für Maximilian Karl Ludwig
Even in Kyoto—
hearing the cuckoo's cry—
I long for Kyoto.
(松尾 芭蕉
(Matsuo Bashō))
Es gibt Länder, die ziehen einen magisch an. Warum, weiß man nicht. Als Jugendlicher interessierte ich mich für Gegenden, in denen es kalt ist: Alaska, Grönland und Sibirien. Ich weiß nicht, ob das ein Zufall war. Zu Alaska inspirierte mich der Song von John Denver Alaska and me; zu Grönland ein Buch, das ich geschenkt bekam und las, Ein Schiff nach Grönland, in dem die Protagonistin irgendwann schneeblind wird, was mich faszinierte. Wie es mit Sibirien war, woher ich überhaupt wusste, dass es Sibirien gab, weiß ich nicht mehr.
Später, als ich dann auch anfing, mich für Geschichte zu interessieren, war es vor allem der Klang der Namen, die mich ansprachen. (Was, nebenbei bemerkt, auch dafür verantwortlich war, dass ich mich für Philosophie zu interessieren begann, es war so ein schönes und geheimnisvolles Wort!) Im Nahen Osten gab es vor allem zwei Länder, deren Namen mich anzogen, vor allem in der englischen Schreibweise: Syria und Lebanon. Auch Damaskus war ein faszinierendes Wort, so wie Alexandria und Jerusalem, Beirut und Athen; ganz anders als Rom, Paris, oder London, die als Städte wohl anziehend sein mögen, die Namen hingegen sind läppsch. (Von Berlin, Köln, und München will ich gar nicht anfangen.)
I.
In Damaskus, der Hauptstadt Syriens, ist Erzähler der Nacht angesiedelt, und von dort stammt auch sein Erzähler, Rafik Schami. Dieser, 1946 geboren, wanderte 1970/71 wegen der Zensur und dem drohenden Militärdienst über den Libanon nach Deutschland aus - ein Glücksfall für Deutschland. Die Jahreszahlen bedeuten, dass Schami im Jahr der Gründung Syriens als Republik geboren wurde und es verließ, als Hafiz al-Assad die Führung übernahm. Dazwischen liegen mehrere Kriege (mit Israel) und Putsche, also eine äußerst turbulente Zeit.
Erzähler der Nacht spielt im August bis November 1959, mit einem Nachklapp im März 1963, und gibt sich als autobiographischer Bericht aus Schamis Kindheit und Jugend, als er sich mit dem Kutscher und Märchenerzähler Salim anfreundete und von ihm wohl auch das Fabulieren erlernte. Damit fällt das Geschehen in die Zeit des (scheiternden) Experiments der Vereinigten Arabischen Republik, einem Zusammenschluss Ägyptens und Syriens zu einem Staat, der 1963 unter Hinzunahme des Irak erneut versucht wurde und scheiterte.
Den politischen Hintergrund erwähnt der Erzähler auch immer wieder am Rande, ohne dass es aufdringlich würde - ganz anders als in Schamis späterem Werk Die geheime Mission des Kardinals, bei dem Schamis (obschon nachvollziehbare) Abneigung dem Regime gegenüber sein erzählerisches Geschick limitiert. So ist im Frühling 1963 die Schule wegen des Putsches geschlossen. Und im August 1959 läuft eine dreistündige Rede des ägyptischen Präsidenten Nasser »gegen das irakische Regime, das von heute auf morgen von einem Busenfreund zu einem Erzfeind wurde«. Und ein Freund Salims, selbst ein ehemaliger Politiker kommentiert: »Die Präsidenten reden immer länger, und die Leute werden immer schweigsamer.« Auch die Übergriffigkeit des Staates blitzt verschiedentlich auf, so wie eine sich anbahnende Cholera-Epidemie. Aber dies ist nur der politisch-gesellschaftliche Hintergrund eines Damaskus, in dem ansonsten viel Schönheit zu finden ist.
II.
Die Rahmenhandlung des Buches ist schnell erzählt. Ein begnadeter Geschichtenerzähler, hauptberuflich Kutscher, verliert im fortgeschrittenen Alter plötzlich seine Stimme. Es wird berichtet, dass seine Märchenfee ihn verlässt, weil sie zu alt geworden ist und sich zur Ruhe setzt. Sie habe aber ein gutes Wort für ihn eingelegt und einen Kompromiss mit dem Feenkönig erzielt: Wenn er innerhalb von drei Monaten »sieben einmalige Geschenke« erhielte, so würde ihm eine neue Fee zugeteilt und er würde seine Stimme und seine Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, zurückerlangen.
Salim darf noch 21 Wörter sprechen und es gelingt ihm, seinen sieben Freunden mit diesen wenigen Wörtern die Lage mitzuteilen. (Schami verrät aber nicht, wie er das hinbekommt.) Seine sieben Freunde, alle um die 70 wie er selbst, versammeln sich allabendlich bei ihm, um sich Geschichten erzählen zu lassen. Nun rätseln sie herum, was die sieben einmaligen Geschenke sein könnten. Nach ein paar naiven Fehlversuchen kommen sie darauf, dass jeder von ihnen eine Geschichte erzählen muss, und als die sieben Geschichten erzählt sind, kann Salim wieder sprechen.
III.
Das Buch erzählt aber nicht sieben Geschichten plus die Rahmenhandlung, sondern eher an die 50 Geschichten (auf ca. 275 Seiten), denn zu jedem Erzähler wird auch rasch seine eigene Lebensgeschichte mitgeliefert, dazu mehrere Geschichten von Salim selbst, und die ein oder andere kurze Anekdote aus dem Munde verschiedenster Figuren: jedes Gespräch bietet die Gelegenheit, so scheint es, für eine gute, amüsante oder lehrreiche Geschichte. Auf die Spitze treibt es Isam, der unschuldig viele Jahre im Gefängnis gesessen hat, und seine Geschichte ständig durch andere Geschichten unterbricht. Aber auch Salim selbst neigt dazu, seine Geschichten so zu verschachteln, dass »du selber nicht mehr wusstest, in welcher Geschichte du dich befandest«, wie ihm seine Fee vorwirft.
Die Geschichten haben auch kein einheitliches Thema, oder Muster, oder Genre. In allen geht es irgendwie um Menschenschicksale, wie auch nicht, aber manche tendieren ins Übernatürliche, andere bleiben ganz realistisch, manche sind hoch pathetisch, andere trivial oder witzig, manche eher Allegorien, andere Schwenke aus dem wahren Leben. Man hat das Gefühl auf einem arabischen Basar zu sein. Man hat das Gefühl, dass Schami, wenn er das Buch noch einmal schreiben würde, ganz andere Geschichten erzählen würde, oder die selben so stark modifiziert, dass man sie vielleicht nicht einmal wieder erkennen würde. Die orale Tradition, in der es möglich ist, frei zu variieren, lebt stark in diesem niedergeschriebenen Werk.
Das Buch hat aber dennoch eine hochkomponierte Struktur, sodass man sich nicht verloren fühlt. Nur dass es keine richtige Hierarchie der Wichtigkeit der einzelnen Sätze, Seiten, Kapitel gibt. Man kann selbst entscheiden, was einem gefällt, was man vielleicht noch einmal lesen möchte, oder noch viele Male, und was man dem baldigen Vergessen anheim stellt. Nachdem die ersten vier Kapitel der Exposition der Rahmenhandlung gewidmet sind, werden in den Kapiteln 5, 7-11, und 13 die sieben Geschichten von Salims sieben Freunden abgehandelt, und abschließend folgt mit Kapitel 14 eine Art Epilog. Die eingeschobenen Kapitel 6 und 12 sind anders, und sie sind mir beim Lesen auch besonders aufgefallen und haben Fragen aufgeworfen.
IV.
»Jede Straße hat ihr Gesicht, ihren Geruch und ihre Stimme.«
Die Gasse, in der Salim wohnt, riecht das ganze Jahr über nach Anis, denn dort befindet sich ein Anis-Lager, das zwei reichen und geizigen Brüdern gehört. Diese, so erfährt man, sollen einmal verliebt gewesen sein, in zwei Schwestern, sich von ihnen aber wieder getrennt haben, nachdem die eine vorgeschlagen hätte, doch einmal einen Bummel zu machen und ein Eis essen zu gehen. »Verschwenderinnen«, denen man in letzter Sekunde entkommen war.
Die Gemüsehändler wüssten, dass sie bei den beiden Millionären nicht anhalten dürften, denn sonst würden diese ihr Gemüse probieren, ohne etwas zu kaufen, und in ihrem Geiz versuchen, sich kostenlos satt zu essen: »Sie scheuten sich auch nicht, ungewaschenen Blumenkohl, Salatblätter und Karotten zu verdrücken.« Dann wird noch der alte Mann beschrieben, der den Anis jeden Tag sieben und abwiegen kommt, und dann geht es weiter mit der nächsten Straße, wo der Obsthändler Karim das am besten duftende Obst der Stadt anbietet. Hier trifft Salim auch den Schuhputzer Hassan, eigentlich ein Ziegenhändler, dessen Ziegen aber aus hygienischen Gründen von der Regierung beschlagnahmt worden waren, und der seitdem alle möglichen Dienste ausführt, und darauf wartet, dass seine Ziegen ausbrechen und zu ihm zurückkehren werden.
Es folgt die Kupferschmiede, wo Salim auf einen Mokka eingeladen wird. Eine Beinahe-Brand-Katastrophe wird geschildert, die mögliche Cholera-Epidemie wird angedeutet, dann will Salim einen Kupferteller kaufen, der Schmied will ihn ihm schenken, worauf Salim die Augenbrauen hebt, um Nein zu sagen.
»Man erzählt, dass nur die Damaszener diese besondere Faulheit fertigbringen, nein zu sagen, ohne ihren Kopf zu bewegen. Die tüchtigsten unter den Arabern sagen: ›Nein.‹ Die etwas Bequemeren heben den Kopf und schnalzen mit der Zunge. Die faulsten aller Damaszener heben lautlos nur die Augenbrauen. Salim blieb sein ganzes Leben lang dabei.« (S. 92)
Und schon assoziiert der Schmied mit diesem Augenbrauen-Heben eine amüsante Anekdote aus dem Viertel, die er Salim auf den nächsten drei-ein-halb Seiten erzählt, über einen Engländer, der seine schöne Frau einschloss, aus Angst sie würde ihm abhauen. Dann musste er aber zu einer Ausgrabung in Palmyra, aber seine Frau konnte er nicht mitnehmen, weil über das einzig akzeptable Hotel dort eine düstere Geschichte erzählt wird, der zufolge die Besitzerin des Hotels ihren Mann habe umbringen lassen, vielleicht sei er aber auch ein Geheimagent gewesen, und deshalb ermordet worden, oder aber, was der Engländer glaubt, die Beduinen haben ihn wegen der Schönheit seiner Frau ermordet. Also hat der Engländer Angst, dort auch ermordet zu werden, wenn er mit seiner schönen Frau dort absteigt. Er lässt sie daher in Damaskus zurück und die Nachbarinnen befreien sie:
»Sie nahmen die Frau in ihre Mitte und zupften ihr die Härchen an den Beinen aus, wie das unsere Frauen eben so machen. Dann feierten sie mit der Engländerin. Sie brachten ihr nicht nur den orientalischen Tanz bei, sondern sie erzählten ihr auch, wie sie mit ihrer List die Männer reinlegen. Onkel, was in diesen Kreisen über uns Männer erzählt wird, lässt einem die Haare grau werden! (S. 95)
Der Engländer kommt zurück, findet seine Frau verändert vor, fragt, ob sie mit den Arabern gesprochen habe, aber sie hebt nur die Augenbrauen. Har, har…
Und dann verhandeln der Schmied und Salim über den Preis für den Teller, den jener ihm schenken wollte, und den dieser kaufen will, aber nur für einen guten Preis. Jener fordert 20 Liras, dieser bietet 10, schließlich einigen sie sich auf 12.
Und weiter geht es zum Gewürzmarkt, wo Salim einen weiteren Kaffee zu sich nimmt. Der Besitzer und der einzige andere Gast hatten gerade über das Gefängnis für »Politische« gesprochen, aber das Gespräch verstummt. Salim beobachtet den Verkehr draußen und wird Zeuge, wie ein Fuhrmann erbarmungslos sein Pferd peitscht (und wir denken an eine sehr ähnliche, aber deutlich längere und düsterere, Szene in Dostojewskis Verbrechen und Strafe und an eine ähnliche Anekdote über Nietzsche) -, dann geht er weiter und riecht die Gewürze, Kreuzkümmel, Kardamom, Koriander, Thymian »aus den Bergen Syriens«, Zimt - »Nur die Safranblüten verließen sich stumm auf die Verlockung ihrer leuchtend-gelben Farbe.« Was Salim zur Reflexion bringt, Lügen und Gewürze seien Geschwister.
Am Dampfbad gibt es ein Gedränge von Soldaten, die sich spaßvoll ausleben. Salim bemerkt, dass er Hunger hat und kauft sich drei Kebabspieße mit »viel frischer Petersilie«, die er im Laden jedoch nicht genießen kann, weil ihn dort gekochte Hammelköpfe angrinsen; also verlässt er den Laden, isst die Spieße unterwegs (»Sie schmecken ihm aber nicht mehr.«), kommt über den Goldschmiedemarkt zur Moschee, wo er sich ausruht und nachdenkt, worüber er einschläft, und von seiner verstorbenen Frau träumt, die ihm erzählt, dass sie zehn Jahre ihres Lebens geopfert hat, um sie ihm zu überschreiben, denn ohne ihn hätte sie sich gelangweilt, und was habe er da für ein schönes Tablett? Salim wacht auf, das Tablett (der Kupferteller, den er eben für 12 Liras erstanden hat) ist weg. Er verdächtigt debattierende Gelehrte des Diebstahls, Jugendliche, Moscheediener, aber dann stellt sich heraus, dass er den Teller im Café hat liegen lassen, wo er seinen zweiten Kaffee trank. Er gibt dem Jungen eine Lira, einen Wochenlohn für einen Laufburschen.
»Salim eilte nach Hause, den alten Basar hinter sich lassend, und als er am späten Nachmittag die Tür seines Zimmers öffnete, hörte er die Altstadt nur noch als fernes Raunen, das geschwätzig, bunt und dauerhaft verwoben war wie ein orientalischer Teppich.« (S. 105)
V.
Was für eine Tour de force! Man weiß nicht mehr, wie viele Geschichten und Geschichtchen man da gerade gelesen hat auf 23 Seiten. Was ist überhaupt passiert? Hatte Salim einen vollkommen absichtslosen Bummel durch die Stadt gemacht, und dabei zufällig einen Kupferteller erstanden? Oder war das der Grund seines Ausflugs gewesen? Und welche Funktion hat das Kapitel für das Buch?
Vielleicht ist eine Funktion, uns Damaskus näher zu bringen, mit seinen Geräuschen, Gerüchen, und Sehenswürdigkeiten. Vielleicht sollen wir darüber hinaus nicht vergessen, wer Salim ist, und dass Salim der Held der Geschichte ist. Und sieben Kapitel in Folge, in denen es sich nicht um ihn dreht, wären vielleicht zu viel?
Vielleicht gefiel es Schami aber auch einfach, sozusagen aus dem Nähkästchen zu plaudern, und einen virtuellen Spaziergang durch seine alte Heimat zu machen. James Joyce hat geprahlt, man könne anhand seines Ulysses Dublin neu aufbauen, sollte es einmal zerstört werden. Vielleicht wollte Schami zumindest so etwas wie die Essenz, das Wesentliche von Damaskus in Worte fassen (wie einen Diamant in den Ring) und es so unsterblich machen.
»Selbst in Kyoto«, schreibt Bashō, frei übersetzt, »beim Ruf des Kuckucks / sehne ich mich nach Kyoto.«
VI.
Und dann - während ich diesen Text im Dezember 2024 schrieb - ging mir das Buch verloren und ich konnte daran nicht weiter arbeiten. Ich nahm an, die Kinder hätten es zum Spielen irgendwohin entführt, und wie das so laufen kann, sei es dabei in eine andere Dimension entschwunden. Schließlich fand ich es im Keller unter einem Bücherschrank liegend. Ich legte es auf meinen Schreibtisch, an dem ich nie sitze, und arbeitete weiter an anderen Dingen.
Mitte Januar kam schließlich das Gefühl in mir auf, ich sollte diesen Text einmal gründlich beenden, auch wenn er jetzt ganz anders wird, als er vor einem Monat geworden wäre.
Syriens Zukunft sieht nach wie vor äußerst düster aus.
VII.
»Es war nach Mitternacht, als die Gäste nach Hause gingen. Salim aber war hellwach.«
Salim denkt über die letztgehörte Geschichte nach, befindet, der »Minister« habe sie schlecht erzählt, habe sie zerredet, er könne sich nicht einmal an die Mitte der Geschichte erinnern, ob er wohl eingeschlafen sei? Man müsse »ohne jede Rücksicht über Leute erzählen, die nicht zuhören wollen, obwohl sie doch zwei Ohren mit auf den Lebensweg bekommen haben.« Salim denkt nach über das Erzählen, über die exotischen Länder, in denen die Geschichten spielen. Plötzlich bringt das nächtliche Geräusch einer zu Boden krachenden Waschschüssel ihm die Erinnerung an eine Geschichte, »die er sich vor mehr als fünfzig Jahren ausgedacht hatte.« Und die Geschichte erzählt sich ihm.
(Und wir denken nebenbei an Marcel aus Prousts À la recherche du temps perdu, das wir nicht, über das wir aber immer wieder gelesen haben; und wie der Geschmack einer Madeleine, die ihm nicht unbedingt gut schmeckt, ihm auch einen vergangenen Moment so gegenwärtig werden lässt, dass er endlich beginnen kann, seine Geschichte zu schreiben; oder so ähnlich, denn wir berichten nur vom Hörensagen, und wir werden definitiv keine Zeit finden, Proust zu lesen. Oder vielleicht doch, eines Tages, wenn wir alt sind, und ihn dann auf Französisch lesen können, falls unser Französisch jemals so gut wird…)
VIII.
Salims vergessene und wiedergefundene Geschichte handelt von einem König, der nicht zuhören konnte. Er fällt seine Urteile nach Lust und Laune, und ist somit äußerst ungerecht. Sein Hofnarr erzählt ihm eine Geschichte aus der Zeit, »noch lange bevor der Mensch die Erde betrat«, im »Land der Dämonen«, ein solcher Dämon, der ebenfalls nicht zuhören konnte, worunter vor allem seine Frau zu leiden hatte, die er auch schlug. Sie verwünscht ihn eines Tages, dass er zwei Münder und ein Ohr haben soll, und der zufällig vorbeikommende Dämonengott erfüllt ihr diesen Wunsch. Darüber freut sich der Dämon anfangs sehr, denn nun muss er gar nicht mehr aufhören zu reden, selbst beim Essen und Trinken kann ein Mund weiterplappern. Zuhören tut er gar nicht mehr.
»Der Dämon hörte immer öfter nur noch seine zwei Stimmen, und irgendwann wuchsen seine Worte zu einer unsichtbaren Mauer, die ihn von seinen Freunden und Feinden trennte. Alle Dämonen mieden ihn, als wäre er die Pest. Niemand achtete mehr auf seine Worte. Nicht einmal seine Frau wollte sie hören. Worte sind empfindliche Zauberblumen, die erst im Ohr eines anderen ihren Nährboden finden. Seine Worte aber fanden kein Gehör mehr und verwelkten, sobald sie seine Lippen verließen.« (S. 240f.)
Dies wird dem Dämon auch nach und nach bewusst, und er übt Buße, indem er schweigt und versucht, mit seinem einen winzigen Ohr zuzuhören. Nach 1000 Jahren endlich gewährt ihm der Dämonengott eine Audienz. Er sei bereit, ihm seinen zweiten Mund durch ein zweites Ohr zu ersetzen, aber dafür müsse der Dämon alles, was er höre, egal ob von Dämon, Mensch, oder Tier, wiederholen. Und so entstand das Echo.
Salim ist traurig, weil er die Geschichte, nackt wie sie ist, niemandem erzählen, und sie somit in schmucke Worte kleiden kann. Er beobachtet den Tanz der Flammen mit dem Holz im Ofen, und schläft darüber ein. Er erwacht erst mittags.
»Salim wunderte sich, dass er die ganze Nacht auf dem Stuhl vor dem Ofen verbracht hatte. Er wusste aber nicht mehr, ob er seine Geschichte gedacht oder nur geträumt hatte.« (S. 243)
IX.
Wer gut herrschen will, muss zuhören können. Oder: Wer gerecht sein will, muss zuhören können. Oder: Zuhören können ist wichtiger aber auch schwerer, als reden können. Wer reden kann, kann verführen. Wer zuhören kann, kann befreien. (Was uns an Michael Endes Momo denken lassen kann. Momo ist das Kind, das zuhören kann wie kein anderer, und darum kommen die Menschen zu ihr, und darum ist sie auch immun gegen die Grauen Herren, die den Menschen die Zeit stehlen. Und darum überwindet sie schließlich diese Grauen Fiesen.)
Und Worte sind tatsächlich Zauberblumen, da hat Rafik Schami wirklich ein schönes Bild für gefunden. Es ist wirklich rätselhaft, dass sie etwas bedeuten können, und nicht nur etwas, sondern sehr viel.
»Wer Ohren hat zu hören, der höre.«
(Markus 4,23)
X.
Was Salim in den Augen seiner Mitmenschen über sie hinaushebt, ist aber gar nicht, dass er schöne Geschichten erzählen kann, sondern dass er verletzte Schwalben heilt.
»Wir Kinder brachten die Schwalben zu ihm, und wirklich nur zu ihm, und Kutscher Salim ließ alles liegen, nahm den zitternden Vogel in seine große Hand und ging auf die Terrasse. Was er der Schwalbe dort zuflüsterte und warum er sie küsste, war sein Geheimnis. Keiner konnte es ihm nachmachen. Er gab dem Himmel seinen besten Akrobaten zurück.« (S. 17)
Die Erwachsenen, die ja oft törichter sind als die Kinder, vermuten, dass es ein großer Schwindel sei, oder aber, dass Salim gesegnete Hände habe, oder ein Zauberer sei, wobei ein Zauberer ja ein Schwindler ist.
Auf den letzten Seiten des Buches heilt Salim mal wieder eine Taube. Er gebe sie dem Himmel zurück, ruft er. Dann flüstert ihr etwas zu, küsst sie, wirft sie in den Himmel, und sie fliegt.
Ich habe viel über dieses Bild nachgedacht, mir ist aber trotzdem nicht klargeworden, was es wohl bedeuten mag. Mir scheint, dass Salims Fähigkeit, Schwalben zu heilen, und seine Fähigkeit, lebendige Geschichten zu erzählen, der gleichen Quelle entspringen. Vielleicht will Rafik Schami andeuten, dass Geschichten zu erzählen auch eine Form des Heilens sein kann, und dass wir als Menschen, wie die Schwalben, eigentlich in das luftige Element uns erheben sollten, und dass wir dies tun, indem wir Geschichten lauschen, indem wir sie immer weiter erzählen. How we go on…
XI.
Es gäbe noch Vieles zu beleuchten. Die von der Regierung als unhygienisch empfundene Milch der Ziegen Hassans (Kapitel 6) erinnert mich an einen Essay von Issac Asimov, den ich als Jugendlicher einmal las, und in dem er sich über die neue hygienische, weil abgekochte Milch lustig machte, betitelt mit der Frage: »Wie haben wir nur überlebt?«, denn früher hat man nun einmal Rohmilch getrunken.
Später reflektiert ein Freund Salims, wie das neu eingeführte Radio die Gesprächskultur in den Cafés kaputt mache, indem es ständig dudle, den Leuten aber auch die Propaganda der Regierung eintrichtere. Schließlich wird auch die Dummheit der Untertanen gegeißelt, wirklich jeden Schwachsinn zu glauben, der ihnen erzählt werde.
Es finden sich auch immer wieder Reflexionen über den Sinn des Erzählens. So berichtet Faris, sein Freund, der persische Dichter Said habe ihm erzählt, was für ein guter Erzähler doch »dieser afghanische Messerschleifer« sei:
»Ein kleiner Teufel, doch wenn er anfängt Geschichten von seiner Heimat zu erzählen, wächst er. Ich habe nie etwas von Afghanistan gewusst, doch dieser Teufel entführt mich in seine Gassen, und ich rieche, schmecke und verstehe, was jeder in diesen Gassen fühlt. Auf einmal bin ich mit den Afghanen verbunden. Ist das nicht ein Wunder?« (S. 221)
Und das sei ja wohl eine gute Antwort, so Faris, auf die Frage, warum wir Geschichten erzählen. Jordan B. Peterson geht so weit zu behaupten, dass wir uns sowieso nur überhaupt einen Reim auf irgendetwas machen können, weil und indem wir uns Geschichten erzählen, insbesondere auch über uns selbst und unsere Stellung in der Welt. Das hätten die Postmodernen richtig gesehen. Nur ihre Schlussfolgerungen daraus seien falsch.
»Auf einmal bin ich mit den Afghanen verbunden.«
So können wir uns mit allen Völkern, und mit allen Zeiten, und auch mit unserem eigenen Volk und unserer eigenen Zeit verbinden. Und ist Verbindung nicht DAS, wonach wir streben, und was das Leben erst lebenswert macht?
»Ist das nicht ein Wunder?«