Darstellung des historischen Geschehens ist), aber was hat das mit Russlands Sicherheitsfragen zu tun?
(3) Das ist aus Sicht des Realismus die »Tragedy of Great Power Politics«, wie Mearsheimers berühmtes Buch betitelt ist. Das hat aber nichts mit Putin zu tun, im Gegenteil. Russland unter Putin hat sich alle Mühe gegeben, stets als Akteur dazustehen, der sich an Vereinbarungen und Verträge hält. Der Westen hingegeben ist der Teil dieses globalen Systems, der nicht vertrauenswürdig ist. Und hätte der Westen nicht seine Farbenrevolutions-regime-change-Institutionen-NGOs-Politik im Rest der Welt betrieben, dann könnte man klarer sehen, wo diese anderen Länder sich hin hätten entwickeln können. Es scheint mir kein Zufall zu sein, dass der Westen immer isolierter dasteht. Dazu mein heute veröffentlichter Artikel zur »Agonie des Westens«.
Womit ich nicht sagen will, dass Putin ein Menschenfreund wäre. Putin ist eiskalt und geht über Leichen. Aber er ist doch sehr berechenbar, weil sein Handeln aus seinen Prämissen rational folgt. Diese Prämissen kann man falsch finden, aber wenn man sie zur Kenntnis nimmt, weiß man, wie und warum er agiert. Unberechenbar hingegen sind vor allem die USA, vor allem unter Trump.
II.
»warum sich viele Deutsche entweder pro-russisch oder pro-amerikanisch positioniert haben in einer dogmatischen, unreflektierten Art und Weise, die ich nicht nachvollziehen kann. Gleiches gilt übrigens aktuell für den Krieg in Gaza. Ich sehe z.B. keinen Widerspruch darin, das Existenzrecht Israels ohne Wenn und Aber anzuerkennen, gleichzeitig aber das Vorgehen der Regierung Netanjahus, dessen Regierung zudem mit rechtsextremen Nationalisten gespickt ist, als Völkermord zu bezeichnen - denn nichts anderes ist es, was da stattfindet.«
Das ist der Zeitgeist. Bist du nicht für uns, bist du gegen uns. Dichotomisches Denken. Ist natürlich Quatsch, aber verrückterweise ist die einzige Partei, die das sieht, die AfD, wie Du bemerkt hast, sie klüngeln sowohl mit Russland als auch USA.
Was Gaza angeht, hatte ich in meinem letzten Beitrag auch schon den Impuls es anzuführen, wollte es aber lieber nicht als Fass aufmachen. Ich sehe das aber wie Du. Ich würde sogar noch weiter gehen und sagen, dass man auch den Ablauf der Gründung Israels stark kritisieren kann (und aus moralischer Sicht muss), ohne damit sein Existenzrecht zu bestreiten. Parallel dazu wird jeder moralisch intakte Mensch auch als vollkommen verwerflich ansehen, wie die Europäer in der Neuzeit im Rest der Welt gewütet haben. Nur die wenigsten ziehen daraus den Schluss, allen Staaten Amerikas und Australien das Existenzrecht abzusprechen. Mir scheint aber sehr oft heutzutage eine Verwechslung zwischen Recht und Moral vorzuliegen, und ebenso oft eine Verwechslung zwischen Moral und Moralismus.
III. Aufrüstung - Wunsch und Wirklichkeit
Die USA fahren hier eine paradoxe Strategie. Einerseits wollen sie natürlich die Macht über Europa behalten, andererseits soll Europa mehr in die eigene Sicherheit investieren. Was darauf hinaus laufen wird, da bin ich relativ sicher, dass Europa zwar mehr Geld in Aufrüstung investiert, aber trotzdem militärisch unter der Fuchtel der USA bleiben. Zudem zeichnet sich die EU ja nicht gerade durch effizientes Rangieren mit Geld aus, insofern werden 800 Mrd. auch nicht reichen. Zum Glück sehe ich die Bedrohung durch Russland aber als Hirngespinst an, weil ich Emmanuel Todds Analyse überzeugend finde, dass Russland keine Kapazitäten hat, sich mit der NATO anzulegen — sie kriegen ja nicht einmal die Ukraine geplättet.
IV. »Ohne Freiheit macht für mich Umweltschutz keinen Sinn.«
Ja gut, Umweltschutz ist immer ein Eingriff in die Freiheit der Bürger, zu tun was ihnen beliebt. Also sollte man den Spruch zumindest auch umdrehen. Aber Freiheit ist ein sehr unbestimmtes Wort, das vor allem auch gerne missbraucht wird, um eigene Interessen als moralisch angemessen darzustellen (z.B. FDP), oder andere schlecht zu machen. Ich halte den westlichen »Freiheitsdrang« für überproportioniert gegenüber dem Gemeinschaftssinn. Und ich finde es äußerst schwer, US-amerikanische, russische, und deutsche Verhältnisse zu vergleichen. Alle haben offensichtlich ihre Vor- und Nachteile, und wie es sich anfühlt, in einem Land zu leben, kann man so richtig erst wissen, wenn man es getan hat.
Ich hätte so vieles mit Dir zu diskutieren nach diesem Post :-) Ich beschränke mich mal auf dies:
"Natürlich kann eine Regierung nicht immer alles offen legen, was sie weiß. Diese vollkommene Transparenz zu fordern wäre unsinnig"
Da stimme ich voll zu. Aber. Natürlich kommt ein Aber: Es ist ein Unterschied, ob ich einen Sachverhalt verschweige (um beispielsweise keine Panik auszulösen), oder ob ich eine fette Lüge erzähle, diejenigen, die die Wahrheit ansprechen, wirtschaftlich und persönlich zugrunde richte und zusätzlich noch persönlich fett von der Lüge profitiere.
Zweites Aber: Wenn's dann doch rausgekommen ist, dass ich gelogen habe und Existenzen um meiner Lüge willen zerstört habe, dann ist halt auch die Zeit gekommen, öffentlich zuzugeben, dass man gelogen hat. Dass man seinen Fehler bereut und sich bei den Opfern entschuldigt. Dass man aufarbeitet, wie es dazu kam und wer alles dadurch geschädigt wurde, damit so etwas nicht wieder vorkommen kann. Und, dass man alles tut, was man kann, um das von einem selbst verursachte Elend wieder gutzumachen (beispielsweise die fetten Profite zurückerstatten). Das nennt man "Verantwortung übernehmen".
Da bin ich ganz bei dir, wie man so sagt :) In der Politik darf man aber keine Fehler zugeben, oder höchstens, um daraus wieder politisches Kapital zu schlagen. Hannah Arendt hat (in Wahrheit und Lügen in der Politik) sehr schön herausgearbeitet, in welchem bizarren Spannungsverhältnis Politik und Wahrheit liegen.
Nämlich einerseits: "Geheimhaltung nämlich und Täuschung - was die Diplomaten Diskretion oder auch die arcana imperii, die Staatsgeheimnisse, nennen -, gezielte Irreführungen und blanke Lügen als legitime Mittel zur Erreichung politischer Zwecke kennen wir seit den Anfängen der überlieferten Geschichte. Wahrhaftigkeit zählte niemals zu den politischen Tugenden, und die Lüge galt immer als ein erlaubtes Mittel in der Politik."
Aber andererseits: "Wo Tatsachen konsequent durch Lügen und Totalfiktionen ersetzt werden, stellt sich heraus, daß es einen Ersatz für die Wahrheit nicht gibt. Denn das Resultat ist keineswegs, daß die Lüge nun als wahr akzeptiert und die Wahrheit als Lüge diffamiert wird, sondern daß der menschliche Orientierungssinn im Bereich des Wirklichen, der ohne die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit nicht funktionieren kann, vernichtet wird."
Das heißt, ich vermute, Politik lügt so viel, wie sie kann, ohne dabei sich selbst zu vernichten. Ich möchte aber nicht zu zynisch wirken. Ich glaube schon, dass sich das ändern könnte. Allerdings nicht mit einer Bevölkerung, wie der Deutschen, der es in großen Teilen offensichtlich vollkommen egal ist, ob sie belogen wird, solange sie nur in Ruhe gelassen wird.
Gleich mal in meiner Stadtbücherei nach dem Essay von Arendt gesucht, leider ist dort nur ein Hörbuch ("Von Wahrheit und Politik : Originalaufnahmen aus den 50er und 60er Jahren") vorrätig. Mal schauen, ob ich es in der Onleihe vorschlage - ich bin Leser, brauche den Text vor mir. Grade bei so tiefgründigen, schwierigen Texten, bei denen man die Sätze mehrmals lesen muss, weil sie so viel Inhalt haben.
Ja, dass politische Lügen schon immer existieren, seit es Politiker gibt, ist mir klar. Schon Pontius Pilatus fragte "Was ist Wahrheit?", wollte sie aber lieber nicht wissen.
Noch nicht so alt ist allerdings, dass man heute nach fetten Lügen nicht mehr Verantwortung übernehmen muss (bspw. zurücktreten). Die moralische Verwahrlosung hat mittlerweile inflationär zugenommen, schuld sind immer die anderen. Man darf vor sein Volk treten und sagen "ich kenne keine roten Linien mehr". Und das Volk hält den Kopf unten und nimmt es hin.
Ich befürchte, es muss uns noch viel dreckiger gehen, bevor eine politische Mehrheit eine Veränderung einfordert.
Letzteres denke ich auch. Gute Zeiten erzeugen schwache Menschen, schwache Menschen erzeugen schlechte Zeiten - hoffentlich erzeugen die schlechten Zeiten dann wieder starke Menschen? :) Ich denke nur, optimistisch, und mit Mattias Desmet, dass das Schlimmste verhindert werden kann, wenn eine ausreichend große Anzahl von Menschen sich gegen den Strom stellt. Letzterer wird trotzdem weiterfließen, aber gebremster, sozusagen. Darum schreibe ich bei Substack und darum engagiere ich mich beim BSW. LG
Vieles, wenn auch bei weitem nicht alles, würde ich auch so unterschreiben. In der Summe sind die falschen Darstellungen von Sachverhalten durch die jeweiligen Regierungen wohl einer der Hauptgründe für Politikverdrossenheit. Und feststellen darf man wohl auch, dass falsche Darstellungen (oder nennen wir sie ruhig Lügen, denn letztendlich ist es genau das, wenn man weiß, dass sich ein Sachverhalten ganz anders darstellt als man nach außen hin kommuniziert, aus welchen Gründen auch immer) ganz sicher juristisch nicht gedeckt sind - egal, wie gut die Gründe für eine falsche Darstellung auch sein mögen.
Eine Sache vielleicht, die ich gerne noch angesprochen hätte:
Man kann in punkto Aufrüstung durchaus unterschiedlicher Meinung sein und beide Meinungen mMn. einigermassen begründen, aber gerade wenn es um Umweltschutz geht, stellt sich doch die Frage, ob Aufrüstung umweltschädlicher ist als Angriffskriege auch in Zukunft zuzulassen.
Wenn man, wie ich, der Meinung ist, dass man Russland nur dann vor weiteren Angriffskriegen auf schwächere, ehemalige Satellitenstaaten abhalten kann, wenn man ihm ein militärisch starkes Europa entgegensetzt und diese schwächere Satellitenstaaten in ein Bündnis einbezieht, das in der Lage ist, Russland von einem Angriff abzuhalten oder zumindest die Hürde für einen Angriff deutlich zu erhöhen, wäre da dem Umweltschutz nicht eher gedient als geschadet ?
Ich wage es gar nicht, auch nur abschätzungsweise durchzurechnen, wie weit der russische Angriffskrieg auf die Ukraine die Bemühungen um mehr Umweltschutz und Maßnahmen zur Abschwächung der Klimakatastrophe zurückgeworfen hat.
Es ist und bleibt ein ewiges Gesetz, dass es jahrzehntelang dauert, um etwas sinnvolles aufzubauen und leider nur wenige Momente, um all das wieder einzureißen.
Vielleicht wäre es an der Zeit, den Begriff Pazifismus anders zu definieren. Für mich bedeutet Pazifismus inzwischen, dass mein eigenes Land kein Interesse mehr daran zeigt, ein anderes Land anzugreifen. Pazifismus bedeutet für mich inzwischen nicht mehr, einen Angriff eines anderen Landes auf einen souveränen Staat mit Gleichgültigkeit zu betrachten und der Begriff bedeutet für mich auch nicht, mich im Falle eines Angriffs auf mein eigenes Land einfach so zu ergeben.
Insofern ist Aufrüstung für mich nicht zwangsläufig eine offensive Sache, sondern eine, die einem auch aufgezwungen wird.
Das sieht das BSW und Sahra Wagenknecht sicher anders - und das ist ein einer Demokratie auch durchaus legitim.
Noch ein Gedanke:
Aufrüstung in Europa bzw. das sich in die Lage zu versetzen, bei der Verteidigung der eigenen Staaten unabhängig zu sein (darum geht es nämlich mMn.) bedeutet eben auch, sich ein ganzes Stück von der transatlantischen Abhängigkeit zu befreien. Dass das schon längst hätte passieren müssen, bekommen wir gerade drastisch vor Augen geführt...
Vielen Dank erst einmal, dass Du Dir die Zeit nimmst, einen langen Kommentar zu schreiben. Davon fühle ich mich geehrt :)
Ich würde den Begriff Pazifismus nicht neu definieren, denn die Bedeutung der Begriffe durcheinander zu bringen, scheint mir eine geeignete Strategie zu sein, eine Bevölkerung vollständig zu verwirren. Siehe 1984, Frieden ist Krieg etc. Ich würde dann einfach zugeben, dass ich kein Pazifist (mehr) bin -- ist ja nicht schlimm dran, echte Pazifisten sind selten. Was mich an diesen Song von Degenhardt erinnert: https://www.youtube.com/watch?v=WDTtMTcj8X0
Zur Frage von Umweltschutz, Aufrüstung und Krieg: das ist natürlich ein riesiges Thema, das sich für eine schriftliche Diskussion vielleicht auch nicht so sehr eignet, aber folgende Gedanken habe ich dazu:
(1) Wenn die Ausgaben eines Staates begrenzt sind, dann sind Ausgaben für X immer Geld, das dann nicht für Y ausgegeben werden kann. Insofern sind auf dieser ersten Ebene Umweltschutz und Aufrüstung Konkurrenten, genauso wie Soziales und Infrastruktur, etc.
(2) Jetzt könnte man überlegen, dem stimme ich zu, dass nichts so verheerend ist für die Umwelt wie ein (moderner) Krieg. Und wenn Aufrüstung Kriege verhindert, dann wäre also um eine Ecke gedacht, Geld in Aufrüstung statt direkten Umweltschutz zu pumpen, besser auch für den Umweltschutz. Mir fällt spontan kein Beispiel ein, bei dem Aufrüstung Kriege verhindert hat. Höchstens vielleicht, dass atomare Aufrüstung lange Kriege zwischen Großmächten verhindert hat, aber gleichzeitig zu sehr hässlichen Stellvertreterkriegen geführt hat -- Afghanistan, Vietnam, Syrien, Ukraine --
(3) Was passiert mit Waffen, die im Idealfall nicht eingesetzt werden? Nun, es gibt immer wieder Hinweise darauf, dass sie in anderen Teilen der Welt landen, um dort die Konflikte zu bewaffnen.
(4) Ich verstehe die Narrative nicht, nach der Russland der alleinige Aggressor ist. Wenn man sich ganz genau anschaut, welche Entwicklung die NATO und Russland seit 1990 genommen haben, dann hat m.E. der Westen, vollkommen dominiert von den USA, die vollkommene Unterwerfung Russlands verlangt, sie nicht erhalten, und in der Folge Russland weiterhin wie einen Feind betrachtet. Die Vorgeschichte dieses Konfliktes lässt sich nicht damit vereinbaren, Russlands Angriff als "unprovoziert" zu bezeichnen. (Aus moralischer Perspektive kann und sollte man diesen Angriff trotzdem verurteilen. Nur ticken Länder, vor allem Großmächte, nicht nach moralischen Fragestellungen, sondern nach geopolitischen -- weshalb viele Länder nicht verstehen, wieso Russlands Angriff der Ukraine etwas anderes sein soll als der Angriff der USA auf Afghanistan, Irak, Syrien, Libyien, etc. (um Lateinamerika einmal außen vor zu lassen).
(5) Wenn man diese Narrative aber nicht teil, dann scheint es mir recht naheliegend, darauf hinzuweisen, dass die Aufrüstung des Westens, insbesondere der Ukraine gegenüber Russland erst den Kriegsgrund geliefert hat. Diplomatische Beziehungen zu Russland zu vertiefen, wie Gerhard Schröder es eingeleitet hatte, hätte m.E. diesen Krieg verhindern können.
(6) Wenn man sich die Rüstungsausgaben der NATO (selbst ohne USA) anschaut, dann sind sie bereits viel höher als die Russlands. Das gleiche gilt für den ebenfalls weiterhin sehr wichtigen Faktor der Menge wehrfähiger Soldaten. Das gilt sogar, wenn man die geringeren Produktionskosten für Waffen in Russland berücksichtigt. Es ist für mich nicht zu sehen, warum wir also mehr aufrüsten müssten.
(7) Zudem -- wie Emmanuel Todd in "Der Westen im Niedergang" aufzeigt -- hat Russland weder die Manpower, noch die Ressourcen, auch nur die Ukraine vollständig einzunehmen UND ZU HALTEN. Das heißt, selbst wenn Russland gerne weitere Länder einnehmen würde, ist es dazu nicht in der Lage, und wird aufgrund des Bevölkerungsrückgangs immer weniger in der Lage sein. (Es ist sehr viel schwieriger ein Land besetzt zu halten, als es "nur mal kurz platt zu machen", das ist auch den USA im Nahen Osten nicht gelungen.)
(8) Zudem reden wir hier von Kriegsführung mit nuklearen Mächten, das scheint mir doch ein Spiel mit dem Feuer. Reagan und Gorbatschow hatten beide erkannt, dass dieses Spiel nicht ewig gut gehen kann und sich daher gemeinsam für eine Abrüstung eingesetzt. Gemeinsame Abrüstung ist offensichtlich besser als gemeinsame Aufrüstung. Es ist weniger gefährlich, und kostet weniger. Dazu braucht es aber Vertrauen. Und der Westen hat zu viele Versprechen und auch Verträge gebrochen, um im Rest-der-Welt Vertrauen zu genießen. (Alleine wie oft die USA die Kurden schon verraten haben, es ist einfach lächerlich.)
(9) Von der transatlantischen Abhängigkeit befreien, könnte Europa nur, indem es neben die USA China und Russland (und generell die BRICS-Staaten) als Partner stellt. Die USA haben aber kein Interesse daran, dass Europa sich befreit, warum sollten sie? Europa wird sich also erst dann befreien können, wenn die USA Schwäche zeigen. (Was schon sehr bald der Fall sein könnte, bzw. bereits begonnen hat.) Der Übergang, den ich für unausweichlich halte, von einer unipolaren Welt zu einer multipolaren wird wohl leider ziemlich ruppig werden, insbesondere, wenn die Macht, die an Macht verliert, die USA, dies nicht einsehen werden, sondern versuchen, diesen Wandel doch aufzuhalten.
An Gegenstimmen bin ich immer interessiert :)
Perfekt. Genau deswegen bin ich hier, nämlich um mit Menschen zu diskutieren, die meine Meinung in vielerlei Hinsicht gar nicht teilen, aber eine Diskussionskultur pflegen, bei der man gerne auch mal etwas länger antwortet. Danke dafür…
Wie schon im ersten Text kann ich einige Dinge unterschreiben, einige nicht. Ich konzentriere mich mal auf die Dinge, die ich nicht unterschreiben würde :-)
Witzigerweise habe ich sehr lange ebenfalls die Meinung vertreten, dass die Nato-Osterweiterung von den Russen zumindest als Bedrohung gesehen werden könnte. Ich für meinen Teil hätte noch vor Jahren eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine begrüsst, eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine allerdings kritisch gesehen. Zwei Sachen haben dazu geführt, dass ich meine Meinung geändert habe. Zunächst einmal würde Russland durch die Eroberung der gesamten Ukraine durch eigenes Zutun direkt an die Nato-Grenze vorstoßen - und damit das eigene Argument, man wolle keinen Nato-Staat als unmittelbaren Nachbarn haben (Das haben sie inzwischen ja auch schon dadurch “erreicht”, dass Finnland der Nato aus Angst vor einer russischen Aggression beigetreten ist. Finnland, das so lange neutral war, hat offensichtlich keine andere Möglichkeit mehr gesehen. Die zweite Sache ist die, dass damals die Ukraine freiwillig auf die auf ukrainischem Gebiet stationierten Atomwaffen verzichtet und sie abgegeben hat. Ich bin überzeugt, hätte die Ukraine damals die Atomwaffen nicht zurückgegeben, hätte Putin seinen Angriffskrieg gar nicht erst gestartet. Und da sind wir eigentlich schon bei einem dritten Punkt angelangt - Staatsführer wie Putin wollen jede noch so kleine Schwäche gnadenlos zu ihrem Vorteil ausnutzen. Wie will man mit solchen Menschen auf Dauer einen vertrauensvollen Frieden ohne entsprechende militärische Absicherung vereinbaren ?
Ich nehme mir Ihren Vorschlag zu Herzen und revidiere einfach meine Aussage, ich wäre Pazifist. Ich habe kein Problem damit, mich nicht als Pazifisten zu bezeichnen, wenn Pazifist per Definition bedeutet, auf jegliche Selbstverteidigung zu verzichten und im Zweifelsfall nach Gründen für den Angriff des Gegenübers zu suchen, die meinen Pazifismus rechtfertigen. Sahra Wagenknecht ist für mich da das absolute Negativbeispiel. Wer ohne jegliche Strategie fortlaufend behauptet, der Westen würde echte Friedensverhandlungen absichtlich blockieren, obwohl Russland keinerlei Gesprächsbereitschaft auch nur angedeutet hat, scheint mir etwas bestimmtes im Schilde zu führen - aus meiner Sicht nichts Gutes…
Man kann und konnte Russland übrigens ganz gut kritisieren, ohne gleichzeitig die Amerikaner zu glorifizieren. Es war richtig, dass Schröder damals die Teilnahme am Irak-Krieg verweigert hat (eine der wenigen Dinge, die ich ihm hoch anrechnen würde) und auch den Vorwurf, Amerika hätte die Kurden gleich mehrfach verraten, würde ich ohne zu zögern unterschreiben. Allerdings habe ich nie verstanden, warum sich viele Deutsche entweder pro-russisch oder pro-amerikanisch positioniert haben in einer dogmatischen, unreflektierten Art und Weise, die ich nicht nachvollziehen kann. Gleiches gilt übrigens aktuell für den Krieg in Gaza. Ich sehe z.B. keinen Widerspruch darin, das Existenzrecht Israels ohne Wenn und Aber anzuerkennen, gleichzeitig aber das Vorgehen der Regierung Netanjahus, dessen Regierung zudem mit rechtsextremen Nationalisten gespickt ist, als Völkermord zu bezeichnen - denn nichts anderes ist es, was da stattfindet. Inzwischen wird so eine Position im Rahmen der aktuellen Ereignisse von den Israelis als antisemitische Haltung bezeichnet und die Palästinenser würden mich wohl eher als unreflektierten Befürworter zionistischen Terrors sehen.
Es stimmt, dass Russland insgesamt weniger für Rüstung ausgibt als die Nato-Partner in Europa, gleichzeitig muss man natürlich auch sehen, dass sich eine Diktatur (jetzt gibt es sicher Menschen, die Putin als gewählten Präsidenten bezeichnen würden, ich würde die Marginalisierung einer Opposition mit allen legalen und illegalen mir zu Verfügung stehenden Mitteln jedoch als Kennzeichen einer Diktatur deuten) deutlich leichter tut mit einer Aufrüstung. Da geht es z.B. um die Art der Bewaffnung (Offensivwaffen, Defensivwaffen). Gleichzeitig hat Europa (insbesondere Deutschland) in den letzten Jahrzehnten deutlich abgerüstet und veraltete Waffensysteme durch neue ersetzt, während Russland einfach seine Waffen aus dem kalten Krieg weitestgehend behalten und zusätzlich investiert hat. Vereinfachtes Beispiel: Die Bundeswehr hatte im Jahre 1990 2125 Leopard 2 Panzer im Kontor, 2008 waren es nur noch 328 Stück. Wenn man jetzt annimmt, dass Russland seine Kampfpanzer kaum reduziert hat und Deutschland jetzt wieder auf diese ursprünglichen 2125 Kampfpanzer kommen wollte, um irgendeine Art von Gleichgewicht herzustellen, sind natürlich deutlich höhere Ausgaben nötig als auf russischer Seite. Ganz sicher wurden auch sehr viele Staatsgelder einfach sinnlos verprasst, sind für irgendwelche hochbezahlten, externen Berater oder irgendwelche Prestigeprojekte ohne jeglichen Gegenwert draufgegangen. Aber das wäre dann ein anderes Thema.
Aus meiner Sicht hätte man schon nach der ersten Wahlperiode von Trump in Europa reagieren müssen. Einige Länder haben diese Notwendigkeit, militärisch auf europäischen Beinen zu stehen, um damit eine größtmögliche Unabhängigkeit von anderen Großmächten zu erreichen, früh erkannt. Wir Deutschen war nicht dabei - wohl auch, weil bei uns Pazifismus einen ganz anderen Stellenwert hat als in anderen Ländern (was ich gar nicht als Wertung verstanden haben will, sondern einfach nur als Feststellung). Nun zeigt uns Trump mit Vehemenz auf, dass das blinde Vertrauen auf eine transatlantische Partnerschaft einfach nur naiv war. Ich habe auch so einiges an unserer Demokratie und unseren letzten Regierungen auszusetzen und sehe das Ganze sicher nicht unkritisch, aber eines ist für mich völlig klar: Ich möchte weder aktuelle amerikanischen noch aktuelle russische Verhältnisse in Deutschland haben. Wenn das bedeutet, dass wir Europäer selbst dafür sorgen müssen, dass weder Amerika noch Russland noch mehr massiven Einfluß auf unser Leben in Deutschland nehmen, habe ich damit keinerlei Problem, im Gegenteil. Ich hätte schon vor Jahren reagiert.
Natürlich wird Geld, das für zusätzliche Rüstung ausgegeben wird, irgendwo beim Umweltschutz eingespart. Das will ich überhaupt nicht in Abrede stellen. Leider schätze ich die Lage bzgl. Russland und inzwischen auch Amerika deutlich anders ein - ich sehe eine sehr hohe Bedrohungslage, nicht nur militärisch, sondern auch in hybrider Kriegsführung. Die Gesellschaft in Deutschland wird doch längst von Russland beeinflußt, man muss sich doch nur mal anschauen, wie die AfD von Russland (und jetzt auch Amerika) gepushed wird. Es ist vielleicht auch eine Frage der Gewichtung. Wer in Russland keine Gefahr sieht, mag es nicht nachvollziehen können, dass Gelder für wichtige Umweltprojekte oder auch soziale Projekte jetzt in Rüstung gehen. Aus dieser Sicht heraus ist das nachvollziehbar. Meine Sichtweise ist eben eine andere - ich sehe Freiheit (wie stark die dann tatsächlich ausgeprägt sein mag, muss jeder selbst einschätzen) als höchstes Gut an. Ohne Freiheit macht für mich Umweltschutz keinen Sinn. Wenn eine Partei wie die AfD an die Macht kommt, hat es sich mit Umweltschutz erledigt und dass autoritäre Staaten sich für Umweltschutz nicht die Bohne interessieren, sieht man sowohl in Russland als auch derzeit in Amerika…
Hey, entschuldige bitte die »späte« Antwort, ich war beschäftigt und wollte mir aber doch Zeit nehmen über Deinen Text nachzudenken. Ich zitiere immer kurz den Text, auf den ich eingehe für die Übersichtlichkeit:
I.
»dass die Nato-Osterweiterung von den Russen zumindest als Bedrohung gesehen werden könnte.«
2 Gegenargumente:
(1) »Zunächst einmal würde Russland durch die Eroberung der gesamten Ukraine durch eigenes Zutun direkt an die Nato-Grenze vorstoßen« etc. auch Finnland, btw. auch die baltischen Staaten
(2) »dass damals die Ukraine freiwillig auf die auf ukrainischem Gebiet stationierten Atomwaffen verzichtet und sie abgegeben hat.«
(3) Staatsführer wie Putin wollen jede noch so kleine Schwäche gnadenlos zu ihrem Vorteil ausnutzen. Wie will man mit solchen Menschen auf Dauer einen vertrauensvollen Frieden ohne entsprechende militärische Absicherung vereinbaren
Zu (1) Das Argument ist nicht in der Hauptsache, keine Grenze zur NATO haben zu wollen, die hatten sie ja auch schon mit den baltischen Staaten seit 2004. Das Argument ist eher, welche strategische Bedeutung die Ukraine (vor allem der Westen) für die Verteidigungsmöglichkeiten Russlands hat. Und die m.E. vertrauenswürdigsten Analysten zum Thema sind der Ansicht, dass Russland nicht die ganze Ukraine einnehmen, sondern vor allem den Westen abspalten und so eine schwache disfunktionale Rest-Ukraine schaffen will. Wenn wir die Sache umdrehen, sehe ich nicht, dass die USA es akzeptieren würden, wenn zunächst Kuba und Grönland ein Verteidigungsbündnis mit China eingehen würden, und dann auch noch Mexiko, und dann auch noch Kanada. Offensichtlich ist Russland nicht nur von NATO-Verbündeten umzingelt, der Ring schließt sich auch immer enger. Das ist offensichtlich ein Sicherheitsproblem und damit ein Souveränitätsproblem aus russischer Perspektive. (Ich folge hier der IR-Schule des Realismus.)
(2) Ich sehe nicht inwiefern dieses Argument die Sache überhaupt betrifft. Wenn die Ukraine eine Atommacht wäre, wären Russlands Sicherheitsbedenken noch viel krasser, und sie hätten von Anfang an alles dafür getan, die Ukraine russisch zu halten. Moralisch kann man argumentieren, dass es gemein ist, die Ukraine anzugreifen, nachdem sie ihre Atomwaffen aufgegeben hat (was m.E. auch eine verkürzte Darstellung des historischen Geschehens ist), aber was hat das mit Russlands Sicherheitsfragen zu tun?
(3) Das ist aus Sicht des Realismus die »Tragedy of Great Power Politics«, wie Mearsheimers berühmtes Buch betitelt ist. Das hat aber nichts mit Putin zu tun, im Gegenteil. Russland unter Putin hat sich alle Mühe gegeben, stets als Akteur dazustehen, der sich an Vereinbarungen und Verträge hält. Der Westen hingegeben ist der Teil dieses globalen Systems, der nicht vertrauenswürdig ist. Und hätte der Westen nicht seine Farbenrevolutions-regime-change-Institutionen-NGOs-Politik im Rest der Welt betrieben, dann könnte man klarer sehen, wo diese anderen Länder sich hin hätten entwickeln können. Es scheint mir kein Zufall zu sein, dass der Westen immer isolierter dasteht. Dazu mein heute veröffentlichter Artikel zur »Agonie des Westens«.
Womit ich nicht sagen will, dass Putin ein Menschenfreund wäre. Putin ist eiskalt und geht über Leichen. Aber er ist doch sehr berechenbar, weil sein Handeln aus seinen Prämissen rational folgt. Diese Prämissen kann man falsch finden, aber wenn man sie zur Kenntnis nimmt, weiß man, wie und warum er agiert. Unberechenbar hingegen sind vor allem die USA, vor allem unter Trump.
II.
»warum sich viele Deutsche entweder pro-russisch oder pro-amerikanisch positioniert haben in einer dogmatischen, unreflektierten Art und Weise, die ich nicht nachvollziehen kann. Gleiches gilt übrigens aktuell für den Krieg in Gaza. Ich sehe z.B. keinen Widerspruch darin, das Existenzrecht Israels ohne Wenn und Aber anzuerkennen, gleichzeitig aber das Vorgehen der Regierung Netanjahus, dessen Regierung zudem mit rechtsextremen Nationalisten gespickt ist, als Völkermord zu bezeichnen - denn nichts anderes ist es, was da stattfindet.«
Das ist der Zeitgeist. Bist du nicht für uns, bist du gegen uns. Dichotomisches Denken. Ist natürlich Quatsch, aber verrückterweise ist die einzige Partei, die das sieht, die AfD, wie Du bemerkt hast, sie klüngeln sowohl mit Russland als auch USA.
Was Gaza angeht, hatte ich in meinem letzten Beitrag auch schon den Impuls es anzuführen, wollte es aber lieber nicht als Fass aufmachen. Ich sehe das aber wie Du. Ich würde sogar noch weiter gehen und sagen, dass man auch den Ablauf der Gründung Israels stark kritisieren kann (und aus moralischer Sicht muss), ohne damit sein Existenzrecht zu bestreiten. Parallel dazu wird jeder moralisch intakte Mensch auch als vollkommen verwerflich ansehen, wie die Europäer in der Neuzeit im Rest der Welt gewütet haben. Nur die wenigsten ziehen daraus den Schluss, allen Staaten Amerikas und Australien das Existenzrecht abzusprechen. Mir scheint aber sehr oft heutzutage eine Verwechslung zwischen Recht und Moral vorzuliegen, und ebenso oft eine Verwechslung zwischen Moral und Moralismus.
III. Aufrüstung - Wunsch und Wirklichkeit
Die USA fahren hier eine paradoxe Strategie. Einerseits wollen sie natürlich die Macht über Europa behalten, andererseits soll Europa mehr in die eigene Sicherheit investieren. Was darauf hinaus laufen wird, da bin ich relativ sicher, dass Europa zwar mehr Geld in Aufrüstung investiert, aber trotzdem militärisch unter der Fuchtel der USA bleiben. Zudem zeichnet sich die EU ja nicht gerade durch effizientes Rangieren mit Geld aus, insofern werden 800 Mrd. auch nicht reichen. Zum Glück sehe ich die Bedrohung durch Russland aber als Hirngespinst an, weil ich Emmanuel Todds Analyse überzeugend finde, dass Russland keine Kapazitäten hat, sich mit der NATO anzulegen — sie kriegen ja nicht einmal die Ukraine geplättet.
IV. »Ohne Freiheit macht für mich Umweltschutz keinen Sinn.«
Ja gut, Umweltschutz ist immer ein Eingriff in die Freiheit der Bürger, zu tun was ihnen beliebt. Also sollte man den Spruch zumindest auch umdrehen. Aber Freiheit ist ein sehr unbestimmtes Wort, das vor allem auch gerne missbraucht wird, um eigene Interessen als moralisch angemessen darzustellen (z.B. FDP), oder andere schlecht zu machen. Ich halte den westlichen »Freiheitsdrang« für überproportioniert gegenüber dem Gemeinschaftssinn. Und ich finde es äußerst schwer, US-amerikanische, russische, und deutsche Verhältnisse zu vergleichen. Alle haben offensichtlich ihre Vor- und Nachteile, und wie es sich anfühlt, in einem Land zu leben, kann man so richtig erst wissen, wenn man es getan hat.
Ich hätte so vieles mit Dir zu diskutieren nach diesem Post :-) Ich beschränke mich mal auf dies:
"Natürlich kann eine Regierung nicht immer alles offen legen, was sie weiß. Diese vollkommene Transparenz zu fordern wäre unsinnig"
Da stimme ich voll zu. Aber. Natürlich kommt ein Aber: Es ist ein Unterschied, ob ich einen Sachverhalt verschweige (um beispielsweise keine Panik auszulösen), oder ob ich eine fette Lüge erzähle, diejenigen, die die Wahrheit ansprechen, wirtschaftlich und persönlich zugrunde richte und zusätzlich noch persönlich fett von der Lüge profitiere.
Zweites Aber: Wenn's dann doch rausgekommen ist, dass ich gelogen habe und Existenzen um meiner Lüge willen zerstört habe, dann ist halt auch die Zeit gekommen, öffentlich zuzugeben, dass man gelogen hat. Dass man seinen Fehler bereut und sich bei den Opfern entschuldigt. Dass man aufarbeitet, wie es dazu kam und wer alles dadurch geschädigt wurde, damit so etwas nicht wieder vorkommen kann. Und, dass man alles tut, was man kann, um das von einem selbst verursachte Elend wieder gutzumachen (beispielsweise die fetten Profite zurückerstatten). Das nennt man "Verantwortung übernehmen".
Da bin ich ganz bei dir, wie man so sagt :) In der Politik darf man aber keine Fehler zugeben, oder höchstens, um daraus wieder politisches Kapital zu schlagen. Hannah Arendt hat (in Wahrheit und Lügen in der Politik) sehr schön herausgearbeitet, in welchem bizarren Spannungsverhältnis Politik und Wahrheit liegen.
Nämlich einerseits: "Geheimhaltung nämlich und Täuschung - was die Diplomaten Diskretion oder auch die arcana imperii, die Staatsgeheimnisse, nennen -, gezielte Irreführungen und blanke Lügen als legitime Mittel zur Erreichung politischer Zwecke kennen wir seit den Anfängen der überlieferten Geschichte. Wahrhaftigkeit zählte niemals zu den politischen Tugenden, und die Lüge galt immer als ein erlaubtes Mittel in der Politik."
Aber andererseits: "Wo Tatsachen konsequent durch Lügen und Totalfiktionen ersetzt werden, stellt sich heraus, daß es einen Ersatz für die Wahrheit nicht gibt. Denn das Resultat ist keineswegs, daß die Lüge nun als wahr akzeptiert und die Wahrheit als Lüge diffamiert wird, sondern daß der menschliche Orientierungssinn im Bereich des Wirklichen, der ohne die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit nicht funktionieren kann, vernichtet wird."
Das heißt, ich vermute, Politik lügt so viel, wie sie kann, ohne dabei sich selbst zu vernichten. Ich möchte aber nicht zu zynisch wirken. Ich glaube schon, dass sich das ändern könnte. Allerdings nicht mit einer Bevölkerung, wie der Deutschen, der es in großen Teilen offensichtlich vollkommen egal ist, ob sie belogen wird, solange sie nur in Ruhe gelassen wird.
Lass uns gerne weiter diskutieren :)
LG Conrad
Gleich mal in meiner Stadtbücherei nach dem Essay von Arendt gesucht, leider ist dort nur ein Hörbuch ("Von Wahrheit und Politik : Originalaufnahmen aus den 50er und 60er Jahren") vorrätig. Mal schauen, ob ich es in der Onleihe vorschlage - ich bin Leser, brauche den Text vor mir. Grade bei so tiefgründigen, schwierigen Texten, bei denen man die Sätze mehrmals lesen muss, weil sie so viel Inhalt haben.
Ja, dass politische Lügen schon immer existieren, seit es Politiker gibt, ist mir klar. Schon Pontius Pilatus fragte "Was ist Wahrheit?", wollte sie aber lieber nicht wissen.
Noch nicht so alt ist allerdings, dass man heute nach fetten Lügen nicht mehr Verantwortung übernehmen muss (bspw. zurücktreten). Die moralische Verwahrlosung hat mittlerweile inflationär zugenommen, schuld sind immer die anderen. Man darf vor sein Volk treten und sagen "ich kenne keine roten Linien mehr". Und das Volk hält den Kopf unten und nimmt es hin.
Ich befürchte, es muss uns noch viel dreckiger gehen, bevor eine politische Mehrheit eine Veränderung einfordert.
Letzteres denke ich auch. Gute Zeiten erzeugen schwache Menschen, schwache Menschen erzeugen schlechte Zeiten - hoffentlich erzeugen die schlechten Zeiten dann wieder starke Menschen? :) Ich denke nur, optimistisch, und mit Mattias Desmet, dass das Schlimmste verhindert werden kann, wenn eine ausreichend große Anzahl von Menschen sich gegen den Strom stellt. Letzterer wird trotzdem weiterfließen, aber gebremster, sozusagen. Darum schreibe ich bei Substack und darum engagiere ich mich beim BSW. LG