Ich bin nicht Rilke
Aber während ich seinen Roman lese werde ich es manchmal ein bisschen. Und bleibe doch immer ich selbst.
Ich reise im Grunde genommen nicht besonders gerne, erst recht nicht alleine. Zurückgeworfen auf mich selbst und meine Vergangenheit empfinde ich eine gewisse Furcht beim Zugfahren.
Trotzdem fahre ich, immer wieder.
I
Ich stand vielleicht 10 Minuten am Bahnsteig und dann kam der Zug und ich stieg ein, suchte mir einen Sitzplatz, arrangierte umständlich mein Gepäck (ein kleiner Koffer, ein Rucksack, und eine Umhängetasche), setzte mich dann und schaute ein paar Minuten lang aus dem Fenster, während die städtisch-herbstliche Landschaft (kann man Landschaft sagen?) an meinen traurigen Blicken vorbeizog. Ich spürte die Trennung, räumlich, von meinen Kindern und meiner Frau, wie ich sie in meinem Herzen dennoch mitnehme, wie es trotzdem irgendwie schwerfällt, wie ein Reißen an mir.
Nachdem wir Aachen verlassen hatten, begann ich zu lesen. Ich hatte ein paar Optionen dabei: Heinz Grill, Sri Aurobindo, Paul Kingsnorth, und Rilke. Ich entschied mich für Rilke, weil mir das zu meiner Stimmung zu passen schien.
(Für mehr über Rilke (und mich) beachtet auch meine Rilke-Betrachtungen hier.)
Der Protagonist, Malte, beschrieb dort gerade, wie er einmal mit seinem Vater seinen Großvater mütterlicherseits besuchte, nachdem seine Mutter schon gestorben war. Man weiß noch nicht so recht, warum er das eigentlich schildert. Und jedenfalls ging es ihm tagsüber recht gut, er stromerte auf den Ländereien (denn dieser Großvater war ein Graf) herum, alleine mit den Hunden, und »es gab da und dort ein Pächterhaus oder einen Meierhof, wo ich Milch und Brot und Früchte bekommen konnte« (S. 28).
(Dieser Satz bleibt mir hängen. Oder ich an ihm. Wie ist das vor sich gegangen, denke ich, wie? Ging er da einfach hin und sie gaben ihm, was er wollte, weil er ja der Enkel des Grafen war? Aber woher wussten sie das, wenn es sein erster Besuch war? Konnte man es spüren? Oder hatte er Geld? Und wie alt war er? Ich glaube, 12, 13.)
Aber die Abendessen haben etwas Unangenehmes, sie sind recht ruhig und schleppen sich dahin. Gerade schildert Malte, wie eines Abends plötzlich aus einer sonst verschlossenen Tür eine dunkel gekleidete Frau hereinschreitet, wie sein Vater ihr entgegengehen will und sein Großvater ihn zurückhält — da registriert mein Unbewusstes, das irgendwo Fahrscheinkontrollen im Zug stattfinden und springt in die Realität.
II
Alarm! Bereitmachen zur Fahrscheinkontrolle! Oh Gott, der Fahrschein, wo hab ich den, was ist das? Ich bin wieder 12 Jahre alt oder 13 und werde nervös, wenn ich im Bus kontrolliert werde. Ist alles da, wo es hingehört? Bin ich in Deutschland oder in Belgien? Welches Ticket gilt hier?
Ein Teil von mir weiß, dass der Shit heutzutage alles auf meinem Smartphone ist. Kein Grund zur Sorge. Ich bin doch auch gar kein Neurotiker. Aber was, wenn mein Bildschirm nicht anspringt, was wenn das Ticket nicht lädt? Es ist alles aufgerufen, ich habe es im Auto auf der Fahrt zum Bahnhof kontrolliert. Dabei auch gemerkt, dass meine BahnCard abgelaufen war und mir schnell eine neue heruntergeladen. Zum Glück!
Nicht auszudenken, was Entsetzliches geschähe, würde ich kontrolliert und hätte nicht alles parat. Obwohl das in der Vergangenheit schon passiert ist und es war nie schlimm. Was wäre denn auch das Schlimmste? Nichts Schlimmes jedenfalls.
Wo ist überhaupt mein Smartphone? In meiner Hosentasche, wo es eigentlich hingehört, jedenfalls nicht. Ich werde nervös. Es ist weg. In der anderen Hosentasche ist nur mein Geldbeutel. In meinen Jackentaschen ist gar nichts. Scheiße! Ich kann mich nicht erinnern, was ich mit dem Scheißteil gemacht habe. Okay, keine Panik! Du hast das Buch aus dem Rucksack genommen. Vielleicht das Smartphone da dann rein gepackt? Ich finde es in der Seitentasche. Warum habe ich es da rein getan? Keine Ahnung.
So, und verrückterweise, um die Erfahrung dieses Flashbacks noch vollständig zu machen, werde ich dann doch überhaupt nicht kontrolliert. Es kommt keine Kontrolle. Habe ich halluziniert, oder ist der Kontrolleur einfach in die andere Richtung gegangen?
Da bist du 37 Jahre alt geworden und hast so viel erlebt und so viel überlebt und so viel gelernt und erreicht und hast so viel überwunden, und scheißt dir gleich ein, weil du dir einbildest, im Zug kontrolliert zu werden!
III
Und im Bus habe ich als Schüler immer gelesen, und bin so unglaublich oft nicht an der Haltestelle ausgestiegen, wo ich hingemusst hätte, sondern zu weit gefahren und wusste dann nicht, wo ich bin. Oder wer.
Wenn du ganz ehrlich bist, willst du so sein, ein Stück weit.
Ein kleiner Junge, der verletzlich ist und den man behüten muss.
Aber du bist kein kleiner Junge mehr. Du bist ein Mann.
Du darfst trotzdem verletzlich sein, aber deine männliche Souveränität darfst du dabei trotzdem nicht aufgeben. Das wäre ein Lernschritt, den Du zu gehen hättest.
Und ich erinnere mich, wie ich im Studium einmal in meine Aufzeichnungen schrieb, die ich Suche nach Wurzeln nannte, wie sehr es mich beunruhigt, dass man eines Tages von mir erwarten wird, von irgendetwas wirklich Ahnung zu haben…
Eine Innenansicht: Dieses Gefühl, dass man sich nicht nur JETZT hilflos und überfordert fühlt, sondern einem auch ganz schlecht dabei wird, wenn man daran denkt, dass irgendwann vielleicht wirklich von einem erwartet werden wird, etwas zu leisten, etwas zu bestimmen, Verantwortung zu übernehmen, nicht nur für sich selbst, auch für andere, oder ein KENNER auf einem Gebiet sein zu müssen und nicht mehr sagen zu können: Hm, das weiß ich noch nicht, damit kenn ich mich nicht aus, fragen Sie doch einen Experten. Wie kann man, wie kann ich denn jemals ein Experte für irgendetwas sein? (2010)
IV
Aber zurück zu Rilke. Hierher kommt man also um zu leben. Ich meine, es stürbe sich hier.
Es stellt dich heraus, dass die Erscheinung tatsächlich der Geist einer Verstorbenen ist, Christine Brahe. Warum Malte uns diese Episode erzählt, bleibt dennoch nebelhaft. Scheinbar schreitet sie mit einer gewissen Regelmäßigkeit, aber nicht sehr oft (sie sahen sie in acht Wochen noch drei Mal) durch den Speisesaal. Nach dem letzten Mal reisen sie ab.
Umstieg in Wuppertal. Ich kaufe mir einen Kaffee und im DM 90%ige Schokolade und diesen Flamingo-Energydrink. (Gott sei Dank gibt es überall DM!)
Ich denke, auf dem Weg zum Bahngleis 1, Das ist nicht unbedingt dein Schmerz, den du fühlst, wenn du hier durchläufst, du fühlst eigentlich einen allgemeinen Schmerz. Du hast in dir drin auch gar keinen Grund, Schmerzen zu empfinden. Du hast ja wirklich ein goldenes Leben. Du bist tatsächlich nicht enttäuscht. (Denn Malte schreibt von den Enttäuschungen des nicht mehr ganz jungen Menschen.)
Und ist es denn sinnvoll, dich auf diesen Schmerz einzulassen, ihn zu fühlen, ihn auszuleben? Ist es nicht freiwillige Selbstfrustration? Ich muss an die Szene aus Fight Club denken, wo Tyler Durden dem Protagonisten eine chemische Verbrennung verpasst: Das ist dein Schmerz! Sei wach! Nicht einer dieser Halbtoten!
Und kurz vor dem Ausstieg wurde ich dann schließlich kontrolliert. Und hinter mir saß ein junges Mädchen, mit dessen Ticket etwas nicht stimmte und das — so sagte es jedenfalls — ihr Handy und andere Wertsachen geklaut bekommen hatte. War also vielleicht auch die Nervosität, die ich spürte, ihre? Gar nicht meine? Was spüre ich noch, was gar nicht meine eigenen Gefühle sind? Und gibt es das überhaupt?
Und na klar gibt es das. Ich kann mich kurz konzentrieren und besinnen und dann weiß ich ziemlich genau, wie es meiner Frau geht, meinen Kindern, dem ein oder anderen Freund. Nur ist es oft gar nicht so leicht sich zu konzentrieren und zu besinnen.
Im Inneren des Schmerzes lebt eine Freude. Aber welche Freude? Auch den Rilke zu lesen ist ja nicht gerade ein Vergnügen. Es ist das Mitempfinden seiner Leiden. Seines Grauens auch über die Zeit, zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Mir scheint das wertvoll, dies nachzuvollziehen, aber warum? Warum? Ich rätsele.
V
Malte beschreibt, auf den Seiten, die ich gelesen habe, seinen gefallenen Zustand: er ist arm. Wäre er nicht arm, ja… dann, hätte er vielleicht ein Zimmer, das würde schon reichen, in einer Berghütte, wo er mit seinen geerbten Möbeln und seinem Buch, in das er hineinschriebe, lebte und dichtete. Was für herrliche Gedichte er dann schreiben würde! Aber man ist arm und so kann man keine Gedichte schreiben…
Stattdessen überfallen ihn die anderen Armen, die ihn als einen der ihren zu erkennen scheinen, und die Ruine eines abgerissenen Hauses, und er ist entsetzt, und er rennt weg.
»Und wie kam damals jene graue, kleine Frau dazu, eine Viertelstunde lang vor einem Schaufenster an meiner Seite zu stehen, während sie mir einen alten, langen Bleistift zeigte, der unendlich langsam aus ihren schlechten, geschlossenen Händen sich herausschob. … ich fühlte, dass das ein Zeichen war, ein Zeichen für Eingeweihte, ein Zeichen, das die Fortgeworfenen kennen; ich ahnte, sie bedeutete mir, ich müsste irgendwohin kommen oder etwas tun. Und das Seltsamste war, dass ich immerfort das Gefühl nicht los wurde, es bestünde tatsächlich eine gewisse Verabredung, zu der dieses Zeichen gehörte, und diese Szene wäre im Grunde etwas, was ich hätte erwarten müssen.
Das war vor zwei Wochen. Aber nun vergeht fast kein Tag ohne eine solche Begegnung. Nicht nur in der Dämmerung…« (S. 37)
Nun gut, der gute Malte, er muss ein wenig verrückt geworden sein, vielleicht aus Scham ob seines Falls in die Armut, sein Fortgeworfensein… (ich erinnere mich an die Anstalten, die der Protagonist in Knut Hamsuns Hunger machte, um bloß noch als halbwegs passabler Mitbürger durchgehen zu können. Wie er seine letzten »Groschen« einem Bettler gab, damit dieser denke, er sei ein betuchter Bürger… und wie er später aus Hunger an seinen eigenen Fingern kaut…)
Und die Mauer des abgerissenen Gebäudes betreffend, bleibt Maltes Blick an den Details hängen:
»Neben den Zimmerwänden blieb die ganze Mauer entlang noch ein schmutzigweißer Raum, und durch diesen kroch in unsäglich widerlichen, wurmweichen, gleichsam verdauenden Bewegungen die offene, rostfleckige Rinne der Abortröhre.« (S. 42)
Und abschließend:
»Nun von dieser Mauer spreche ich fortwährend. Man wird sagen, ich hätte lange davorgestanden; aber ich will einen Eid geben dafür, dass ich zu laufen begann, sobald ich die Mauer erkannt hatte. Denn das ist das Schreckliche, dass ich sie erkannt habe. Ich erkenne das alles hier, und darum geht es so ohne weiteres in mich ein: es ist zu Hause in mir.« (S. 43)
Und in Wuppertal hatte mein Anschlusszug Verspätung, wodurch ich den Anschluss im verkackten Stuttgart verpassen werde (aber halb so wild, und ich habe eigentlich nichts gegen Stuttgart, aber sagen wir mal so, was dem Malte Paris wurde, war mir Stuttgart, wenn ihr versteht…)
VI
Ich lese am Bahnsteig. Ein Bettler mit Hund kommt vorbei und bettelt mich an. Ich krame mein Geldbeutelchen hervor und will ihm 2€ geben, aber zunächst fragt er:
Was lesen Sie denn da überhaupt?
Ich zeige ihm das Buch.
Und er: Oh, Rilke — schwere Kost.
Und ich: Ja, da muss man durch. Und gebe ihm das 2€ Stück.
Und er: Ja, aber der war schon halt ein Jammerlappen.
Ich lache. Das stimmt schon.
Lesen Sie lieber auch Heinz Ehrhardt, sagt er verschmitzt.
Sie meinen, zum Ausgleich?
Genau. Schönen Tag Ihnen und vielen Dank!
Und durchsucht noch die Mülltonnen hinter mir, während er vor sich hin brabbelt, also mit sich selbst spricht, oder mit seinem Hund, man weiß es nicht. Irgendwo hatte ich gelesen, oder selbst gedacht, dass man nur noch mit den Obdachlosen ein normales Gespräch führen kann.
Dieser jedenfalls hatte mir gefallen.
Ich denke darüber nach. Ich schaue mir seinen Hund an, während er den Bahnsteig entlang aus meinen Blicken schwindet. Dann lese ich weiter. Dann stecke ich das Buch weg, um mal herauszufinden, wann mein Zug kommt.
Der Typ kommt zurück, und quatscht mich wieder an, ob er mich um eine kleine Spende bitten dürfte. Aber wir sind uns doch gerade schon begegnet, sage ich.
Ach ja, sagt er, Rilke. Ich hab ADHS. Kennen Sie das, ADHS.
Nicht persönlich, sage ich, aber ich kenne das Phänomen.
Ich hab vier Tage nicht geschlafen, sagt er und beginnt die Treppe hinunter zu laufen.
Dann wird es Zeit, sage ich.
Jaja. Er lacht, während er aus meinem Blick verschwindet. Beim nächsten Mal geben Sie mir einen aus, ruft er noch.
Ich lache. Auf jeden Fall.
»Ich erkenne das alles hier, und darum geht es so ohne weiteres in mich ein: es ist zu Hause in mir.«
VII
Nun also im Zug nach Stuttgart. Rilke lässt seinen Malte einen Arzt aufsuchen. Ich verstehe die Szene nicht. Ich reimte mir zunächst zusammen, Malte habe für Geld an einem Experiment teilzunehmen eingewilligt, aber vielleicht hat er den Arzt, das Krankenhaus aufgesucht, weil er krank ist. Nervenleiden?
»Der Arzt hat mich nicht verstanden. Nichts. Es war ja auch schwer zu erzählen. Man wollte einen Versuch machen mit dem Elektrisieren. Gut. Ich bekam einen Zettel: ich sollte um ein Uhr in der Salpêtrière sein. Ich war dort.« (S. 49)
Ich habe als Student häufiger mal an Experimenten bei den Psychologen teilgenommen. Man bekam immer ein wenig Geld oder einen Gutschein, aber vor allem fand ich interessant, was die da untersuchen wollten. Ich glaube, Tarantino und Rodriguez, oder nur einer von beiden, haben an medizinischen Experimenten teilgenommen, um ihre ersten Filme zu finanzieren.
Aber die Szene danach erinnert eher an die Kriegslazarett-Beschreibungen bei Roberto Bolaño, der natürlich nur dem Hörensagen nach beschreibt, dafür um so eindrücklicher, in 2666, wie der Einbeinige, der später der Vater des berühmten Archimboldi wird, nachdem er die Einäugige geheiratet hat, im 1. Weltkrieg ins Lazarett kommt und einem Mitpatienten, der ganz in Verband gewickelt ist, zu rauchen gibt. Rauchen tut gut, sagt er. Und der Mitpatient beginnt zu qualmen. Am nächsten Morgen ist er nicht mehr da…
Auch bei Rilke, den Bolano vielleicht, womöglich, wahrscheinlich sogar, gelesen hat, denn wer sollte so große Literatur produziert haben und eine absolute Faszination für die Deutschen gehabt haben, ohne Rilkes einzigen Roman gelesen zu haben, der zudem auch in seinem Surrealismus durchaus an die Franzosen erinnert, die Bolaño dann definitiv gelesen und besprochen hat — also auch bei Rilke gibt es dieses Übermaß an Verbandsmaterial:
»Und viele Verbände gab es. Verbände, die verbargen, und Verbände, die zeigten, was darunter war. Verbände, die man geöffnet hatte und in denen nun, wie in einem schmutzigen Bett, eine Hand lag, die keine mehr war; und ein eingebundenes Bein, das aus der Reihe herausstand, groß wie ein ganzer Mensch.« (S. 51)
Und Malte schaut sich all diese Mitpatienten hier an, »ein dicker Mann mit rotem, angeschwollenem Halse«, »Ein Kind schluchzte in einer Ecke«, »Eine kleine, blasse Frau«, »ein Mädchen … mit rundem glatten Gesicht und herausgedrängten Augen, die ohne Ausdruck waren; sein Mund stand offen, so dass man das weiße, schleimige Zahnfleisch sah mit den alten, verkümmerten Zähnen.« Und schließlich »eine ungeheuerliche, unbewegliche Masse, die ein Gesicht hatte und eine große, schwere, reglose Hand.« … Er hört die Behandlungen. Er hört die Stimmen, Schreie, »und dann schnurrte irgend eine gleichgültige Maschine los und kümmerte sich um nichts.« — »Die Maschinen dahinten schnurrten so angenehm fabrikmäßig, es hatte gar nichts Beunruhigendes.« (S. 54) —
Allerdings löst all das dann aber doch die Erinnerung aus an das Entsetzliche:
»Und da, als es drüben so warm und schwammig lallte: da zum erstenmal seit vielen, vielen Jahren war es wieder da. Das, was mir das erste, tiefe Entsetzen eingejagt hatte, wenn ich als Kind im Fieber lag: das Große. …
Jetzt war es da. Jetzt wuchs es aus mir heraus wie eine Geschwulst, wie ein zweiter Kopf, und war ein Teil von mir, obwohl es doch gar nicht zu mir gehören konnte, weil es so groß war. … Aber das Große schwoll an und wuchs mir vor das Gesicht wie eine warme bläuliche Beule und wuchs mir vor den Mund, und über meinem letzten Auge war schon der Schatten von seinem Rande.« (S. 55)
Malte flieht erneut vor diesem Ort, aber er wird krank und liegt im Bett und mit ihm, auf der Bettdecke, »Verlorenes aus der Kindheit«: »Alle verlorenen Ängste sind wieder da.« (S. 57)
VIII
Ich gebe zu, ich habe ein bisschen geweint in Wuppertal, am Bahnsteig, nicht viel, nicht schlimm, nur ein bisschen, ein bisschen den Schmerz rauslassen, ein bisschen wehklagen sozusagen, das hat auch gut getan, und jetzt will ich vielleicht wieder ein wenig weinen. Wie interessant, dass sich dieser Rilke bis jetzt aufgespart hat, dass ich bei meinen vergangenen Versuchen, ihn zu lesen, irgendwo auf den 30er-Seiten stecken blieb, dass es irgendwie so langweilig schien und was erzählt er mir da aus seiner Kindheit?
Die Angst…
»dass das Granit sei, worauf ich liege, grauer Granit; die Angst, dass ich schreien könnte und dass man vor meiner Türe zusammenliefe und sie schließlich aufbräche, die Angst, dass ich mich verraten könnte und alles das sagen, wovor ich mich fürchte, und die Angst, dass ich nichts sagen könnte, weil alles unsagbar ist, — und die anderen Ängste … die Ängste.
Ich habe um meine Kindheit gebeten, und sie ist wiedergekommen und ich fühle, dass sie immer noch so schwer ist wie damals und dass es nichts genützt hat, älter zu werden.« (S. 57f.)
Ach Malte, du arme, verlorene Seele. Wie weine ich um dich. Und ein bisschen um mich selbst, aber vor allem um dich, denn was uns beide unterscheidet ist, dass ich nicht einsam bin und eigentlich auch nie war und du bist so unfassbar alleine in dem, was du da durchlebst. So unfassbar allein. (Später im Buch sagt Malte auch, dass er nie einen Freund gehabt hat.) Und dabei sehnt sich der Mensch doch nach Verbindung.
Aber vielleicht habe ich mich früher manchmal doch sehr allein gefühlt? Und voller Angst.
Und hatte darüber geschrieben, in meinen Romanen, immer wieder.
»… und ich fühle, dass sie immer noch so schwer ist wie damals und dass es nichts genützt hat, älter zu werden.«
IX
Und jetzt denke ich, dass das der Kern der Geschichte Letzte Abende auf Erden von Bolaño ist. Der Protagonist dort reflektiert über das Schicksal eines surrealistischen Künstlers, der einfach verschwand, während er auf Asyl wartete, vor den Nazis. Und niemand seiner Mit-Surrealisten schien es bemerkt zu haben, zu der Zeit.
Und am Ende steht der Protagonist mit seinem Vater in einer gefährlichen Situation, aber, so ist sein letzter Gedanke in der Geschichte, anders als jener ist ER NICHT ALLEIN.
Und Bolaño hat irgendwo auch diese geniale Szene zwischen Vater und Sohn, ich weiß nicht mehr in welchem Buch, wo der Vater, ein Boxer, mit dem Sohn irgendeinen Boxkampf nachspielen will, und dieser will offensichtlich nicht, aber der Vater versteht das nicht, und der Sohn sagt: »Ein ander Mal« — in diesem Kontext sagt er auch, wenn jemand feige sei, dann die Italiener, womit er sich auf den zweiten Weltkrieg beziehe. Ich muss das bei Zeiten mal recherchieren, das war genial.
Und dazu fällt mir dann gleich noch das Lied von Cat Stevens ein, Father and Son, hier sehr schön vertont:
X
In Stuttgart habe ich ca. 30’ Aufenthalt, muss das Gleis aber nicht wechseln und setze mich so also einfach auf eine Sitzgelegenheit. Es herrscht ganz angenehmes Wetter, die Sonne scheint sogar. Es ist kurz vor fünf Uhr nachmittags. Sie steht aber noch gar nicht so tief.
Das Leben geht weiter. Auch für Rilke. Und für seinen Malte.
Und zwischendurch immer wieder die Frage: Wie autobiographisch sind die Aufzeichnungen?
Wie autobiographisch war alles, was Bolano geschrieben hat? Wie autobiographisch ist alles, was ich schreibe? Kann man überhaupt jemals etwas anderes schreiben als Autobiographie?
(Vielleicht schon, aber ist es dann auch gut? So richtig gut?)
XI
Im RE1 nach Aalen fällt mir ein, dass ich als Kind Angst hatte, wenn ich mich auf einer öffentlichen Toilette einschloss, dass es mir nicht gelingen würde, die Tür wieder aufzukriegen und dass ich eingeschlossen bleiben müsste, vielleicht für immer. Seltsamerweise hatte ich diese Angst nicht bei Fahrstühlen, obwohl die aus heutiger Sicht eigentlich viel schlimmer sind. Ich mag Fahrstühle auch nicht. Aber es gibt diese schrecklich engen Fahrstühle, in denen ich wirklich nicht feststecken wollen würde.
Aber die Angst vor Fahrstühlen ist hochgradig irrational und daran, wie sich Fahrstühle für mich anfühlen, kann ich ersehen, wie sehr ich gerade Herr meiner selbst bin oder eben abgeglitten in die irrationalen Kindheitsängste. Aber Treppensteigen ist doch sowieso gesünder. Fahrstühle sind für Krüppel. (Wie Sloterdijk den Begriff verwendet.)
XII
Rilke ergeht sich nun in Betrachtungen, denen ich nicht länger zu folgen weiß. Es geht um alles Mögliche, aber scheinbar auch um gar nichts, und dann, nach Seiten von diesem, ich kann es nicht anders sagen, Geschwafel, kommt er wieder zurück auf den Boden des Erzählens, aber ganz wo anders, und zwar bemitleidet er zwei-drei Seiten lang das Schicksal dessen, der Ruhm erntet und dessen Namen nun nicht mehr ihm selbst gehört:
»Bitte keinen, dass er von dir spräche, nicht einmal verächtlich. Und wenn die Zeit geht und du merkst, wie dein Name herumkommt unter den Leuten, nimm ihn nicht ernster als alles, was du in ihrem Munde findest. Denk: er ist schlecht geworden, und tu ihn ab. Nimm einen andern an, irgendeinen, damit Gott dich rufen kann in der Nacht. Und verbirg ihn vor allen.« (S. 71)
Und kurz darauf:
»Wie ein Sprung geht sie durch die Himmel, diese hoffnungslose Hyperbel deines Weges, die sich nur einmal heranbiegt an uns und sich entfernt voll Entsetzen. Was lag dir daran, ob eine Frau bleibt oder fortgeht und ob einen der Schwindel ergreift und einen der Wahnsinn und ob Tote lebendig sind und Lebendige scheintot: was lag dir daran?«
Was uns zurückerinnern mag an Christine Brahe. Die lebendige Tote? Und die Menschenmengen in Paris? scheintote Lebendige!
XIII
Und jetzt, nachdem sein Vater und beide seine Großväter schon ausführlich behandelt und gewürdigt sind, kommt er zum ersten Mal nach der knappen Mitteilung, dass seine Mutter schon gestorben war, als er 12, 13 Jahre alt war, auf sie zu sprechen. Und auch das nur nebenbei.
Wie sie von einer Ingeborg erzählte, will er berichten, und so ganz nebenbei erwähnt er, dass seine Mutter keine feste Nahrung mehr zu sich nehmen konnte, und alle Flüssigkeiten durch ein Sieb goss, weil sie eine irrationale Furcht vor Nadeln im Essen hatte, die dort hineingekommen sein könnten…
“Was es doch für viele Nadeln giebt, Malte, und wo sie überall herumliegen, und wenn man bedenkt, wie leicht sie herausfallen…” (S. 74)
Die Ärmste hätte sich bei uns zu Hause nicht wohl gefühlt. Denn die Kinder spielen regelmäßig mit dem Nähkasten meiner Frau. Und lassen dann überall die Nadeln herumliegen. Aber was tut das schon? Angst vor Nadeln haben nur Wahnsinnige!
Der Wahn liegt also in der Familie Brahe, aber das ist vielleicht normaler als man gemeinhin glaubt.
XIV
Und die 2€, die ich dem gut gelaunten ADHS-Bettler gab, hätte ich eigentlich noch meiner älteren Tochter geben wollen, bevor ich abreiste.
Denn die Kleine hatte heute morgen, als wir gemeinsam meinen Koffer packten ein 2€ Stück auf meinem Schreibtisch gefunden und gefragt, ob sie es haben könne. Und ich sagte Ja. Und natürlich hätte die Ältere dann auch eines bekommen müssen. Hm.
Aber jedenfalls ist es jetzt auch in guten Händen?
XV
Und Malte schildert, wie seine Mutter von seiner verstorbenen Schwester Ingeborg berichtete, dass sie sie alle so froh gemacht hätte und gewusst hätte, dass sie sterben würde, und nichts Schlimmes daran finden konnte, und wie sie dann als Geist noch einmal zumindest für den Hund erlebbar erschienen sei, kurz nach ihrer Beerdigung.
Und Malte selbst habe als kleines Kind einmal eine fremde Geisterhand erlebt, die ihm aber vollkommen grauenhaft vorgekommen war:
“ich erkannte vor allem meine eigene, ausgespreizte Hand, die sich ganz allein, ein bisschen wie ein Wassertier, da unten bewegte und den Grund untersuchte. … Aber wie hätte ich darauf gefasst sein sollen, dass ihr mit einem Male aus der Wand eine andere Hand entgegenkam, eine größere, ungewöhnlich magere Hand, wie ich noch nie eine gesehen hatte. … Meine Neugierde war noch nicht aufgebraucht, aber plötzlich war sie zu Ende, und es war nur Grauen da.” (S. 81)
Und dann mit 12, 13, Christine Brahe auf dem Schloss des Grafen, seines Großvaters…
Aber warum erzählt Malte davon? Warum erzählt Rilke davon? Worauf will er bloß hinaus?
XVI
18:30 sitze ich in Aalen und die Sonne ist schon dabei unterzugehen. Der Himmel ist blau und wolkenlos. Die bewaldeten Hügel, die man von hier aus sehen kann, sind herbstlich bunt und sonnenbestrahlt, herrlich. Sie erinnern mich an Heidelberg.
Wo ich mein viertes Lebensjahrsiebt im Wesentlichen verbrachte.
Und studierte. Und lebte. Und was haben wir gelebt, nicht wahr? Man hätte freilich immer noch mehr leben können, aber ich würde doch meinen, wir haben es nicht schlecht gemacht. All die Freude, all das Leid, all die Hoffnungen und Verzweiflungen, all die Verluste und Gewinne, die Illusionen und Realitäten. All die Freunde und die, die es nicht wurden, oder nicht blieben. Oder starben. Das Leben entsteht, indem es vergeht. Das wusste auch Rilke. Das weiß im Grunde jeder. Die Frage, die sich aber manchmal doch stellt, ist: Was bleibt?
(Weinen wir ruhig noch ein wenig über das Schöne und das Schlimme.
Aber dann hören wir auf mit dem Weinen und schreiten voran.)
Der Text hat mir besonders gefallen. Es war sehr schön dich auf deiner Reise zu begleiten auch wenn ich mit Rilkes Roman irgendwie nix anfangen kann.