Iatrogenesis: Wenn Medizin krank macht
Mattias Desmet: Die Psychologie des Totalitarismus, Teil 6
Dies ist der sechste Teil einer Artikelserie zu Mattias Desmets Die Psychologie des Totalitarismus. Hier geht es zum ersten Teil.
Dem aufmerksamen Leser wird aufgefallen sein, dass wir Mattias Desmets Buch nutzen, nicht nur um ausführlich über seine Inhalte zu reflektieren, sondern diese auch mit anderen Autoren zu verknüpfen. Und dass die meisten der von mir zur Projekt-Ankündigung genannten Autoren schon den einen oder anderen Auftritt hatten: der apokalyptische Giorgio Agamben, der fleißige Iain McGilchrist, der bescheidene Ivan Illich, die begnadete Hannah Arendt, der umnachtete Friedrich Nietzsche, der alttestamentarische Jordan B. Peterson. Auffällig abwesend war bisher vor allem der sture Raymond Geuss, auf den wir aber ebenfalls eines schönen Tages stoßen werden.1
Dadurch sind wir aber auch nach 5 Artikeln zu Desmets Buch und ca. 17 500 Wörtern erst in der Mitte von Kapitel 2 (von 11) angekommen. Heute werden wir uns den Rest von Kapitel 2 zu Gemüte führen.2 Wir werden dabei erneut auf Ivan Illich zu sprechen kommen — über den ich am liebsten einen ganzen Roman schreiben würde.3
Nun denn, gut gelaunt und konzentriert wollen wir fortfahren, und alle Üppigkeit in den Formulierungen auf die Fußnoten beschränken, deren Lektüre ich wieder einmal besonders empfehlen/nicht empfehlen [unzutreffendes bitte streichen] kann.4
I. Medizin-Skandälchen
Wir hatten mit Desmet und McGilchrist gesehen, dass gerade im medizinischen Bereich die Replikationskrise besonders verheerende Resultate aufzeigte, dass nämlich “85% der medizinischen Studien zu fragwürdigen Ergebnissen kommen.” (S. 45) Ganz unvoreingenommen könnte man sich nun fragen, wie das überhaupt sein kann — Wenn ein Medikament nicht wirkt, müsste dies doch von den Patienten durchaus bemerkt werden, und wenn es sogar negative Wirkungen entfaltet, erst recht. Und wo sind die ganzen Medizin-Skandale, die auftreten müssten, wenn die Forschung innerhalb dieser Fachrichtung wirklich so schlecht wäre?
Nun, zunächst gibt und gab es ja immer wieder Skandale. Leider gibt es so viele Skandale in allen möglichen Bereichen dessen, worüber Medien berichten, dass das Publikum sich erstens daran gewöhnt hat, und dass zweitens der einzelne Skandal gut unter anderen Skandalen begraben werden kann.5
Das wohl bekannteste Beispiel eines Medizin-Skandals ist die Contergan-Affäre. (Ein Mittel, das Schwangeren gegen die Übelkeit helfen sollte, und zu Fehlbildungen bei den Kindern führte.) Ebenfallls bekannt soll die DES-Affäre sein, von der ich vor der Lektüre von Desmets Buch aber noch nie gehört hatte. DES steht für Diethylstilbestrol, ein künstliches Hormon, das Fehlgeburten vorbeugen sollte. Diese Wirkung entfaltete es mitnichten, stattdessen manifestierten sich “eine Reihe von schweren Nebenwirkungen”, bei den Schwangeren selbst, aber auch bei den Folgegenerationen — ein erhöhtes Krebsrisiko und Missbildungen.
Niemand weiß, ob und in welcher Generation die Fehlbildungen infolge von DES aufhören werden.” (S. 46)
Desmet verweist außerdem auf die Opiate-Krise in den USA, die in den letzten 20 Jahren 400 000 Todesfälle verursacht haben soll, nebst der anderen zerrüttenden Wirkungen für Millionen von Menschen;6 und auf das Mittel Paracetamol, bei dem 2021 entdeckt worden sei, dass es “krebserregende Stoffe enthält und fruchtschädigend sein kann” (S. 47).
II. Risiken und Nebenwirkungen
Bei genauer Betrachtung ist es eigentlich auch kein Wunder, dass Medikamente oft unerwünschte und lange unentdeckte Nebenwirkungen haben werden. Obwohl sie umständlich getestet werden, kann dabei trotzdem nur auf eine begrenzte Menge von Faktoren und Zeiträumen eingegangen werden. Gerade subtile Nebenwirkungen, die sich erst langfristig zeigen, wären weder in den Zulassungsstudien, noch auch im späteren Gebrauch leicht nachzuweisen.7 Desmet nennt als mögliches Beispiel die “Verringerung allgemeiner Immunität”, das gibt zu denken. Paracetamol war schon seit 1955 auf dem Markt, aber erst sehr viel später wurden immer weitere unerwünschte Nebenwirkungen entdeckt, die bspw. dem Wikipedia-Artikel (oder dem Beipackzettel) entnommen werden können.
Neben den reinen Nebenwirkungen gibt es auch noch Wechselwirkungen mit anderen Arzneien oder auch Umweltfaktoren, ganz zu schweigen von individuellen psychischen Faktoren,8 und dann natürlich auch die “unsachgemäße” Anwendung, wie Überdosierung oder Missbrauch über längere Zeiträume etc. Insgesamt wird man nach kurzem Nachdenken schon zu dem Schluss kommen, dass man von Medikamenten die Finger lassen sollte, wann immer es geht. Wobei “wann immer es geht” natürlich eine Frage der eigenen Entscheidung und Willenskraft ist.
III. Medizin als Wirtschaftsfaktor
Es gibt eine Narrative, nach der es schon insgesamt gut ist, was die Pharma-Branche so treibt,9 denn die wirtschaftlichen Pull-Faktoren — Adam Smiths vielbemühte, aber selten erkennbare unsichtbare Hand — in Kombination mit den Regulations- und Kontrollmechanismen würden dafür sorgen, dass bei dem Prozess insgesamt eher brauchbare Medikamente herauskämen als schädliche.
Nur könnte man dem entgegenhalten: Was ist lukrativer: einen Patienten zu heilen, sodass er danach keine weitere medizinische Intervention benötigt10 — oder ihn krank, aber stabil zu halten, sodass er ständig weitere Medikamente und Behandlungen braucht? Wo liegt also der wirtschaftliche Impetus in der Pharma-Branche?
Wir leben nun einmal in einem Wirtschaftssystem, das wohl aus bestimmter Sicht auch seine Vorteile hat, dessen unangenehmer Nebeneffekt es aber unter anderem ist, dass es versuchen wird, dir noch den größten Haufen stinkenden Mists als Goldbarren zu verkaufen, und das dich, metaphorisch gesprochen, gerne noch dafür bezahlen lässt, dass es dich langsam, aber systematisch zu Tode foltert, statt dich auf eine Eisscholle zu setzen und Arrivederci.11
Das Gesundheitssystem wird überall immer teurer, eine Entwicklung, deren Vorreiter die USA sind — und die Menschen werden dabei aber nicht gesünder, sondern kränker.12 Dies ist genau das, was Ivan Illich schon in den späten 60er und 70er Jahren vorhergesagt hat, weshalb wir uns seinen Thesen nun erneut zuwenden wollen.
Illichs Anmerkungen zur Medizin kommen einem manchmal paradox vor, was eine gute Gelegenheit ist, zu Egon Friedells Lob der Paradoxie zurückzukommen.
IV. Exkurs: Egon Friedell: “Die unvermeidliche Paradoxie”
In Deutschland könne man nichts sagen, hatte Friedell auf den einleitenden Seiten seiner Kulturgeschichte der Neuzeit geschrieben, wie wir bereits ausgeführt haben, ohne sogleich darauf geprüft zu werden, ob man “kompetent” sei, “ob seine Darlegungen nicht Widersprüche und Ungereimtheiten enthalten”, und “ob es nicht etwa schon ein anderer vor ihm gesagt habe.” (S. 50) Es werden also die Vorwürfe des Dilettantismus, der Paradoxie und des Plagiats angebracht. An dieser Stelle handeln wir den Vorwurf der Paradoxie ab.
Friedells Verteidigung der Paradoxie kettet drei Argumente zusammen, man könnte sagen, ein historisches, ein autoritatives, und ein philosophisches.
Es sei der natürliche Gang einer jeden “Wahrheit”, dass sie im Bewusstsein der Menschen “von der Paradoxie zum Gemeinplatz” führe: “Sie war gestern noch absurd und wird morgen trivial sein.” Man stehe also als Mensch vor der unangenehmen Alternative entweder etwas Selbstverständliches zu sagen, oder aber etwas zunächst Paradoxes.
Dies hätten auch alle großen Geister erkannt, wobei er Friedell sich selbst sicherlich nicht ausschließen wollte. Zur Gewähr zitiert er Emerson, Goethe, Baudelaire und Ibsen. Konsequenz sei ein “Kobold, der in engen Köpfen spukt”, die Wahrheit ein fassettenreicher Diamant, und man habe das “Recht, sich zu widersprechen”.
“Der Widerspruch ist nämlich ganz einfach die Form, und zwar die notwendige Form, in der sich unser ganzes Denken bewegt.” (S. 50)
Besonders fruchtbar habe diese Einsicht Hegel gemacht, der darum auch nicht umsonst einen Großteil des 19. Jahrhunderts vollkommen dominiert habe. Die These und ihre Antithese führten zu einer höheren Synthese, zu der auf einer “höheren geistigen Spiralebene gelegene[n] Einheit aus diesen beiden einander widersprechenden Urteilen.”
Wenn man sich diesen Gedanken ausführlich hingibt, wird man zum Schluss kommen, dass da etwas dran ist. Und auch, dass unsere liberalen Demokratien auf diesem Gedanken basiert zu haben scheinen, dass aus dem Streit der verschiedenen Ansichten, die sich alle begründen und belegen lassen, eine höhere Einheit und vielleicht sogar Wahrheit erwachsen könne. Ein Grund für die aktuelle Krise der Demokratien überall auf der Welt könnte also sein, dass wir aufgehört haben, uns mit dem Paradoxen anfreunden zu können, in das wir aber notwendig als Menschen hineingestellt sind.
V. Die Nemesis der Medizin
Kommen wir aber nun zu Ivan Illichs Ausführungen zur Paradoxie des modernen Medizinbetriebs zurück. Illich analysiert in seinem als Pamphlet bezeichneten Buch Die Nemesis der Medizin den “krankmachenden medizinischen Fortschritt”.13 Ich möchte an dieser Stelle nicht auf alle Details eingehen — obwohl diese durchaus mit Gewinn zur Kenntnis zu nehmen wären — und auch nicht Illichs Argumente und mögliche Gegenargumente diskutieren,14 sondern ihn lediglich dazu nutzen, Desmets knappe Kritik des Medizinsystems noch zu vertiefen.
Die Dinge, die Desmet vorbrachte, liegen nämlich alle auf der Ebene dessen, was Illich “klinische Iatrogenesis” nennt: die (Fehl-)Behandlung durch Mediziner, die mehr Schaden als Nutzen anrichten auf der rein medizinisch-therapeutischen Ebene.15
Diese ist schlimm genug. Darüber hinaus hat Illich aber noch zwei weitere und aus seiner Sicht bedeutendere Ebenen entdeckt: die “soziale” und die “kulturelle” Iatrogenesis.
V.1 Soziale Iatrogenesis
Unter sozialer Iatrogenesis versteht Illich die “gesundheitsschädlichen Folgen der sozialen Organisation von Medizin" (S. 16) Also wie sich die Medizin in Bereiche des gesellschaftlichen Lebens einmischt, bei denen es nicht um Krankheiten geht. Schwangerschaft, Geburten und Kindheit werden genauso als zu therapierende Stadien des Lebens begriffen wie das Alter. Der aussichtslose und daher sinnlose Kampf gegen den Tod wird als heroisch dargestellt, nicht als idiotisch.
Die Prophylaxe und die Diagnose selbst sieht Illich als weiteren Baustein zu einem stigmatisierenden und soziale Rollen formenden - damit soziale Kontrolle ausübenden - Funktionsapparat der modernen Medizin: Plötzlich bist du ein Kranker und verlierst das Recht auf Selbstbestimmung, zumindest fühlt es sich so an und die meisten Patienten lassen sich dann auch fremdbestimmen. Und je weiter die “Medikalisierung” des Lebens fortschreitet, desto größere Anteile der Bevölkerung sind ganz offiziell krank und daher natürlich behandlungsbedürftig.
V.2 Kulturelle Iatrogenesis
Unter kultureller Iatrogensis schließlich versteht Illich die “lähmende Wirkung” dieser medizinischen Organisation auf die “Lebenskraft des Einzelnen” (S. 16) — “Sie setzt ein, sobald der Medizin-Betrieb den Willen der Menschen schwächt, ihre Realität zu erleiden.” (S. 91, m.H.) Wir können also heute, gut 50 Jahre später, festhalten, dass sie längst eingetreten und zur Selbstverständlichkeit geworden ist.
“Die kulturell geprägte Gesundheit ist im Stil einer jeden Gesellschaft festgelegt als die Kunst, zu leben, zu feiern, zu leiden und zu sterben. Alle traditionellen Kulturen leiten ihre hygienischen Funktionen aus dieser Fähigkeit ab, dem einzelnen die Mittel zu geben, um Schmerz erträglich, Krankheit oder Schwäche verstehbar und den Schatten des Todes sinnvoll zu machen... Heilen ist meist eine traditionelle Art und Weise, Menschen zu pflegen und zu trösten, während sie genesen; und Krankenpflege ist meist eine Form der Toleranz, die den Gebrechlichen zuteil wird.” (S. 92f., m.H.)
Aber: “Die Ideologie, die der moderne, kosmopolitische Medizin-Betrieb propagiert, läuft diesen Funktionen zuwider.” (S. 93) Die moderne Zivilisation will den Menschen nicht mehr lehren, zu leiden, zu heilen und zu sterben, sondern einzig, Krankheit und Tod als Funktionsstörung zu betrachten, und sie damit jeglichen Sinns zu berauben, der ihnen in allen Traditionen zugesprochen wurde. Sie schafft damit überwältigende Anreize, Krankheit und Tod zu verdrängen und auch an den Rand des Wahrnehmbaren in der Kultur zu drängen, was eine Entwürdigung derer, die krank oder am Sterben sind, bedeutet.
Wir kommen nun zum paradox anmutenden Teil von Illichs Ausführungen. Obwohl wir uns natürlich nicht wünschen, Schmerzen zu erleiden, krank zu werden, und zu sterben, sollten wir eine positive Haltung zu diesen Prozessen entwickeln, und traditionelle Kulturen halfen dem Individuum dabei, indem sie ihnen Sinn und Bedeutung beimaßen.16 Es ist gut für mich, Schmerzen zu erleiden. Es ist gut für mich, krank zu werden, und ggf. zu heilen. Es ist aber auch gut für mich zu sterben.
Abgesehen davon ist es auch unentrinnbar. Trotz all der modernen Bemühungen, erleiden die Menschen selbstverständlich noch immer Schmerzen, Krankheiten und den Tod. Vielleicht nicht einmal weniger als früher. Aber ihr Leiden entbehrt nun subjektiv jeglichen Sinn. Und die Menschen haben die Kontrolle darüber verloren, wie sie leiden und wie sie sterben wollen.17
Es darf uns nicht wundern, wenn mit diesen Entwicklungen ein Gefühl der Machtlosigkeit und Einsamkeit einhergeht, und dieses erzeugt Unbehagen und Angst und in der Folge, wie wir gesehen haben und noch weiter sehen werden, Frustration und Aggression. Die Menschen sind nun bereit für eine irrationale Massenbildung.18
Lies auch den nächsten Teil:
Die Idee, jedem Autor ein Attribut beizulegen, übernahm ich von Leonard Cohen, der dies gelegentlich der Nennung seiner Mitmusiker in seinen späten Jahren zu tun pflegte, e.g. “the sublime Webb Sisters”. Jahre später entdeckte ich gelegentlich der Lektüre Homers, dass dies wohl damals schon Gang und Gäbe war, also ein Brauch, der in Vergessenheit geraten ist, sehr zum Leidwesen des modernen Menschen. Meine Wahl des Attributs ist dabei ein Stück weit beliebig. So hätte man auch vom verschmitzten Agamben sprechen können, und vom heroischen Illich, von der attischen Arendt, vom verträglichen Peterson…
(Es ist schade, dass Substack keine Fußnoten zu den Fußnoten zulässt, diese hätte ich an dieser Stelle angewendet, um jedes dieser Attribute zu erklären und auch, warum ich im Haupttext dann aber doch das jeweils andere wählte. So bleibt mir der Übersichtlichkeit halber nur, auf das breite Spektrum zwischen “alttestamentarisch” (wobei ich vor allem an die Unversöhnlichkeit und Vehemenz der Propheten denke) und “verträglich” in Bezug auf Peterson einzugehen. Peterson wirkt auf mich häufig wie die Reinkarnation eines alttestamentarischen Propheten: seine Themen, sein Sprachduktus, sein ganzes Aussehen. Nun sagt er selbst von sich, dass er ein hohes Maß an “agreeableness” (Verträglichkeit) habe. — “Do I contradict myself? / Very well then, I contradict myself. / (I am large, I contain multitudes.)” (Walt Whitman, Song of Myself.
((In einer weiteren Fußnote hätte ich darauf hingewiesen, dass ich das Wort “Attribut” zwar aus einem Spinoza-Seminar [über dessen unpassend benannte Ethica — wozu, was mir eine weitere Fußnote Wert gewesen wäre, Egon Friedell hätte zitieren können, der schrieb, Spinoza sei “vielleicht der merkwürdigste Denker, der je gelebt hat” und “niemals” habe “ein Buch seinen Titel mit geringerer Berechtigung geführt als” seine Ethica (Kulturgeschichte der Neuzeit, S. 454), was beides auch stimmt] in meinen aktiven Wortschatz übernahm, wo es sich durch ein Thomas von Aquin-Seminar verfestigte [das eine Pflichtveranstaltung war, in der es um ein paar der Attribute Gottes ging; niemals hätte ich mich damals freiwillig scholastischer Lektüre hingegeben; ich musste dann allerdings einsehen, dass es durchaus viel Freude machte, in der Summa zu lesen, alles war so schön geordnet und wohlgeformt und auf alles hatte der Aquinat eine Antwort]; dass ich bei dem Wort aber immer schmunzeln muss, weil ich daran erinnert werde, wie Stefan Raab einmal versuchte, Kollegah und Farid Bang davon zu überzeugen, dass man “Jung Brutal Gutaussehend” doch auch als “jung und brutal gutaussehend” interpretieren könne, und die beiden Rapper aber darauf bestanden, es handele sich um drei getrennte “Attribute”: Jung und Brutal und Gutaussehend.))
(((Ich widme diese Fußnote meinem Philosophie-Kollegen, dem gewaltigen (wenn man vom Trizeps absieht) Joscha.)))
Als ich diesen Artikel zu schreiben begann, fühlte ich mich in einem gewaltigen Anflug von Hybris zu der Ankündigung berechtigt, dieser Artikel würde nicht nur den Rest des 2., sondern auch das ganze 3. Kapitel besprechen. Ich war ein Narr. Aber so hatte ich es mir vorgestellt:
“Heute jedoch werden wir diesen Fortschritt verdoppeln, indem wir uns den Rest von Kapitel 2 und das gesamte Kapitel 3 zu Gemüte führen. Wir werden dabei erneut auf Ivan Illich zu sprechen kommen — über den ich am liebsten einen ganzen Roman schreiben würde —; des Weiteren auf Hans Jonas, einen Freund Hannah Arendts, der uns ebenfalls kein Unbekannter mehr ist; und schließlich werden wir uns der Dystopie einer künstlichen Gesellschaft zu widmen haben.”
Ich zitiere mich selbst nur deshalb, um als Fragment diesen Plan stehen zu lassen, denn ehrlicherweise haben wir es dieses Mal nicht einmal geschafft, das 2. Kapitel wirklich zu Ende zu besprechen und ich werde den Rest und wahrscheinlich auch einen Großteil des 3. Kapitels nun aber unter den Tisch fallen lassen, um auch einmal weiter zu kommen.
Möglicherweise werde ich auch dazu kommen, dies zu tun. Was mir vorschwebt, ist allerdings ein Roman, der sich vom 12. Jahrhundert bis ins 21. zieht und dabei Illich nur als eine von mehreren illustren Persönlichkeiten nutzt, um die gesamte “Krisis der europäischen Seele”, wie Egon Friedell es ausdrückte, als Gesamtpanorama darzustellen. Weitere Persönlichkeiten, die ich dabei inkorporieren wollen würde, wären Sorell, Schiller, Garibaldi, Ernst Jünger und Friedell selbst, außerdem ein paar unbekannte Anarchisten, ein paar mehr oder weniger bekannte Seefahrer, viele Bauern, ausgewählte Dichterinnen des Hochmittelalters über die Minne, Alchemisten und andere Quacksalber, darunter natürlich Paracelsus, und — als Statisten natürlich — ausgewählte Philosophen dieses Zeitraums, den großen Aquinaten, den kleinen, aber wirkmächtigen Cartesius, den verschrobenen Hobbes, den verschlagenen Bacon, den kantigen Kant und sein Gefolge des deutschen Idealismus, die gähnende Leere des 20. Jahrhunderts, aus der wie zwei hässliche verfaulte Weisheitszähne Wittgenstein und Heidegger ihre hässlichen Visagen trotzig hervorstrecken, und die gewaltige Einöde des 21. Jahrhunderts, aus der heraus selbst Heidegger und Wittgenstein noch wie Schönheiten wirken müssen, um es stümperhaft im Stile Roberto Bolaños zu formulieren. In Rückblenden könnte man natürlich auch Platon und seine Schüler zu Wort kommen lassen, und in ihren späteren Inkarnationen könnte man Paul und Petrus, vielleicht gar Johannes, darstellen. (Letzteres ist auch eine unabhängige Romanidee, von der bisher vor allem der Titel “Von Christenmenschen” existiert, und der Roman müsste in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erschienen sein, wo es noch ein Skandal sein konnte, dass die Protagonisten homosexuell sind. Ich glaube, es war Borges, der einmal die Idee formuliert hat, dass man lieber kurze Geschichten über lange Bücher schreiben sollte, als diese Bücher selbst.) Einen solchen Roman könnte man natürlich auch in einzelnen in sich abgeschlossenen Bänden veröffentlichen, und dabei die Zeiten, über die man nichts weiß und daher auch nichts schreiben kann, immer weiter in den Hintergrund rücken. Illich selbst hätte gerne einen Roman über Abelard und Heloise geschrieben, oder schreiben lassen. Auch diese Geschichte würde gut in mein Romanprojekt passen, denn es ginge ja immer darum, das gewaltige Leiden des Menschheitswegs auf die eine Waagschale zu legen, und das individuelle Glück und die Einsicht des Einzelfalls auf die andere, und zu protokollieren, dass sich die Schalen exakt die Waage halten, wobei die postmoderne Pointe wäre, dass sie das tun, weil beides überhaupt nichts wiegt, und wir schon immer dort waren, wo wir hin wollten, und der Weg durch dieses Labyrinth trotzdem notwendig war, und auch schön, und auch bitter, und voller Überflüssigkeiten und voller Notwendigkeiten, und am Ende müssen wir mit Nietzsche sagen können: So habe ich es gewollt.
In einem Buch, das ich in meinen Jugendjahren versuchte zu lesen, woran ich aber scheiterte, das ich dann im Studium erneut zu lesen begann und erneut abbrechen musste, und das ich nun endlich letztes Jahr erfolgreich zu lesen beendet habe, wobei ich noch einmal von vorne anfangen musste, obwohl ich mich an viele Details noch gut erinnern konnte, und das im Original den illustren Titel trägt The Collapse of Chaos, was in der Deutschen Version vollkommen unverständlicherweise und wenig inspirierend mit Chaos und Anti-Chaos übersetzt wurde — in diesem Buch also, das ein populärwissenschaftliches Sachbuch ist, schieben die Autoren, Jack Cohen (Biologe) und Ian Stewart (Mathematiker), die auch mit Terry Pratchett kollaboriert und somit ihren Sinn für Humor wohl bewiesen haben, zwecks Illustration ihrer Thesen immer wieder kurze Dialoge zwischen menschlichen Forschern der Zukunft und einer anderen Lebensform ein, den Zarathustranern, deren Technologie hochentwickelt aber “sonderbar” sei, was die Kommunikation erschwert. Ein hier von mir reproduzierter Witz liegt darin, dass der Übersetzungscomputer oft ein Verb oder Adjektiv und seine Negation zur Wahl bietet, um einen Ausdruck der Zarathustraner zu übersetzen, was vielleicht auf die Angewohnheit der alten Griechen hinweist, für Dinge und ihr Gegenteil das gleiche Wort zu verwenden, so das prominente Beispiel pharmakon für Gift und Heilmittel.
Für manche ist ja auch die harte Ineffizienz der Corona-Impfungen ein Skandal. Für die meisten aber ist das schon okay so, weil sie es gar nicht zur Kenntnis nehmen wollen, wie ineffizient diese Impfung eigentlich war (laut manchen informierten Stimmen die unwirksamste Impfung, die jemals zugelassen wurde). Und wenn sie es doch zur Kenntnis nehmen, dann mit einem resignierten “Tja, so ist die Welt nun mal”. Laut den offiziellen Kanälen der verantwortlichen Regierungen war die Impfung natürlich hochgradig wirksam. Mein laienhafter Wissensstand(1) ist, dass diese verschiedenen Narrative darauf beruhen, dass die Impfungen einen “hohen, aber rasch abnehmenden Schutz vor schwerer Erkrankung” boten. Die Befürworter betonen dabei das Wort “hoch”, die Kritiker das “rasch abnehmend”. Aber beide werden sich gegenseitig vorwerfen, wie auch mir, hochgradig voreingenommen zu sein. Diese Schwierigkeiten könnte eine neutrale Corona-Aufarbeitung möglicherweise beheben, wenn sie denn stattfände. Dass sie dies nicht tut, insbesondere in Hinblick auf die “Kollateralschäden” an unseren Kindern, und dass auch weder in der Gesellschaft noch in der Politischen Sphäre ein tiefergehendes Interesse daran wahrnehmbar ist, wäre eigentlich auch ein Skandal. (2) — Auf der anderen Seite werden in den Medien gerne Dinge zu Skandalen aufgebauscht, die eigentlich keine sind.
Fußnote (1): Wenn es einen interessiert, wird man beliebig viele Artikel wie diesen finden können, die logisch vollkommen nachvollziehbar gegen die Impfung argumentieren. Genauso wird man Artikel finden, die vollkommen nachvollziehbar logisch dafür argumentieren. Ich hatte vor Jahren mit einem mathematisch versierten Freund eine Kontroverse darüber begonnen, ob die Analysen von Prof. Kuhbandner korrekt seien. Wir — oder auch nur ich — mussten schnell erkennen, dass es nicht zielführend war, auf einer zu detailverliebten Ebene über diese Dinge zu reden. Ich fühle mich an eine Szene aus dem Film der Coen-Brüder The Man Who Wasn’t There erinnert, wo es in etwa heißt (ich zitiere aus dem Gedächtnis): “He told them not to look at the facts but at the meaning of the facts. Then he told them the facts had no meaning.”
Fußnote (2): Dieses Desinteresse erinnert mich an das Desinteresse der Deutschen und auch anderer Europäer nach dem 2. Weltkrieg, das gerade Geschehene wirklich aufzuarbeiten. Stattdessen wollte man es möglichst schnell hinter sich lassen und weitermachen. Dadurch — und natürlich, weil der Kalte Krieg schon längst parallel begonnen hatte — kam es in Deutschland zu einer nur sehr unzureichenden Entnazifizierung, in anderen Ländern, wie Österreich, war sie noch unzureichender. Und es konnte der Mythos aufkommen, die Schuld an allem trage ganz allein Hitler, vielleicht noch ein paar seiner Funktionäre, und das deutsche Volk, wie auch die anderen Völker, wären unschuldig.(3)
Fußnote (3): Ist diese Anmerkung schon zu sehr ein Vergleich zwischen dem dritten Reich und der Corona-Zeit? Ich denke nein, erstens weil ich dabei nicht das dritte Reich mit der Corona-Zeit vergleiche, sondern die jeweilige Zeit danach; zweitens, weil es nicht um einen inhaltlichen, sondern rein strukturell-psychologischen Vergleich geht. Zudem sind Vergleiche m.E. immer zulässig, solange sie nicht der Gleichsetzung dienen. Inhaltliche Gleichsetzungen von historischen Geschehnissen mit dem 3. Reich lehne ich — mit Michael Lüders — als kontraproduktiv ab. Wenn Protestierende mit der öffentlich geäußerten Aussage auffielen, sie fühlten sich “wie Sophie Scholl”, dann zeigt dies eine peinliche Geschichtsvergessenheit, die ratlos macht ob der Ignoranz, die einem solchen Vergleich zugrunde liegt.(4)
Fußnote (4): Ja, ich habe eine Möglichkeit entdeckt, doch Fußnoten für Fußnoten zu erzeugen und werde hemmungslos Gebrauch davon machen.
Emmanuel Todd beschreibt die Opioid-Krise in seinem beeindruckenden, wenn auch schwer zu ertragenden Werk (1) Der Westen im Niedergang, wobei er sich auf das Buch Deaths of Despair von Anne Case und Angus Deaton bezieht, wie folgt: “Große Pharmakonzerne haben mit der Unterstützung von gut bezahlten und skrupellosen Ärzten Patienten, die aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen unter seelischem Schmerz litten, gefährliche und süchtig machende Schmerzmittel zur Verfügung gestellt, die sehr regelmäßig zum direkten Tod, zu Alkoholismus und Selbstmord führten. … Wir haben es mit den Machenschaften einiger bestimmter Gruppen in der Oberschicht zu tun, die die Vernichtung eines Teils der Bevölkerung zur Folge haben. Dies grenzt an eine Schande, doch bleiben wir bei technischen Formulierungen: Wir befinden uns hier mitten in der Nullmoral.” (S. 217) — Und kommentiert ein paar Sätze später, nachdem es noch düsterer geworden ist: “Ist das Nihilismus? Oh ja.” In diesem Zusammenhang könnte man auch an Jordan B. Petersons Darstellung seiner eigenen Benzodiazepin-Missbrauch-induzierten Probleme in der Overture von Beyond Chaos denken. Und Byung-Chul Han widmete dem Thema ein kleines Büchlein, Palliativgesellschaft, das ich jedem zur Lektüre empfehlen würde, bevor er sich für oder gegen Schmerzmittel entscheidet. Han entwickelt darin die These, dass heutzutage eine Algophobie, “eine generalisierte Angst vor Schmerzen” herrsche, dass dadurch auch keine Schmerztoleranz mehr existiere und in der Folge sich eine Daueranästhesierung breitmache, selbstverständlich auch in Bereichen, wo das Sprechen von Schmerzen eher metaphorischen Charakter trage: “Schmerzhafte” Auseinandersetzungen werden vermieden. Jeder Mensch der sich einmal mit Schmerzen auseinandergesetzt habe, wisse, dass im Inneren des Schmerzes ein Glück und tiefe Erkenntnis zu entdecken sei, und dass ein schmerzfreies Leben es nicht wert wäre, gelebt zu werden. Meine eigene Erfahrungen mit Opiaten haben mich mir selbst schwören lassen, dass ich nie wieder eines zu mir nehmen werde, solange dies in meiner Macht liegt. Da ich auf die gängigen Schmerzmittel allergisch reagierte, wurde mir ein Opiat nach einer OP der Nasennebenhöhlen verschrieben. Ich lag eine Woche auf dem Sofa und starrte meine Hände an und fühlte mich glücklich, dann verlor ich aber die Fähigkeit, meine Körpertemperatur zu regulieren und mir war tagelang kalt, egal was ich machte. Aber das nur am Rande.
Selbstverständlich werde ich Emmanuel Todds Buch einen eigenen Artikel widmen, womöglich schon den nächsten.
Fußnote (1) Allerdings sehr viel leichter als Chomskys The Myth of American Idealism, was wohl daran liegt, dass Todd seinen Humor über all dem nicht verloren zu haben scheint und es sich nicht nehmen lässt, Sätze zu produzieren, die auch Rappern in ihren Diss-Tracks zur Ehre gereichen würden, e.g. “Heute wäre die britische Armee nicht einmal mehr in der Lage, wie die französische Armee Operationen in Afrika durchzuführen und sich dort verhasst zu machen.” (S. 171) Chomskys Buch hingegen ist frei von jedem Humor, wahrscheinlich weil ihm (und seinem Co-Author Robinson) am behandelten Thema aber auch so gar nichts lustig zu sein schien — verständlicherweise. Aber der Humor hat ja die wichtige Funktion, das eigentlich Unerträgliche erträglich zu machen, was sich bspw. am jüdischen Humor nach 1945 zeigt, über den ich einmal in Heidelberg am Germanistischen Seminar eine sehr lehrreiche und bewegende — und lustige — Vorlesung hörte. Diese Witze würde ich mich aber nicht trauen, öffentlich zu replizieren, und ein Stück weit ist dies sehr schade.
Besonders betonen möchte ich in dieser Fußnote, wie schwierig es ist, die Wirkung nicht nur zu erahnen, sondern sie ausreichend zu belegen, dass tatsächlich etwas getan wird. Vergessen wir nicht, dass selbst Contergan, dessen schädliche Wirkung 1961 festgestellt wurde, bspw. in Belgien “noch bis 1963 in Apotheken frei verkäuflich war und erst 1969 ganz aus dem Handel genommen wurde (!). Die Rechtfertigung der betroffenen Gesundheitsminister macht einen sprachlos: Man wollte erst ganz sicher sein, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Medikament und den fetalen Missbildungen gab …” (Desmet S. 46) — Ähnlich verhält es sich ja auch mit Tabak-Produkten und dem Nachweis ihrer Schädlichkeit, um den lange gerungen werden musste. Und ähnlich wird es sich möglicherweise eines Tages mit anderen Phänomenen verhalten: Strahlung, Mikroplastik, GMOs…
Desmet nennt diesbezüglich die möglicherweise enorme Wirkung von Placebo- resp. Nocebo-Effekten, also Wirkungen, die lediglich darauf beruhen, dass der Patient das Präparat oder die Therapie für wirksam, resp. schädlich, hält: “Manche Forscher (wie Shapiro und Wampold) meinen, dass bis zu 90% der Wirkungen medizinischer Behandlungen psychologischen Faktoren zuzuschreiben sind. Wenn das stimmt, sind die meisten medizinischen Behandlungen eigentlich (nicht als solche anerkannte) Formen von Psychotherapie.” (S. 48) — Oder anders herum gedacht ist die westliche Medizin dann sehr viel näher an den traditionellen Heilverfahren, was ihren positiven Wirkmechanismus angeht. (Desmets Quellen sind Shapiro, The Powerful Placebo: From Ancient Priest to Modern Physician (Baltimore/London: 1997), sowie Wampold et al. (2005) “The Placebo is Powerful: Estimating Placebo Effects in Medicine and Psychotherapy from Randomized Clinical Trials.” Journal of Clinical Psychology, 61(7), S. 835-54.) Desmet führt weiter aus: “Daher sind die Wirkungen von Medikamenten nur sehr schwer vorhersehbar und können sich beispielsweise auch substanziell ändern, wenn sich der gesellschaftliche Diskurs über dieses Medikament ändert. Der veränderte Diskurs führt zu veränderten Erwartungen hinsichtlich des Medikaments und damit auch zu veränderten Wirkungen.” (S. 48) - Falls dieser Effekt verallgemeinerbar ist, führt das Schlecht- oder Gutreden einer Sache dazu, dass sie wirklich positive oder negative Effekte hat. Wird Rauchen also ungesünder dadurch, dass es ständig in seinen negativen Folgen dargestellt wird? Wie ist es mit anderen Umweltgiften? Alkohol? Stress? Arbeit? Wird eine positivere Haltung gegenüber Cannabis dazu führen, dass es auch tatsächlich positiver wirkt? Dies sind interessante Fragen.
Wobei Darstellungen hierzu sich teilweise düsterer ausnehmen als Chomskys The Myth of American Idealism, siehe Fußnote 6 - (1).
Bspw. durch Boosten des Immunsystems — stattdessen schwächen viele medizinische Interventionen das Immunsystem. Wobei darüber natürlich, bspw. in Bezug auf einige Impfungen, Uneinigkeit herrscht.
Man verzeihe mir den schrillen Tonfall in diesem Absatz. Ich habe darüber nachgedacht, ihn wieder zu löschen, er scheint mir inhaltlich aber korrekt und relevant. Und vollkommen emotionslos sollte ein Text ja nicht sein, oder? Das Arrivederci muss man sich selbstverständlich mit amerikanischem Akzent ausgesprochen denken, wie Brad Pitt in Inglorious Basterds.
Dies liegt leider nicht nur daran, dass die Menschen immer älter würden, was nebenbei ein Trend ist, der sich in den USA bereits umgekehrt hat und auch in Europa dabei ist — sondern auch junge Menschen sind immer mehr betroffen, wie auch die ständigen diesbezüglichen Schlagzeilen anzeigen, heute (7.2.) z.B. auf tagesschau.de: (1) Warum immer mehr junge Menschen Kopfschmerzen haben (2) Ungewöhnlich viele Schulkinder in Deutschland krank — Die Vermutung liegt nahe, dass wir es mit einer allgemeiner Schwächung des Immunsystems zu tun haben, zu der sicherlich viele Faktoren beitragen, von denen manche ganz klar sind (Schlechte Ernährung, Mangel an Bewegung und frischer Luft), andere umstritten (psychische Faktoren, Strahlungsbelastung, GMO, Mikroplastik, etc.; nur müsste über diese Faktoren dann auch öffentlich und wissenschaftlich gestritten werden ohne Denkverbote).
Dies ist natürlich bereits eine paradoxe Formulierung, denn wenn der Prozess krankmachend und nicht heilsam ist, dann ist es eben kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt — allerdings lässt sich diese Paradoxie noch auf der begrifflichen Ebene auflösen durch Präzisierung. Techn(olog)isch handelt es sich um Fortschritt, heilkundlich — insofern Illich recht hat — nicht.
Ich hoffe sehr, dazu in der Zukunft aber —insofern es mir zielführend erscheint — ausführlich zu kommen, ob in einem Artikel oder in besagtem Romanprojekt (siehe Fußnote 3) sei dahingestellt.
Der Begriff iatrogen setzt sich aus dem altgriechischen Wort für Arzt (iatros) und für Entstehung (genesis) zusammen - also wörtlich “vom Arzt erzeugt”, ergänzt durch das stille “Schaden” oder “Krankheit”. So schreibt Illich: “Der größte Teil der heutigen klinischen Behandlung ist für die Heilung von Krankheit nebensächlich, doch der Schaden, den die Medizin der Gesundheit von Individuen und Bevölkerungen zufügt, ist ganz erheblich. Diese Tatsachen liegen auf der Hand; sie sind zuverlässig dokumentiert und werden zuverlässig unterschlagen.” (18) Beispiele wären unsinnige Operationen, die zu Komplikationen führen können, unsinnige Gabe von Antibiotika (die bei viralen Infekten wirkungslos sind), die nicht nur die Darmflora des Patienten zerschießen, sondern außerdem zur Bildung (multi-)resistenter Keime geführt hat, und zunehmend unsinnige Vorsorgeuntersuchungen (womit nicht gesagt sein soll, dass alle Vorsorgeuntersuchungen unsinnig seien), z.B. unnötige Ultraschalluntersuchungen von Föten im Mutterleib (womit nicht gesagt sein soll, alle Ultraschalluntersuchungen seien überflüssig).
“Damit die Menschen körperlichen Schmerz als persönliche Erfahrung erleben können, bietet jede Kultur wenigstens vier untereinander zusammenhängende Subprogramme: Wörter, Drogen, Mythen und Vorbilder. Die Kultur gibt dem Schmerz die Form einer Frage, die in Worten, Schreien und Gesten Ausdruck finden kann” (S. 103).
Dies zeigte sich beeindruckend (im negativen Sinne) in der Corona-Zeit, wo noch hinzu kam, dass sie auch die Kontrolle darüber verloren hatten, wie sie beerdigt werden wollten. Illich führt zum Tod aus: “Heute ist es der Kranke im kritischen Stadium, der am besten dagegen geschützt ist, selbst die Umstände seines Sterbens zu bestimmen. Die Gesellschaft, vertreten durch das Medizin-System, entscheidet, wann und nach welchen Demütigungen und Verstümmelungen er sterben darf. Die Medikalisierung der Gesellschaft hat die Epoche des natürlichen Todes ihrem Ende zugeführt. Der westliche Mensch hat das Recht verloren, beim letzten Akt selbst Regie zu führen. Gesundheit, die autonome Kraft der Lebensbewältigung, ist bis zum letzten Atemzug enteignet. Der technische Tod hat den Sieg über das Sterben davongetragen. Der mechanisierte Tod hat alle anderen Todesarten besiegt und vernichtet.” (S. 149)
Haben wir — also ich — diesmal mit den Fußnoten übertrieben? Schreibt es mir gerne, ob ihr euch mehr und längere oder weniger und kürzere Fußnoten wünscht. (Von den 5000 Wörtern dieses Artikels entfallen ca. 2000 auf den Haupttext, 3000 auf die Fußnoten — dadurch wird der Haupttext schneller rezipierbar, wenn man die Fußnoten einfach weglässt, was man aber nicht tun sollte.)