Aus dem Leben eines Mathelehrers
Jaru scheißt auf Mathe, gibt sich aber trotzdem Mühe und Stella will auf Toilette, aber eigentlich will sie gar nicht da sein...
Passend zu meinem beruflichen Wiedereinstieg ins Lehrerleben eine kleine fiktive Anekdote. Denn ich bin ja bekanntlich kein Mathelehrer und ich unterrichte am Gymnasium...
Jaru scheißt auf Mathe, sagt er. Er hat keinen Bock. Er will sein Buch auch nicht mit nach Hause nehmen.
Da mach ich eh nichts, sagt er.
Das ist vielleicht ein Fehler, sage ich lahm.
Ach, das brauch ich nicht. Ich geh eh nicht arbeiten.
Ach nein?, frage ich interessiert.
Ich bau Drogen an.
Achso. Ja, da brauchst du aber ja vielleicht auch Mathe, sonst überdüngst du noch deine Pflanzen.
Jaru ist nicht überzeugt. Ich frage mich, ob es stimmt, was über ihn gerüchtelt, dass er letztes Jahr in Spanien auf der Straße gelebt hat. Ich kann es mir gut vorstellen. Als ich ihn danach fragte, hat er es verneint.
Was labern Sie?
In Spanien war er aber.
Da war alles besser. Es war wärmer. Deutschland ist scheiße.
Jaru ist groß, hat dunkle Augen, schwarze Haare, leicht gelockt, trägt schwarze Pullis. Düster. Er wartet immer an der Tür auf mich, wie ein Hund, und beschwert sich dann, dass ich gekommen bin. Jaru will nicht mitmachen. Er scheißt auf Mathe. Aber dann stellt er ständig Fragen zu den Aufgaben. Dann kriegt er eine Sache mal hin und sagt: Das ist doch voll einfach.
Ja, Jaru, sage ich, das ist verdammt einfach, aber trotzdem kannst du das nicht.
Was labern Sie?, sagt Jaru.
Ja, mach mal die b), ich komm gleich wieder und guck’s mir an.
Stella will wissen, ob ich aus Brand komme.
Was meinst du?
Na, wohnen Sie in Brand?
Das ist eine recht persönliche Frage, sage ich.
Also kommen Sie aus Brand, stellt sie fest.
Nein, sage ich.
Ich habe sie vier Monate nicht mehr gesehen. Nichts von ihr gehört. Es gerüchtelte, sie sei im Jugendknast. Schlägerei. Sie sei auch schon mal von dieser Schule geflogen, weil sie eine Lehrerin verprügelt habe und danach in einen Schrank gesperrt und sei jetzt aber wieder da.
Seltsam.
Sie hat ein blaues Auge und keinen Plan, aber blond gefärbte Haare. Es freut sie, dass mir das auffällt.
Ich hab’ Sie aber letztens in Brand gesehen, beharrt sie.
Vielleicht solltest du aufhören, deine alten Socken zu rauchen, will ich sagen, verkneife es mir aber. Ich war in meinem ganzen Leben nur drei Mal in Brand, und das letzte Mal ist über ein Jahr her.
Ich war mal in Brand, sage ich, schön da, hab mir da eine Wohnung angesehen, aber das ist über ein Jahr her.
Dann waren sie das wohl nicht, gibt sich Stella zufrieden.
Herr Kniddel, ruft mich Jaru.
Was gibt’s, Jaru?, frage ich.
Ich versteh das nicht.
Was?
Alles.
So dumm kannst nicht einmal Du sein.
Was labern Sie?
Ich grinse ihn an.
Wo wohnen Sie denn?, ruft Stella durch den Raum.
Hahnbruch, sage ich, ich zieh’ aber gerade um.
Scheinbar befriedigt sie diese Antwort, denn sie widmet sich ihrem Handy.
Ich erkläre Jaru die Aufgabe. Er stellt Zwischenfragen in einem aggressiven Ton, den ich ihm als sein Vater nicht durchgehen ließe. Aber ich bin nicht sein Vater, sondern sein Mathelehrer. Wenn ich sein Vater wäre, könnte ich ihm sagen, dass ich die Schul-Mathe auch nie wieder gebraucht habe, obwohl ich sogar Mathe studiert habe – wenn auch nur ein Semester. Ich könnte ihm sagen, dass Mathe nicht wichtig ist, wohl aber, ein Ziel zu verfolgen und einen Plan zu haben, einen halbwegs realistischen, und sich auf etwas zu freuen.
Zu Hause ist scheiße, sagt Jaru, aber in der Schule auch. Eigentlich ist alles scheiße.
Trotzdem lacht Jaru manchmal. Wenn ich sein Vater wäre, könnte ich ihm sagen, dass ich ihn lieb habe, auch wenn er kein Mathe kann. Aber ich bin nicht sein Vater.
Haben Sie eigentlich einen Spitznamen?, will Stella wissen.
Jap, sage ich.
Und welchen?
Epi.
Wat?
Epi.
Ipi?
Epi. E – P – I.
Das belustigt Cosima.
Du darfst mich Epi nennen, sage ich zu Stella, und du auch, Cosimi.
Cosima lacht. Ich habe sie mal gefragt, aus einer Laune heraus, ob ich sie Cosimi nennen darf und sie war damit einverstanden. Eigentlich ist es bescheuert, sich solche Späße mit Schülern zu erlauben, aber ich kann es nicht lassen. Ich hatte mal die Idee, allen Schülern zu sagen, dass sie mich Epi nennen sollen. Und nach und nach würden die Schüler anderen Lehrern von Epi erzählen, und diese wären verwirrt und würden sich fragen, wer ist dieser Epi? Und nach und nach raffen, dass ich das bin und sich fragen, warum die Schüler mich Epi nennen. Und ich würde es ihnen natürlich nicht verraten.
Natürlich nennt mich niemand Epi. Ich habe andere Spitz- und Kosenamen, aber die binde ich meinen Schülern doch nicht auf die Nase. “Epi” ist ein Witz, den aber niemand verstehen würde. Ich habe mal mit einem Freund ein Hörspiel gehört, da waren wir noch Kinder, und da war ein Bösewicht, ein Schurke, der stellte sich vor und sagte: “Mein Name ist Mister Epilenska, aber Freunde dürfen mich Epi nennen.” Und mein Freund fragte, ob er mich auch Epi nennen dürfe, weil ich doch Epileptiker sei. Haha. Interessanter- und glücklicherweise fragen die Schüler aber nicht nach, warum mein Spitzname Epi sei.
Wieso hat man überhaupt einen Spitznamen?, will Jaru wissen.
Naja, wenn du irgendwas Lustiges oder Seltsames gemacht hast, oder so, dann kann das dazu führen. Wenn du zum Beispiel voll gut in Mathe wärst, würden deine Freunde dich vielleicht Taschenrechner nennen. Und jetzt mach deine Aufgaben, sonst muss ich mir für dich einen Spitznamen ausdenken, der sich in abwertender Weise auf deine kognitiven Fähigkeiten bezieht.
Sonst schlafe ich immer um diese Zeit, wechselt Stella das Thema.
Wieso? Feierst du die Nacht durch?, frage ich.
Ne, ich kiffe morgens.
Achso, verstehe.
Sie ist offensichtlich enttäuscht über meine Reaktion.
Haben Sie auch schon mal gekifft?
Klar, sage ich, aber das ist nichts für mich. Meine Psyche ist nicht so stabil.
Ich hab nie so Panikattacken gehabt, sagt Stella.
Tja, sage ich, ich schon. War nicht so geil.
Stella schreibt eine Nachricht auf dem Handy.
Wieso bist du überhaupt hier?, frage ich sie.
Ich muss, sagt sie.
Das ist ja was Neues, sage ich. Ich habe dich ewig nicht mehr gesehen.
Ja, sagt sie und klingt irgendwie traurig. Ich hab’ kein’ Bock. Aber ich brauch einen Abschluss.
Verstehe, sage ich. Um Köchin zu werden?
Ja... Oder so was.
Jaru will seine Sachen einpacken.
Du hast noch elf Minuten, sage ich. So heißt übrigens auch ein Buch, ergänze ich.
Jaru schaut mich desinteressiert an, aber er schaut mich an, also rede ich mich um Kopf und Kragen.
Es heißt Elf Minuten, weil der Autor das Leben einer Prostituierten beschreibt und sie stellt fest, dass der Beischlaf mit den Freiern typischerweise so lang dauert.
Jaru lacht, aber er ist auch irritiert.
Warum erzählen Sie mir das? Und laut, durch den Raum zu Stella: Der sagt, eine Prostituierte hat ein Buch geschrieben und...
Ich unterbreche ihn: Das ist nicht richtig. Und jetzt halt mal die Fresse, ich erzähl das Stella selbst.
Cüs, sagt Jaru.
Du machst diese Aufgabe noch zu Ende.
Ich gehe zu Stella, erkläre ihr die Sache mit dem Buch.
Es geht um eine Protituierte, aber es ist nicht von einer geschrieben.
Achso.
Cosimi und Ana lauschen ebenfalls interessiert. Stella will auf Toilette.
Wenn du jetzt auf Toilette gehst, könntest du auch gleich ganz gehen, sage ich.
Ja... darf ich?
Nein, natürlich nicht. Du hast noch zehn Minuten.
Aber ich muss auf Toilette.
Eigentlich ist mir das egal. Hier lernt sie eh nichts und stört alle anderen. Aber ich versuche es pädagogisch.
Okay, sage ich, wir machen es folgendermaßen: Du machst jetzt diese Aufgabe, und dann schau ich mir das an und wenn es richtig ist, kannst du gehen.
Es wird nicht richtig sein, da bin ich sicher. Aber vielleicht wird sie so noch ein wenig drüber nachdenken. Oder zumindest die Fresse halten.
Ich drehe eine Runde. Jaru arbeitet. Die anderen auch.
Zurück bei Stella hat sie die Aufgabe hinbekommen.
Darf ich jetzt auf Toilette?
Du darfst dich gleich ganz verpissen.
Wirklich?
Klar, haben wir doch so abgemacht.
Sie packt schnell ein und geht.
Ich auch?, fragt Jaru.
Ja, auf jeden Fall, zieh ab.
Darf ich auch gehen?, fragt Cosima.
Nein.
Warum nicht?
Weil du meine Lieblingsschülerin bist, Cosimi.
Das ist voll unfair, beschwert sich Ana.
Ja, das stimmt, sage ich. Aber weißt du, das ist eine gute Vorbereitung auf’s Leben.
Ana antwortet nicht, aber sie starrt mich aus großen braunen Augen an. Sie ist offiziell lernbehindert. Aber eigentlich ist das Quatsch, denn das hier ist Hauptschule, hier sind alle lernbehindert. Mit Ausnahme, vielleicht, der Lehrer. Wenn dich am Gymnasium ein Schüler fragte, wie es denn am Wochenende im Puff gewesen sei, wärst du entrüstet und es gäbe Ärger. Elterngespräche, vielleicht sogar vor der Schulleitung, all das. Zu Recht, vielleicht. An der Hauptschule erwiderst du nur: Frag doch deinen Vadder, dem bin ich da begegnet.
Ich mag den Job, vielleicht.





Mir kommt es so vor, als hättest du das gar nicht selbst geschrieben, sondern ich.
das ist ja hoch interessant, und du bist gut drauf, LG Johannes