Wären wir Bäume...
Auf der Suche nach Pessoa: Einsamkeit, die Trauer werden würde, wenn sie nur wüsste, wie…
Heute suchte ich ein Zitat des portugiesischen Dichters Fernando Pessoa aus einer seiner Oden. Ich fand es nicht. Das einzige, was ich fand, war dieser kurze Text, der Teil eines größeren Romanprojekts ist, aber auch als selbstständige Kurzgeschichte gelesen werden kann. Oder als hochgradig stilisierter autobiographischer Bericht. Wer weiß? :) So oder so imitiere ich dabei Roberto Bolaño. Und so oder so teile ich ihn gerne mit euch.

Als ich 22 Jahre alt war, ertrank mein bester Freund, in den ich auch ein wenig verliebt gewesen war. Er ertrank in der Irischen See bei Baltimore. Etwas mehr als ein Jahr später wurde Amoreira in Portugal fast zu meinem Baltimore.
Irgendwann in der Zeit dazwischen war ich betrunken auf einer Party in einem Verbindungshaus, direkt am nördlichen Neckarufer. Den Namen der Verbindung habe ich vergessen. Die Gruppe, mit der ich zur Party erschienen war, hatte im Neuenheimer Feld vorgeglüht, dann waren wir, bereits betrunken, Lieder von Tom Waits und Bob Dylan singend oder schreiend oder lallend, durch die bereits warmen April-Straßen Neuenheims bis zur alten Brücke und noch weiter gezogen.
Auf der Party dann hatte ich irgendwie die Orientierung verloren, sowohl räumlich als auch zeitlich. Als ich gehen wollte, merkte ich zweierlei: Erstens waren alle meine Freunde schon weg, was noch erträglich gewesen wäre, aber zweitens musste ich feststellen, dass mein Mantel geklaut worden war.
Ich war sauer, aber auch traurig, denn ich hatte zuvor schon den Schal verloren, meinen bunten Schal, den mein Freund, Kerr, der gestorben war, so schön gefunden hatte und Kerr und ich waren, als wir uns kennen lernten, Arm in Arm durch die windigen kalten Winter-Straßen der Altstadt gezogen, und er hatte meinen Schal und meinen Mantel gelobt und mir gesagt, ich sei der attraktivste Mann, den er je getroffen habe.
Und nun waren alle drei weg, zuerst Kerr, dann der Schal – und schließlich nun der Mantel und ich war traurig, aber auch sauer und ich klaute eine Zigarettenschachtel aus einer Handtasche, die da rumstand und dann traf ich Amy, die noch nicht gegangen war, die ach so starke, anziehende Amy, die immer einen Freund hatte, der nie da war, die grüne Hosen trug und dunkle Lederstiefel und die aus den USA kam, und wir tanzten und rauchten auf dem Balkon und es lief Sexy Bitch von Akon und sie lachte über den Inhalt dieses Liedes und erklärte mir, worum es ging und ich lachte und dann fragte sie, ob ich im Neckar schwimmen gehen wolle und ich sagte ja oder nickte oder vielleicht nahm ich ihre Hand und nahm die Zigaretten mit und zwei Flaschen Bier und wir verließen die Party und rannten zum Ufer des Neckar und sie zog sich schnell aus und stand da im Mondschein, den ich wahrscheinlich in der Erinnerung mit dem Schein der Straßenlaternen verwechsle und sah so weiß und schön aus, und ich zog mich ebenfalls aus und wir sprangen ins kühle Wasser und zum ersten Mal seit Wochen fühlte ich, dass ich lebte, fühlte die Kälte und eine archaische Freude in mir aufsteigen, mein Penis und meine Eier wurden winzig, als wollten sie in den Körper zurückkehren und wir schwammen vielleicht fünf Minuten, vielleicht länger in der Dunkelheit und schrien vergnügt und waren uns keiner Gefahr bewusst.
Dann stiegen wir aus den Wassern und trockneten uns ab und umarmten uns noch nackt und rauchten eine Zigarette und tranken das Bier und dann küsste ich sie und wir schauten uns in die Augen und ich sagte, wie schade es sei, dass sie einen Freund habe und sie sagte ja oder nickte oder gab mir irgendwie anders zu verstehen, dass auch sie es schade fand, aber dass es nun einmal so sei. Und dann zogen wir uns an und jeder fuhr zu sich nach Hause, wo angekommen ich aber nicht schlafen konnte und noch die ganze Packung aufrauchte und von wildem Sex mit Amy fantasierte.
Und später, Monate später, lud sie mich zu Thanks Giving zu sich ein und dort lernte ich auch ihren Freund kennen, der ein netter, aber schweigsamer Kerl war, den sie später auch geheiratet hat, und eine Freundin, Isabel, Chilenin, mit glatten schwarzen Haaren, die sie auf der linken Seite geflochten hatte, und sie leuchtete, sie habe gerade mit ihrem Schwarm geflirtet, erzählte sie uns, auf dem Weihnachtsmarkt, und sie sah wunderschön aus, weil sie so glücklich war und ich verliebte mich natürlich sofort in sie, sie war in einen anderen verliebt, wie hätte ich da widerstehen können, und nachdem wir einiges getrunken und den Truthahn verputzt hatten, den Amy ganz amerikanisch zubereitet hatte, brachen Isabel und ich gemeinsam auf, um den letzten Bus, der noch fuhr, zu nehmen und ich beobachtete fasziniert, wie sie, klein und schmächtig, sich in so dicke Jacken hüllte, dass sie überhaupt nicht mehr zierlich wirkte, sondern fast pummelig, denn es war bitterkalt in dieser Nacht, und im Bus bot sie mir an, wobei sie nachdenklich und engelhaft aussah, ich könne auch bei ihr übernachten, da der Bus nicht mehr zu mir nach Hause fuhr und es viel zu kalt sei, um nach Hause zu laufen, was ich dankbar annahm, sodass ich bei ihr angekommen beobachten konnte, wie sie sich aus den diversen Jacken wieder herausschälte, Wasser aufsetzte, Tee für uns kochte, mit einem Mal sehr müde aussah, was mich merken ließ, dass ich mich ebenfalls sehr müde fühlte, und mir während wir den Tee tranken chilenische Gedichte vorlas, die ich nicht verstand, was ich aber nicht zu erkennen gab, während ich langsam wieder nüchtern und traurig wurde und anfing zu weinen, was sie sofort merkte, aufsprang und mich von hinten umarmte, ihren Kopf auf meinen Scheitel legte und etwas flüsterte, das ich aber nicht verstand, und so verharrten wir eine Weile, dann hörte ich auf zu weinen und wir gingen schlafen, sie hatte ein winziges Zimmer und ein Einzelbett, aber ich versuchte nicht einmal, sie zu küssen. Am nächsten Morgen fand ich ein Buch von Jack Kerouac auf ihrem Nachttisch, aber es war zu spät.
Noch einmal später trafen Amy und Isabel und ich uns, auf mein Bestreben hin, denn ich hatte sie zufällig getroffen und zu mir eingeladen und sie hatten freudig zugesagt und versprochen Wein und Gedichte mitzubringen und ich hatte versprochen, für sie zu kochen, was ich dann auch tat, es gab Lasagne und ich glaube, es schmeckte ihnen sehr, was aber vielleicht auch daran gelegen haben könnte, dass wir schon ziemlich betrunken waren, als wir uns zum Essen hinsetzten.
Später lasen wir uns Gedichte vor, teils eigene, teils von anderen, unsere Lieblingsgedichte eben, und ich las Gedichte von Leonard Cohen und Amy las Gedichte von e.e. cummings und von Walt Whitman und Isabel las irgendwelche mir völlig unbekannten chilenischen oder spanischen Autoren und übersetzte die Gedichte aus dem Spanischen ins Englische für mich und dann las ich Manifesto von Allen Ginsberg und Amy las sein America und ahmte dabei seine Art zu sprechen nach und wir lachten über die Zeile I‘m obsessed by Time Magazine, und ich las sein Sad Dust Glories, das beste, melancholischste Gedicht, das ich kenne, und wir redeten über Ginsbergs Mutter oder seine Beziehung zu seiner Mutter, die verrückt geworden und dann auch ziemlich früh gestorben war, oder über die Bedeutung seiner Mutter für seine Poesie und Isabel schwieg dazu wahrscheinlich die meiste Zeit und hatte keine Ahnung, wer Ginsberg überhaupt war, und dann lasen wir jeder eigene Gedichte, ich las THE SKY ABOVE MY FLAT, in dem ich in Anspielung auf Pessoa von Einsamkeit sprach, die Trauer werden würde, wenn sie nur wüsste, wie, und Isabel las ein Gedicht, dessen Titel ins Englische übersetzt lautete If we were trees, Wären wir Bäume, und ich lauschte ihr gebannt und wollte so gerne mit ihr schlafen, was aber nicht geschah, denn sie nahmen gemeinsam den letzten Bus zurück in die Altstadt, nachdem wir im Schnee gelegen und Engel gemacht hatten, im Feld vor der Georg-Mendel-Schule.
Ich blieb allein zurück und rauchte noch eine Zigarette, so wie ich es später tun würde, immer nachdem P gegangen war, und trank, leichte Magenschmerzen ignorierend, den letzten Rotwein und ließ alles so stehen und liegen wie es war und schlief auf dem Sofa ein, das Fenster war noch offen, und am nächsten Tag erwachte ich mit Halsschmerzen.
Aber das Gedicht, If we were trees, ließ mich nicht mehr los. Ich bat Isabel um eine Kopie, aber ich erhielt sie nie, denn sie meldete sich nicht mehr bei mir und antworte mir erst zwei Jahre später auf irgendeine Facebook-Nachricht, die ich ihr geschrieben hatte, in der ich sie um ein Treffen bat, sie würde sich gerne mit mir treffen, auch wenn meine Nachricht schon ein Jahr alt sei und ich schrieb ihr zurück, dass meine Nachricht bereits zwei Jahre alt sei, ach Isabel, schrieb ich, das ist schon zwei Jahre her, dass wir uns aber gerne treffen könnten und danach meldete sie sich wieder nicht und so verging die Zeit, ohne dass wir uns gesehen hätten.
Aber das Gedicht, das lies mich nicht in Ruhe. Ich träumte davon. Ich weinte manchmal, wenn ich daran dachte. Wären wir Bäume, dann wüchsen wir, du und ich, Isabel, ineinander verschlungen, irgendwo im Araukanischen Wald, den Neruda am Anfang von Ich bekenne, ich habe gelebt beschwört. Heute kann ich darüber schmunzeln, doch als es geschah, war es einfach nur traurig und auch ich war einfach nur traurig, und nichts Anderes dazu.
Einsamkeit, die Trauer werden würde, wenn sie nur wüsste, wie…
Ach, Isabel, du fehlst mir manchmal. Egal, wie viele Frauen danach kamen (und es waren nicht viele, aber sicherlich genug), egal wie glücklich ich geworden bin, heute, manchmal, egal wie selten ich an dich denke – wenn es geschieht, dann fehlst du mir und ich frage mich, hätten wir nicht im gleichen Wald gestanden, wären wir nicht nebeneinander groß geworden, wenn wir Bäume wären? Haben wir nicht beide eine Baum-Seele?


Ich mag ja deine melancholischen Texte. Diesen mag ich auch. Natürlich auch aufgrund der, von Daniela angesprochenen, wunderbar langen Sätze. Das geht uns tatsächlich verloren. Conrad, der Retter des komplexen Satzbaus.
Nun, Melancholie. Ja, habe ich auch einen Hang zu.
Bei dieser illustren Poesie-Runde wäre ich auch gerne dabei gewesen. Schön, wenn man Leute findet, mit denen man sowas teilen kann.
Dabei frage ich mich, mein Guter, war es wirklich Isabel, die es dir angetan hatte oder war es vielleicht doch ihr Gedicht? Ich kenne wohl den Effekt, dass man sich zu jemandem hingezogen fühlt aufgrund des geschriebenen Wortes.
Vielleicht gibt es ja einen Begriff dafür. Etwas wie Sapiosexuell, nur mit worten. „lexophil“ gibts oder„Lyrosexuell“ - das würde wunderbar zu deiner Story passen.
Ich helfe immer gerne! ;)
Bruda, warum hat P keinen Namen verpasst bekommen?! Was hat das zu bedeuten? P wie Proposition? P wie Prostituierte? P wie Pimmel Arsch und Zwirn?